Und zwar auf hochinteressante Art und Weise. Rudolf Koella, u.a. von 1973 bis 1990 Direktor des Kunstmuseums Winterthur und schon damals durch unkonventionelle und spannende Ansatzpunkte in seiner Ausstellungspolitik bekannt, nahm sich als Kurator des ungewöhnlichen Themas an. Er erfüllte damit einen seit langem gehegten Wunsch des Berner Museumsdirektor Matthias Frehner, der von zentralen Lautrec-Werken in der Berner Sammlung ausging. Die Ausstellung schliesst damit - als einzige in der Schweiz - an die letztjährigen weltweiten Jubiläumsschauen zum 150. Geburtstag des Künstlers an.
Henri de Toulouse-Lautrec, 1864 in ein feudales gräfliches Elternhaus im französischen Städtchen Albi hineingeboren und später zur Hauptsache im Pariser Künstlermilieu, den Cabarets und Bordellen am Montmartre lebend, zählt wohl zu den bekanntesten Künstlern der beginnenden Moderne. Wer seine heute zu Hunderttausenden kopierten Plakate und Grafiken noch nicht kannte, dem wurde Lautrec spätestens seit John Hustons Film „Moulin Rouge“ von 1952 ein Begriff. Ein tragischer Begriff, litt Lautrec doch an der Erbkrankheit Pyknodyostose, welche Wachstumsverzögerungen und Schwächungen des Knochenmaterials zur Folge hat. Da seine Beine nach zwei Oberschenkelbrüchen nicht mehr weiter wuchsen, blieb Lautrecs Körpergrösse mit 1.52 m stehen. Dieser körperliche Mangel trieb ihn denn auch langsam aber sicher in den Alkoholismus, dessen Folgen er schliesslich 1901 erlag. Aber welch unglaubliche Fülle von hinreissenden Werken hat er in diesem kurzen Leben der Welt, sprich uns, geschenkt!
Welt der Pariser Cabarets und Bordelle
Mit seinem Einzug in sein erstes Montmartre-Atelier 1886 tauchte Lautrec immer mehr und immer intimer in die Welt der Pariser Cabarets und Bordelle ein. Er wurde offenbar – wohl auch seines verkrüppelten Körpers wegen - von den Frauen, Tänzern und Schauspielerinnen nicht nur geduldet, sondern wie eine Art geschlechtsloses Maskottchen geliebt und gehätschelt. Nur so konnte es zu Bildern von grösster Intimität kommen, welche aber immer von einer grossen Zuneigung und nie von Voyeurismus getragen sind. Lautrec war ja selber ein begeisterter Darsteller seiner selbst und liebte es, sich zusammen mit seinen Freunden in immer neuen und skurrilen Maskeraden zu verkleiden, um sich dann innerhalb von Performance-artigen Szenen von seinen Freunden fotografieren zu lassen. Die Ausstellung zeigt eine Fülle von zeitgenössischen Fotos dieser Seite des Künstlers, welche bisher kaum beachtet worden und doch so aufschlussreich für seine Persönlichkeit ist.
Fotografische Perspektive
Beim Betrachten von Lautrecs Bildern ab der mittleren Periode fällt einem aufmerksamen Beobachter die ungewöhnliche Perspektive auf. Die Böden steigen steil nach oben und scheinen gar nicht mehr zu enden, die Figuren sind oft angeschnitten und beinahe verzerrt, aber auf eine Art und Weise, die uns Heutigen sehr geläufig ist. Kennen wir sie doch alle von der Fotografie her und haben diese Sehweise geradezu verinnerlicht. Wobei wir beim Thema der Ausstellung wären: beim fotografischen Blick, dem Blick durch das eine Auge der Kamera, dem das künstlerische Augenpaar interpretierend folgt.
