Der 6. Januar ist der erste Gerichtstermin für den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein (67) am Supreme Court in Manhattan, New York. Eine Frau klagt auf Vergewaltigung und eine Produktionsassistentin seiner Firma klagt, der Chef habe sie gezwungen, ihn oral zu befriedigen. 150 Journalisten und Journalistinnen und viele seiner Opfer werden im Saal sitzen
87 Frauen werfen Harvey Weinstein sexuellen Missbrauch oder Übergriffe vor. Nur zwei Frauen zogen ihn vor Gericht. Manche wollten nicht klagen oder die Taten sind verjährt. Während mehr als 30 Jahren pflegte der erfolgreiche Filmproduzent junge Frauen, Angestellte und angehende Filmstars jeweils im Morgenrock im Hotelzimmer oder im privaten Appartement zu empfangen. Angeblich ging es dabei um eine geschäftliche Angelegenheit oder um ein Gespräch für eine Rolle. Weinstein verlangte eine Nackt-Massage und mehr.
Hochgeschlafen?
Wie konnte Harvey Weinstein mehr als dreissig Jahre lang Frauen missbrauchen? Man unterstellte den Frauen, sie hätten sich hochgeschlafen, Sex gegen Rolle, Sex als Preis für einen interessanten Job in der glamourösen Produktionsfirma von Weinstein.
Von Missbrauch könne keine Rede sein, sagt Weinstein. Denn die Frauen hätten sich später wieder mit ihm getroffen. Seine Anwälte zücken glamouröse Fotos von Weinstein und seinen Opfern. In einem Interview mit der „New York Post“ lobte Weinstein sich selbst als „Frauenförderer“. Weinstein hatte einen hervorragenden Instinkt für gute Stories und seine Produktionsfirma gewann mehre Oscars.
„Psychopathisches Raubtier“
Die Recherchen der Journalisten und Journalistinnen zeigen ein anderes Bild des Produzenten: ein „psychopathisches Raubtier“, das seine Macht nutzte, um junge Frauen zu missbrauchen. Jodi Kantor und Megan Twohey haben drei Jahre lang recherchiert und ihre Ergebnisse 2017 in der New York Times publiziert. Ronan Farrow veröffentlichte die Vorwürfe im New Yorker.
Die drei Journalisten wurden mit Pulitzerpreisen ausgezeichnet. Sie haben ihre Recherchen in Buchform dokumentiert [1]. Basierend auf den Recherchen dokumentiert ein Film den Missbrauch: „The Untouchable“ [2].
Dreijährige Recherche
Der Medienmogul galt als unangreifbar. Niemand traute sich den Hollywood-Potentaten in Frage zu stellen. Weinstein schüchterte die Frauen ein und brachte sie zum Schweigen. Zwölf Frauen zahlte seine Firma insgesamt Millionen Dollar als Abfindung für den sogenannt „einvernehmlichen Sex“. Weinsteins Anwälte sagten den Frauen, dass sie vor Gericht keine Chance hätten. Sie mussten Vergleiche unterschreiben und sich verpflichten zu schweigen. Selbst mit Therapeuten durften die Frauen nicht über das Vorgefallene sprechen.
Das machte es schwierig, die Frauen zum Reden zu bringen. Jodi Kantor und Megan Twohey recherchierten drei Jahr lang. Als sie das Vertrauen der Frauen gewonnen hatten, drehten sie den Spiess um: die zwölf Schweige-Vereinbarungen waren nun ein Beweis dafür, dass Weinstein unrechtmässig gehandelt hatte. Sonst hätte er kein Schweigegeld bezahlt.
Unterstützt von der New York Times und dem New Yorker
Weinstein versuchte alles, um die Recherchen zu boykottieren. Er hetzte Privatdetektive auf die Journalistinnen und die aussagewilligen Frauen. Ronan Farrow berichtet, dass Weinsteins Agenten versuchten, eines der Opfer mit einer falschen Freundin zu verkuppeln. Die Schein-Vertraute riet ihr davon ab, auszusagen.
