Unergiebiger Schlagabtausch im Stadion
Die mit viel Spannung erwartete öffentliche Debatte am Freitagabend zwischen den beiden Konkurrenten im Kiewer Olympiastadion, die der Herausforderer im Vorfeld durch teilweise groteske Winkelzüge dominiert hatte, war keine Sternstunde. Selenski und Poroschenko kaprizierten sich hauptsächlich darauf, dem politischen Gegner die schlimmsten Absichten und dunkelste verschwörerische Verbindungen zu unterstellen. Zu keinem einzigen aktuellen Problem der Ukraine – vom Krieg im Donbass, der endemischen Korruption bis zum übermässigen Einfluss schwerreicher Oligarchen – kam eine auch nur in Ansätzen vertiefte Debatte zustande.
Nur in einem Punkt waren sich Poroschenko und sein Herausforderer Selenski zumindest in der Wahl der Schlagworte einig: Der Weg der Ukraine «nach Europa», für den sich das flächengrösste Land des Kontinents nach der Maidan-Revolte und der Annexion der Krim durch Russland mit breiterer Zustimmung als zuvor entschieden hatte, sollte fortgesetzt werden. Was genau zu tun wäre, um auf diesem Weg nach Westen weiterzukommen, wurde in der Kiewer Präsidentschaftsdebatte nicht diskutiert.
Bei aller Ernüchterung über den unergiebigen Schlagabtausch zwischen den beiden Konkurrenten Poroschenko und Selenski unterschied sich diese Veranstaltung doch deutlich von den Wahlkampf-Usanzen beim grossen Nachbarn Russland. Dort steht, mindestens seit Wladimir Putin vor 19 Jahren das Szepter übernommen hat, von Anfang an unzweifelhaft fest, wer die Wahl gewinnen und der nächste Präsident sein wird.
Anders als in Russland
Putin selbst hat es nie für nötig befunden, mit seinen nominellen Gegenkandidaten eine öffentliche Debatte zu führen. Die vom Kreml kontrollierten staatlichen Medien, insbesondere das Fernsehen, berichteten zwar häufig über den zurückliegenden Wahlprozess in der Ukraine, doch konzentrierten sie sich mit Vorliebe darauf, dessen Widersprüchlichkeiten, Unberechenbarkeit und die angebliche Dominanz rechtsradikaler Gruppierungen dem eigenen Publikum als abschreckende Beispiele vorzuführen.
In unabhängigen russischen Medien, die nur über eine sehr beschränkte Reichweite verfügen, waren indessen auch Stimmen zu vernehmen, die geltend machten, die vielstimmige Kakophonie und das für die meisten Beobachter noch vor einem Monat kaum vorhersehbare Ergebnis der ukrainischen Präsidentschaftswahl wäre auch für Russland ein erstrebenswerter demokratischer Fortschritt.
Poroschenkos Leistungen und Versagen
Dafür, dass der amtierende ukrainische Präsident Poroschenko aller Voraussicht nach bei der zweiten Wahlrunde am Sonntag als Verlierer dastehen wird, lassen sich vielerlei Gründe ins Feld führen. Manche seiner Kritiker räumen zwar ein, dass in den vergangenen fünf Jahren einiges erreicht worden sei. Das bestätigte am Freitagabend im grossen Kiewer Stadion sogar sein Herausforderer Selenski.
Unzweifelhaft ist in diesen Jahren das ukrainische Zusammenhalts- und Identitätsbewusstsein verstärkt worden. Poroschenko hat diese Entwicklung zwar befördert. Doch der eigentliche Anstoss zum vertieften Nationalbewusstsein der Ukrainer und einer entschiedeneren Orientierung Richtung Westen geht mit der Einverleibung der Krim und dem von ihm geschürten Krieg im Donbass auf Putins Konto.
Dass Poroschenko sein vor fünf Jahren abgegebenes Wahlversprechen, den Krieg im Osten des Landes zügig zu beenden, nicht eingelöst hat, kann man ihm bei Lichte besehen nicht einseitig ankreiden. In dieser Frage liegt der Schlüssel nach wie vor in Moskau. Solange Putin nicht bereit ist, seine materielle und personelle Unterstützung der Separatisten-Klüngel einzustellen oder diese zu einem politischen Kompromiss zu zwingen, wird der schändliche Krieg weiter motten.
Poroschenkos grösstes Versagen in der Augen der ukrainischen Wähler ist wohl die mangelnde Energie und Konsequenz bei der Eindämmung der korrupten Praktiken und Vetternwirtschaft, die die Entwicklung des Landes seit seiner formellen Ablösung von der untergehenden Sowjetunion schwer belasten. Bei seiner Wahl vor fünf Jahren hatte er vage versprochen, sein eigenes weitverzweigtes Geschäftsimperium aufzulösen. Das ist nicht geschehen. Wer selber daran festhält, in der Oligarchenklasse zu agieren, kann nicht glaubwürdig behaupten, dass er als Staatschef die manipulativen und streckenweise mafiösen Praktiken dieser eigenmächtigen Grossmogule mit der nötigen Ernsthaftigkeit bekämpfte.
