Petro T. ist ein alter Bekannter in der ukrainischen Hauptstadt, er spricht ausgezeichnet Deutsch und war früher als Journalist tätig. Heute verdient er sein Geld in der Verwaltung einer Hilfsorganisation, die auch von Deutschland unterstützt wird. Er führt uns in ein gut besuchtes vietnamesisches Restaurant in der Altstadt, in der wir flink und preiswert bedient werden.
Glücklich über Poroschenkos Niederlage
Petro ist hochzufrieden über den Ausgang der ukrainischen Präsidentschaftswahl. Am meisten freut ihn, dass der bisherige Präsident Poroschenko bei der Stichwahl am 21. April eine dröhnende Niederlage erlitt und sein Gegner, der 41-jährige Fernsehstar Wolodimir Selenski 73 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Poroschenko hält er für einen korrupten Wendehals, der alle vor seiner Wahl, die wenige Monate nach der Maidan-Revolte von 2014 stattfand, abgegebenen Versprechen nicht erfüllt habe. Stattdessen habe sich Poroschenkos schon zuvor zusammengerafftes Oligarchen-Vermögen während seiner Präsidentschaft nochmals mehr als verdoppelt.
Vom neuen Präsidenten Selenski, der voraussichtlich noch im Mai sein Amt antritt, erwartet Petro eine deutliche Verbesserung der Regierungsarbeit, insbesondere was die Bekämpfung der Korruption und Vetternwirtschaft betrifft. Mit Wundern oder zumindest einer raschen Verbesserung der ukrainischen Lebensverhältnisse rechnet der vom Leben geprüfte Ex-Journalist allerdings auch wieder nicht. Für substantielle Fortschritte müsse man mit längeren Fristen rechnen, meint er nüchtern. Dafür aber fehle ihm die Geduld und die Lebenszeit – und deshalb werde er in einigen Monaten in das EU-Land Bulgarien übersiedeln.
Petros Bewerbung um die bulgarische Staatsbürgerschaft ist bereits grundsätzlich bewilligt, was dadurch erleichtert wurde, dass seine Mutter bulgarischer Herkunft war und er mit dieser Sprache von Kindheit an vertraut ist. Mit einem EU-Pass und seinen guten Sprachkenntnissen rechnet der Ex-Journalist für die kommenden Jahre mit ungleich besseren Verdienstmöglichkeiten, als er sie in der heimatlichen Ukraine bisher erreichen konnte.
Welche Rolle spielt Kolomoiski?
Der Berufsfotograf Viktor M., der sich auch im Ausland näher auskennt und den wir am nächsten Tag in einem georgischen Restaurant treffen, beurteilt das Ergebnis der ukrainischen Präsidentschaftswahl mit mehr Skepsis. Er glaubt nicht so recht an einen tiefgreifenden Wandel der politischen Verhältnisse in der Ukraine. Im Kern werde es weiterhin um Machtkämpfe zwischen verschiedenen Oligarchen und ihren Verbündeten gehen, glaubt er.
Mit dem Wahlsieg des erfolgreichen Fernsehunterhalters, aber politisch völlig unerfahrenen Selenski, rücke der hemdsärmelige Grossunternehmer Ihor Kolomeiski, der sich vor einigen Jahren wegen zweifelhafter Geschäfte in die Schweiz und dann nach Israel abgesetzt hat, wieder näher an die Schalthebel der politischen Macht. Aber Poroschenko und andere Oligarchen würden deshalb das Feld nicht so ohne weiteres räumen.
Selenskis Beziehungen zu Kolomeiski sind zwar bisher ziemlich undurchsichtig, doch sind sie offenkundig durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen verbunden. Die Unterhaltungsserie «Diener des Volkes», mit der der Entertainer Selenski in der Ukraine erst zu einer im ganzen Land populären Figur geworden ist, wird vom TV-Sender 1+1 ausgestrahlt, der wiederum zu Kolomeiskis Firmenimperium gehört.
Sehr aufschlussreich dürfte die weitere Entwicklung im Streit um die ukrainische Grossbank PrviatBank werden, die zuvor Kolomeiski kontrolliert hatte. Die Bank wurde vor drei Jahren mit Unterstützung des IMF verstaatlicht, um deren Kollaps zu verhindern. Nun fordert Kolomeiski vom Staat dafür eine Entschädigung in Milliardenhöhe.
Andrej Kurkow bleibt skeptisch
Der auch im Westen bekannte Schriftsteller Andrej Kurkow, mit dem wir in Kiew zu einem Kaffee zusammensitzen, ist mit der allgemein negativen Einschätzung des bisherigen Präsidenten Poroschenko keineswegs einverstanden. Poroschenko habe viel mehr geleistet, als seine Gegner nun wahrhaben wollten, meint er. Er habe die Visafreiheit mit den EU- und Schengen-Ländern für die ukrainischen Bürger erkämpft, ebenso die Loslösung der ukrainischen orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat massgeblich gefördert, die Dezentralisierung der Verwaltung und vor allem die Verbesserung des Gesundheitswesens spürbar vorangetrieben.
