Nach fünf Jahren Krieg macht die Ukraine in den westlichen Medien keine grossen Schlagzeilen mehr. In der gleichen Ukraine finden jedoch überraschende Meinungsänderungen statt, die in Europa und den USA bekannt werden sollten.
Friedensbereitschaft
Zum Beispiel: Eine Mehrheit der Ukrainer findet es richtig, mit den von Russland unterstützten Regionen Donezk und Luhansk Friedensverhandlungen aufzunehmen. Diese Umfrage wurde von der niederländischen Regierung finanziert und von ukrainischen Meinungsforschern im Juni 2019 durchgeführt (Razumkov Center, Kiew).
Darüber berichtet hat John Helmer, ein langjähriger Moskau- Korrespondent (Johnhelmer.net). Laut Umfrage gibt es nur noch in der Westukraine mit dem Zentrum Lemberg eine Mehrheit, die einen Krieg bis zur Kapitulation der Regionen Donezk und Luhansk fordert. Landesweit wollen 17 Prozent der Befragten den Krieg fortsetzen, der fast täglich Tote und Verletzte fordert. Frieden um „jeden Preis“ hingegen befürworten 20% der Befragten. Und 49% von ihnen sind gewillt, einen „Frieden unter gewissen Bedingungen“ zu schliessen. Um welche Bedingungen es sich handeln könnte, ist nicht bekannt.
Anstatt „Entweder oder“ – „Sowohl aus auch“
Mit Sicherheit wären hier Russland, Europa (EU) und die USA gefordert. So verlangt Brüssel von der Ukraine weiterhin eine „Entweder-oder-Politik“: Kiew müsse sich entscheiden, ob sie sich der EU nähern oder der von Russland beherrschten Zollunion mit Weissrussland und Kasachstan beitreten wolle. Die beiden Optionen schlössen sich aus. Die von der EU geforderte Position hat die Ukraine weitgehend auch befolgt, was mit ein Grund für den Ausbruch des Konfliktes im Donbass wurde. Der Mitte Mai gewählte neue Präsident Wolodimir Selenski machte seine erste Auslandreise nach Brüssel zu den EU-Spitzen und soll neue Friedensmöglichkeiten in der Ostukraine testen (NZZ 15. und 18. Juli 2019).
Die einzig realistische Haltung und zum Frieden in der Ukraine führende Position wäre nicht eine „Entweder-oder“ sondern eine „Sowohl-als-auch-Politik“. Konkret würde das heissen: Erfolgreiche Friedensverhandlungen können in der Ukraine nur stattfinden, wenn sich Russland, die EU und die USA einig werden, der Ukraine einen Status als Brückenbauer zwischen Ost und West zuzubilligen. Die mit Russland wirtschaftlich und kulturell eng verbundene Ostukraine muss weiterhin nach Osten blicken können. Dasselbe gilt auch für die Westukraine, die wirtschaftlich, kulturell und historisch tiefe Wurzeln in Europa hat.
Der in Moskau stationierte Journalist John Helmer berichtet auch über die Ukraine. Helmer stellt fest, dass in Kanada, wo ein Grossteil der emigrierten Ukrainer lebt, aber auch in den grossen britischen, amerikanischen Medien und Denkfabriken die neue Haltung der ukrainischen Bevölkerung noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Der „Kalte Krieg“ wird Geschichte
Übersehen wird auch die Tatsache, dass in der Ukraine selber inzwischen eine junge Generation herangewachsen ist, die sich nicht mehr in ein Schema Pro-Russisch versus Pro-Europa einordnen lässt und für die der „Kalte Krieg“ Geschichte ist .Das hat auch die jüngste Umfrage gezeigt. Ob die neuen Friedenschancen in der Ukraine auch politische Folgen haben werden, hängt vor allem von den grossen Akteuren Russland, Europa und USA ab.
„Schlachtfeld Ukraine“ ist der Titel der neuesten Nummer der Zeitschrift „Osteuropa“ (Heft 3-4 /2019) . Besonders erhellend ist ein Gespräch mit mehreren Ukraine-Kennern, die oft unterschiedliche Positionen vertreten. So glaubt der in Lemberg tätige Journalist und Übersetzer Juri Durkot, der Spielraum des neuen Präsidenten, einen Waffenstillstand in der Ostukraine zu erreichen, sei beschränkt, weil Moskau den Schlüssel in der Hand habe. Der in London tätige Historiker Andrew Wilson ist überzeugt, Selenskis Vorstellungen vom Krieg seien „unglaublich naiv“. Der neue Präsident habe keinen klaren Plan und laufe Gefahr, ein Desaster zu erleben. Die in Berlin forschende Gwendolyn Sasse erwähnt eine Umfrage in den nicht von Kiew kontrollierten Gebieten der Ostukraine. Sie habe gezeigt, dass eine Mehrheit der dortigen Bevölkerung nach wie vor zur Ukraine gehören wolle.
Blinde Flecken
Ein weiterer Beitrag befasst sich mit dem Einfluss des Westens in der Ukraine. Die an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen tätige Nina Krienke stellt fest, dass es in der Geschichte der Ukraine seit 2014 einige „blinde Flecken“ gibt, über die nicht wertfrei gesprochen werden kann. Krienke stellt folgenden Mechanismus fest: „Wer die engen Beziehungen ukrainischer Politiker zu westlichen Ländern thematisiert, tut dies meist in der Absicht, den Westen pauschal zu diffamieren und Russland zu verteidigen.“ Wer anderseits den Versuch unternehme, diese Beziehungen ohne entsprechendes ideologisches Programm zu beleuchten, wird vom entgegengesetzten Lager, das einen ebenso stark vereinfachenden Diskussionsstil pflegt, in die russlandfreundliche Ecke gestellt und damit unmöglich gemacht.“
Dieser Umstand führe dazu, dass die tatsächlich offenen Fragen in Bezug auf die Ukraine entweder gar nicht oder nur von Verschwörungstheoretikern gestellt und beantwortet werden. Zum Beispiel: „Wie kam es zur Beteiligung Rechtsradikaler an der Uebergangsregierung?“ Oder: „Wer hat im Februar 2014 das Feuer auf dem Maidan eröffnet?“
Für den Ausbruch der Massenproteste 2014, so lautet das Fazit von Nina Krienkes Beitrag, seien innenpolitische Faktoren ausschlaggebend gewesen, äussere Einflüsse hätten allenfalls eine unterstützende Rolle gespielt. Ernüchtert stellt Krienke fest, in deutschen Medien werde kaum noch über die Ukraine berichtet – trotz des Krieges in der Ostukraine und trotz der politischen Konflikte zwischen der Ukraine und Russland.
- Mutmassungen über Wolodimir Selenski. Journal21, 14.05 2019
- Vorwärts oder Marschhalt nach Westen? Journal21, 20.04 2019