Silvana wohnt eine Stunde nördlich von Rom in einer kleinen, hübschen Stadt. Sie ist Politologin und arbeitet im Römer Stadtzentrum.
Als sie im vergangenen März eines Abends nach Hause zurückkehrt, ist die Tür zu ihrem Haus aufgewuchtet. Einige Schubladen liegen am Boden, ein Schrank ist aufgebrochen, ein Fotoapparat ist weg.
Das ist alles. Offenbar wurde der Räuber überrascht und ergriff die Flucht. Die Kosten des Einbruchs: etwa 2‘000 Euro. Glück gehabt.
Silvana telefoniert der Polizei. Ein netter Carabiniere erscheint und macht zwei, drei Fotos. Silvana fährt mit ihm auf den Polizeiposten. Dort stellt der Beamte eine denuncia aus, eine offizielle Bestätigung des Einbruchs für die Versicherung.
Bis zu 20 Einbrüche pro Tag
„Ach, wissen sie“, sagt der nette Polizist, „hier in der Gegend wird zehn bis zwanzig Mal pro Tag eingebrochen“. „Sind die Räuber Zigeuner, wie man immer sagt?“ will Silvana wissen. „Nein, die meisten sind junge Italiener“. Sie gehören zu den 43 Prozent arbeitslosen Jungen.
Silvana ist bei einem der grössten Versicherungskonzern des Landes versichert. Sie telefoniert Giulia, der zuständigen Versicherungsfrau, die sie seit längerem kennt. Jährlich liefert sie ihr dort die 500 Euro für die Jahresprämie ab. Giulia bittet Silvana, ihr die denuncia und zwei, drei Fotos von der zersplitterten Tür und dem aufgebrochenen Schrank zu mailen.
Silvana tut das. Sie scannt auch eine Kopie der Rechnung für den Fotoapparat und schickt sie Giulia.
Stromausfall
Nach zwei Wochen ruft Silvana die Versicherungsfrau an. „Nein, wir haben keine Mail gekriegt“. Silvana checkt, sie kann nachweisen, dass ihre Mail an einem Donnerstag um 13:12 Uhr abgeschickt und angekommen ist.
Silvana mailt alles nochmals. Nach drei Tagen ruft sie an. „Ja, es ist etwas angekommen“, sagt Giulia, aber sie könne das Dokument auf ihrem Computer nicht öffnen. Ihr PC sei auf andere Systeme programmiert.
Silvana versteht etwas von Computern. Sie schickt alles nochmals, im „andern“ System. Doch nichts kommt an. „Ja, wir hatten einen langen Stromausfall“, entschuldigt sich Giulia später“. Silvana mailt alles nochmals.
„Ich finde das Haus nicht“
Nichts geschieht. Nach zwei Wochen ruft Silvana an. Giulia sagt, Silvana müsse jetzt ein technisches Institut beauftragen, das den Schaden prüfen müsse. Silvana wird böse: „Aber das ist doch nicht meine Aufgabe, ein technisches Institut zu finden, das ist doch euer Job“.
Überraschung. Nach einer Woche ruft ein Dottore ingegnere vom technischen Institut R.C. an. Er müsse den Schaden prüfen. Aber er finde das Haus nicht. Silvana erklärt es ihm, sie wartet, er kommt nicht.
Am nächsten Tag ruft Silvana den Dottore an. Sie hat seine Nummer auf ihrem Handy gespeichert. Ja, er komme, sagt der Mann, aber man müsse ihn auf dem Parkplatz der Garibaldi-Bar abholen. Er finde das Haus nicht.
Nichts passiert
Silvana fährt zur Garibaldi-Bar. Dort steht ein riesiger schwarzer Alfa. Silvana fährt voraus und führt den Dottore zu sich nach Hause. Der bleibt anderthalb Minuten, macht ihr Komplimente, wie attraktiv sie sei, schaut sich die Tür an, knipst ein Foto, übergibt ihr eine gestanzte, teure Visitenkarte „Dottore R.C., ingegnere“. Und geht. Nichts passiert.
Nach zwei Wochen ruft Silvana bei Giulia an. Die sagt, sie hätte nichts vom Dottore gehört. Silvana ruft den Dottore selbst an, viermal, fünfmal. Immer antwortet ein Telefonbeantworter. Silvana bittet um Rückruf, kein Rückruf. Beim sechsten Mal antwortet eine Sekretärin. Ja, der Dottore rufe zurück. Kein Rückruf.