Selenski als «Diener des Volkes»
Die Unzufriedenheit der ukrainischen Wähler mit dem politischen Establishment und ihre Enttäuschung über die nicht oder ungenügend eingelösten hochfliegenden Hoffnungen der Maidan-Revolte sind das Hauptkapital des voraussichtlichen neuen Präsidenten Wolodimir Selenski. Wie der Entertainer und TV-Produzent, der mit seiner Serie «Diener des Volkes» (so heisst auch seine Partei) zu einer Art Popstar geworden ist, dieses Kapital als Staatschef investieren wird, bleibt vorläufig rätselhaft. Im Wahlkampf hat er es – vielleicht aus taktischer Rafinesse, vielleicht aus politischer Unerfahrenheit – auffällig vermieden, zu den akuten Problemen, die sich der Ukraine stellen, halbwegs fassbare Rezepte vorzustellen.
Was wird er unternehmen, um ein Ende des verheerenden Krieges im Osten des Landes zu erreichen? Wird er sich um ein besseres Verhältnis zu Putin bemühen, um so vielleicht eine Kompromisslösung im Donbass durchsetzen können? Poroschenko und seine Propagandisten haben versucht, Selenski zu unterstellen, er sei so etwas wie Putins trojanisches Pferd – oder zumindest werde der erfahrene Machtmensch im Kreml den politischen Neuling aus der Ukraine schon beim ersten Frühstück in den Sack stecken. Solche Horror-Visionen haben beim ukrainischen Wahlvolk offenbar nicht verfangen.
Unklare Verbindungen zum Oligarchen Kolomoiski
Konkreter begründet scheinen die Bedenken zu sein, Selenski sei mit dem zwielichtigen Oligarchen Ihor Kolomoiski sehr eng verbandelt und könnte diesem zu übermächtigem Einfluss verhelfen. Kolomoiski hat sich wegen dubioser oder betrügerischer Geschäfte schon vor Jahren ins Ausland abgesetzt. Er lebte längere Zeit in Genf, jetzt in Israel und besitzt mehrere Staatsbürgerschaften. Der von ihm kontrollierte ukrainische Fernsehkanal 1+1 strahlt Selenskis Unterhaltungsserie «Diener des Volkes» aus.
Vor kurzem wurde auch bekannt, dass Selenski mehrfach nach Genf und Israel gereist ist – offenbar um den Kontakt mit Kolomoiski zu pflegen. In der Wahlkampfdebatte am Freitag mit Poroschenko beteuerte Selenski aber, Kolomoiski werde selbstverständlich ins Gefängnis kommen, falls ein .Gericht entscheide, dass dieser gegen das Gesetz verstossen habe.
Wie Kolomoiski ist Selenski übrigens jüdischer Herkunft, was gerade in der Ukraine patenten Stoff zu allerlei Verschwörungstheorien bieten könnte. Bemerkenswerterweise scheinen derartige Zusammenhänge die grosse Mehrheit der ukrainischen Wähler aber keineswegs davon abzuhalten, ihre Stimme für den politischen Anfänger Selenski abzugeben.
Parlamentswahl im Oktober
Bei aller irritierenden Ungewissheit über Wolodimir Selenskis Absichten, Verbindungen und möglichen Abhängigkeiten sollte man nicht übersehen, dass er als Präsident nicht nach Belieben wird schalten und walten können. Anders als in Russland, wo Putin über eine willfährige Parlamentsmehrheit verfügt, hat Selenski vorläufig keine eigene Basis in der ukrainischen Rada. Er kann also nicht darauf zählen, dass seine Entscheidungen im Parlament automatisch abgenickt werden, sondern muss mit den heterogenen parlamentarischen Gruppen Mehrheiten und Kompromisse schmieden.
Das dürfte ihm kaum gelingen, sollte er etwa in der Aussenpolitik einen gewichtigen Kurswechsel Richtung Moskau im Sinne haben. Denkbar ist allenfalls ein Marschhalt auf dem Weg zu dem von Poroschenko deklarierten Ziel, die Ukraine so bald wie möglich in den Kreis der EU-Mitglieder und der Nato zu führen.
Im Oktober werden in der Ukraine überdies Parlamentswahlen stattfinden. Gelingt es dem neuen Präsidenten in den nächsten Monaten nicht, die kritische Öffentlichkeit in der Ukraine von seinen Führungsfähigkeiten und seiner Entschlossenheit zu ernsthaften Reformen zu überzeugen, werden auch die mit einem neuen Gesicht an der Staatsspitze verknüpften Hoffnungen rasch dahinschmelzen. In diesem Fall wird sich Selenski mit einem umso umbequemeren Parlament oder neuen Protesten einer zunehmend wacheren Zivilgesellschaft herumschlagen müssen.