Die ersten Fotoapparate nach der Herstellung des ersten dauerhaften Fotos von Nicephore Nièpce (1822) und Louis Jacques Mandé Daguerre (1837) waren riesige, kaum transportable Ungetüme. 1888 jedoch entwickelte George Eastman für Kodak die erste kleine Boxkamera, ein unkompliziertes, transportables Handwerkzeug, dessen sich rasch viele Künstler bedienten. Obwohl Toulouse-Lautrec nie eine eigene Kamera besessen hatte, machte er sich die Möglichkeiten der neuen Technik mit Begeisterung zunutze. Er selbst rühmte gegenüber Freunden die fotografischen Bilder sogar mit der Behauptung, „sie würden auch die bedeutendsten Gemälde an Gehalt und Wahrhaftigkeit übertreffen.“
Bestärkt und mittels derer Fotoaufnahmen unterstützt wurde er dabei vor allem von drei befreundeten Foto-Aficionados: dem Berufsfotografen Paul Sescau, dem Malerkollegen François Gauzi sowie dem jungen Lebemann Maurice Guilbert. Auch fotografische Studien von Bewegungsabläufen, wie sie wegweisend Eadweard Muybridge entwickelte, verhalfen dem Maler zu ungewöhnlich realistischer Darstellung schneller Bewegungen. Ein ganzer Saal ist denn auch Bildern aus dem Sportsbereich gewidmet: Reiten, Auto- und Radrennen, Segeln und Schwimmen. Dort findet sich auch Muybridge’s berühmte Fotofolge „The Horse in Motion“.
Porträts nach Fotovorlagen
Die Fotografie hat Toulouse-Lautrec aber nicht nur in der perspektivischen Darstellung beeinflusst. Viele seiner Porträts sind nachweislich nach Fotos gemalt, Fotos, welche er meist bewusst bei „seinen“ Fotografen bestellt hatte, um die Porträts im Atelier in Ruhe im Atelier vollenden zu können. Wie Rudolf Koella an der Medienkonferenz ausführte, verlief die Suche nach den zugehörigen Fotografien teilweise äusserst mühsam und öfters leider auch erfolglos. Koella vermutet, dass sowohl die Besitzer der Bilder als auch die Erben, ja, sogar das Lautrec-Museum in Albi die Fotovorlagen nach Lautrecs Tod bewusst verschwinden liessen, um den Wert der Originale nicht herabzusetzen. Eine Vermutung, die nicht abwegig erscheint. Aber zum Glück wurde das Ausstellungsteam um Koella noch genügend oft fündig, um den Zusammenhang zwischen fotografischem und künstlerischem Abbild deutlich erkennen zu lassen. Die Besucherinnen und Besucher sind in dieser faszinierenden Ausstellung also auch zu einer Art detektivischer Spurensuche aufgefordert, welche durchaus Vergnügen bereitet.
Thematisch gegliederte Ausstellung
Ein durchdachter und unkomplizierter Saalablauf führt die Besucher durch das umfangreiche, 270 Exponate zählende Ausstellungsgut auf zwei Stockwerken des Berner Kunstmuseums. Die Säle sind thematisch gegliedert, auch farblich auf den Inhalt abgestimmt und mit informativen Kurztexten (d/f) versehen. Der ausführliche, reich bebilderte Katalog ist dem Ausstellungsaufbau folgend geordnet, sodass einem während des Rundganges das mühsame Blättern bei der Suche nach bestimmten Bild-Informationen endlich mal erspart bleibt.
Da an dieser Stelle unmöglich auf die Fülle der gezeigten Exponate (darunter auch einer der frühesten Filme überhaupt) eingegangen werden kann, hier zur Veranschaulichung die Titel der Saal- und Katalogabfolge:
Lautrecs Familie und ihre feudalen Wohnsitze / Lautrecs Ausbildung in Paris / Lautrec als Verkleidungskünstler /Lautrecs Atelier und seine Lieblingsmodelle/
Vorhang auf im Theater / Der illustre Kreis um die schöne Misia /
Das Sporting Life des Fin de Siècle / Das Nachtleben in den Amüsierlokalen des Montmartre / Manege frei für die Artisten / Das intime Leben im Bordell.
Die Ausstellung läuft bis 13. Dezember 2015 und wird von einem breiten Rahmenprogramm begleitet.