Dass die ukrainische Währung, die Hrywna, während der Amtszeit Poroschenkos gegenüber dem Dollar und dem Euro massiv an Wert eingebüsst hat, könne man nicht dem abtretenden Präsidenten vorwerfen, argumentiert Kurkow. Das sei vielmehr eine Folge der nach wie vor engen Verknüpfung der ukrainischen Wirtschaft mit dem russischen Rubel, der ja in dieser Zeit ebenfalls wesentlich schwächer geworden sei. Von Selenskis politischer Unabhängigkeit und seinen Fähigkeiten, eigene politische Vorstellungen für die Ukraine nicht nur zu formulieren, sondern auch durchzusetzen, hält der weltgewandte Schriftsteller, der mehrere Sprachen spricht und sich häufig in England aufhält, vorläufig nicht viel.
Seiner Meinung nach wird es auch dem neuen Präsidenten nicht gelingen, eine akzeptable Lösung des kriegerischen Konflikts mit den separatistischen Kräften im Donbass zu finden, solange Putin in Moskau an der Macht bleibt. Putins Ziel sei es nach wie vor, die Ukraine zu destabilisieren und dazu diene ihm die militärische Einmischung in der Ostukraine als wichtiger Hebel.
Von Kurkow erscheint übrigens im Sommer im Diogenes Verlag ein neuer Roman mit dem Titel «Graue Bienen». Er handelt von einem Bienenzüchter im umkämpften Gebiet des Donbass, das der Autor in jüngster Zeit besucht hat.
Nostalgie nach Russland
Jefim G., ein freischaffender Spezialist für russische Literatur in Kiew, freut sich zwar grundsätzlich über die Wahl Selenskis zum neuen Präsidenten. Doch seine Zuversicht ist verhalten – ihn beunruhigt weiterhin die seit der Maidan-Revolte auch im kulturellen Bereich verschärfte Konfrontation zwischen den in vielerlei Hinsicht so eng verwandten Nachbarländern. Sein Herz schlägt nun einmal für die russische Literatur und er leidet darunter, dass die russische Sprache und die in dieser Sprache geschriebenen Werke heute nicht mehr fraglos mit zum ukrainischen Selbstverständnis zählen.
Dabei räumt Jefim G. durchaus ein, dass die ukrainische Sprache während der russischen Dominanz im Zarenreich und während des Sowjetimperiums während langer Zeit diskriminiert und im höheren Bildungsbereich überhaupt verbannt war. Dennoch wäre es seiner Meinung nach das Beste gewesen, zwischen der Ukraine und Russland wäre es nie zu einer Trennung gekommen und die ehemalige Sowjetunion hätte sich zu einem wirklich demokratischen Land mit funktionierenden föderalistischen Strukturen und – wie in der Schweiz – mehreren gleichberechtigten Sprachen entwickelt. Dass eine solche Vorstellung mehr einem schönen Traum gleicht als einer realen Möglichkeit, will Jefim G. zwar nicht bestreiten – aber vom Träumen kann er sich doch nicht ganz verabschieden.
Weder Selenski noch Poroschenko
Jewgeni Sacharow leitet seit vielen Jahren eine angesehene Menschenrechtsorganisation in Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine im Osten des Landes. Er hält sich öfters in Kiew auf und wir treffen ihn hier zu einem Gedankenaustausch. Bei der Präsidentschaftswahl hat er in der Stichrunde weder für Selenski noch für Poroschenko gestimmt, sondern sich der Stimme enthalten. Mit andern Worten: Er ist von keinem der beiden Politiker überzeugt, dass sie dem Land die allseits erhofften wirtschaftlichen und demokratischen Fortschritte bescheren könnten. Auch er rechnet nicht damit, dass Putin zu einer wirklichen Konfliktlösung in den Donbass-Gebieten Hand bieten werde.
Aber ihn betrübt ebenso, dass in der Ukraine zu wenig Bereitschaft bestehe, vertieft über die Ursachen dieses Konflikts und über mögliche eigene Fehler gegenüber der in den Kriegsgebieten verbliebenen Bevölkerung zu debattieren. Die Realität dieses hybriden Krieges, für dessen zurzeit ausweglose Fortsetzung auch Sacharow dem Machthaber in Moskau die Hauptverantwortung anlastet, fördere leider die Tendenz zum politischen Schwarz-Weiss-Denken.
Immerhin, so könnte man hinzufügen, hat dieses einseitige Freund-Feind-Schema, auf das der Wahlverlierer Poroschenko seine patriotische Propaganda zuspitzte, bei der Mehrheit der ukrainischen Wähler nicht verfangen – entgegen der russischen Propaganda, die gern das Gespenst eines wachsenden "ukrainischen Faschismus" an die Wand malt.
Über 70 Prozent der Wählenden zogen es aber vor, einem jungen erfolgreichen TV-Entertainer jüdischer Herkunft die Stimme zu geben, über dessen konkrete Pläne und sein künftiges Kabinett auch drei Wochen nach Selenskis Erdrutsch-Wahlsieg immer noch nichts Greifbares bekannt ist. Das gilt selbst für das genaue Datum seiner Amtseinsetzung. Klar erkennbar ist vorerst nur, dass Selenski keinen Ehrgeiz zeigt, sich in der Öffentlichkeit als geschwätziger Dauer-Twitterer in Szene zu setzen. Man kann das im Vergleich zu andern Beispielen durchaus als positives Zeichen deuten.