Der Durchbruch kam erst, als mehrere Frauen bereit waren, den Missbrauch öffentlich zu machen. „She said“ dokumentiert eine Recherche über ein extrem heikles Thema. Eine Pflichtlektüre für Recherchierjournalisten. Auch wenn man nur davon träumen kann, wie viel Zeit sie hatten und wie stark sie von der New York Times und vom New Yorker (Farrow) unterstützt wurden. Vertrauen aufbauen, dran bleiben, sich nicht abwimmeln lassen und die Fakten sorgfältig überprüfen und sich gegen massive Widerstände durchzusetzen, lernt man.
Schweigen, oder den Job verlieren
Das Elend der Missbrauchten im Glanz der Oscar-Welt in Hollywood dokumentiert der von der BBC mitproduzierter Dokumentar-Film: „The Untouchable: The Rise and Fall of Harvey Weinstein“ von Ursula Macfarlane. Er beruht auf den Recherchen der Journalistinnen. Angestellte und Schauspielerinnen reden über ihre traumatisierenden Erlebnisse vor der Kamera. Die Kamera gibt den Frauen Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Sie lässt sie reden und schweigen.
Geschildert wird auch die vergiftete Atmosphäre in der Produktions-Firma von Weinstein. Wutausbrüche gehörten zu Weinsteins Führungsstil. Ehemalige Angestellte sprechen darüber, dass sie von den Missbräuchen wussten. Sie hatten die Wahl, zu schweigen oder ihren Job zu verlieren. Ihr Schweigen belastet sie zum Teil noch heute. Absolut sehenswert wird dokumentiert, wie eine Firma zum Mitwisser und Mit-Dulder eines Machtmissbrauches wird. Weinsteins Firma gibt es nicht mehr. Sie hat den Skandal nicht überlebt. Weinstein hat 30 weiteren Opfern einen Vergleich angeboten. Bezahlen sollen die Versicherungen von Weinsteins Firma. Ohne Schuldbekenntnis des Verantwortlichen.
Kulturwandel
Für Weinstein gilt die Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung gilt nicht für die NZZ. Die NZZ bespricht den Film und nennt die missbrauchten Frauen schon im Titel „Heuchlerinnen“. Sie wirft ihnen vor, sie hätten sich „mit der Macht ins Bett“ gelegt. Verfasst hat die Filmkritik eine Frau, NZZ-Mitarbeiterin Sarah Pines. Sie glaubt den Frauen nicht (NZZ, 17.10.19). Die Kultur-Redaktion der Zeitung hat von den Weinstein-Recherchen offenbar nichts mitbekommen. Das Nicht-Wissen-Wollen dokumentiert das doppelte Trauma der Opfer. Sie wurden missbraucht und man glaubte Ihnen nicht, und sie durften nicht darüber sprechen.
Die bahnbrechenden Recherchen haben nicht nur Weinstein gestoppt. Sie haben auch einen Kulturwandel eingeleitet. Sie haben die #MeeToo-Bewegung gegen sexuelle Gewalt an Frauen international lanciert. Und die Position der Missbrauchsopfer gestärkt. Irgendwann wird das auch die Kulturredaktion der NZZ mitbekommen.
[1] Jodi Kantor & Megan Twohey: She said. Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement, 2019. Ronan Farrow: Catch and Kill: Lies and Spies and a Conspiracy to Protect Predators. Deutsch: Durchbruch. Der Weinstein-Skandal, Trump und die Folgen, 2019.
[2] Der Film: Ursula Macfarlane : The Untouchable: The Rise and Fall of Harvey Weinstein, 2019
Rolf Wespe war Redaktor und Rechercheur beim „Tages-Anzeiger“ und bei „10vor10“. Er wurde für die Recherchen im Fall Kopp mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. Er war verantwortlich für die Journalistenausbildung am „maz-der Schweizer Journalistenschule“.