Den Schlüssel verlegt
Giulia, die Frau ihrer Versicherungsagentur, sagt jetzt, sie könne nichts unternehmen, solange ihr Silvana nicht die Nummer des Codice fiscale gebe. In Italien geht gar nichts ohne diesen Codice, eine lange, lange Nummer. Sie ist wichtiger als die Passnummer. Man kann kein Geschäft tätigen ohne diese Nummer.
Silvana weiss, dass der Codice auf der Versicherungspolice steht. „Ja, schon“, sagt Giulia, „aber im Moment habe ich keinen Zugriff zu dem Schrank, in dem alle Policen sind“. Silvana gibt ihr ihre Nummer.
Giulia ruft zurück, die Nummer des Codice sei ungültig. Jetzt wird Silvana aggressiv: „Seit ich erwachsen bin, funktioniert diese Nummer“. „Nein“, sagt Giulia, das System weise sie zurück, sie solle die Nummer prüfen gehen.
Kaputter Drucker
Silvana geht am nächsten Tag auf das Amt ihrer Gemeinde. Viele Leute warten. Silvana sitzt eine Stunde und 40 Minuten bis sie drankommt. Sie hat Zeit, die ganze Republicca zu lesen. Sogar den Sportteil liest sie, obwohl sie sich kaum für Sport interessiert.
Die Dame am Schalter prüft und sagt, doch die Nummer sei gültig. Ob sie ihr eine Bestätigung dafür ausdrucken könne, fragt Silvana. Es tue ihr leid, sagt die Beamtin, aber der Drucker sei heute kaputt, aber morgen käme ein Techniker, wenn sie doch morgen nochmals vorbeikommen möge. „Und wieder fast zwei Stunden warten?“ Die Beamtin zuckt nur mit den Mundwinkeln. Ob sie ihr die Bestätigung mailen könne, fragt jetzt Silvana. „Nein, das tun wir nicht“.
„Ja, strano“
Silvana ruft Giulia an. Die Nummer des codice fiscale sei korrekt. Giulia gibt sie in den Computer ein. „Ja, strano, jetzt funktioniert es“. Strano, seltsam.
Eine Woche später ruft Silvana erneut an. Der Dottore vom Institut sei nicht zu erreichen, sagt Giulia, er sei eben wohl überlastet. „Mit all diesen Einbrüchen.“
Silvana will sich an oberster Stelle beklagen. Sie will die Homepage ihrer Versicherung aufrufen, um einen Ansprechpartner zu finden. „Wir entschuldigen uns, unsere Homepage ist im Moment ausser Betrieb“.
Krankes Volk?
„Italien ist krank bis in alle Poren“, sagt uns Silvana. „Jeder wurstelt vor sich hin, jeder denkt nur an sich, jeder versucht einen Vorteil herauszuholen, jeder glaubt, Probleme regeln sich dann schon, irgendwann und irgendwie. Und jeder ist zumindest ein wenig korrupt, und wer es nicht ist, ist ein Blödian, denn alle andern sind es.“
„Wie kann man in einem solchen Land wirtschaften?“, fragt Silvana. Italien sei nicht krank wegen zwanzig Jahren Berlusconi. Sondern: Berlusconi war nur möglich gewesen, „weil das Volk krank ist“. Man verwechsle das Huhn und das Ei.
„…so geht es seit Jahrzehnten“
„Schuld ist das Volk, unsere Gesellschaft, wir Italiener, unser fehlender Gemeinschaftssinn, unsere Mentalität, unsere Denkart, unsere Gesinnung, unsere fehlende demokratische Reife." Und: „Immer wieder glauben die Italiener in ihrem Schlamassel an angebliche Heilsbringer“, sagt die Politologin, „und so geht es seit Jahrzehnten“.
Letzte Woche erhält Silvana einen Telefonanruf von Giulia, der Versicherungsfrau. Die Jahresprämie sei fällig, 500 Euro, sie müsse die Rechnung innerhalb von zehn Tagen bezahlen. Sie sei schon im Verzug.
Silvana braust auf: „Ich wechsle die Versicherung“, sagt sie. „Das können sie nicht“, antwortet Giulia, „die Kündigungsfrist beträgt ein halbes Jahr“.
„Dann wechsle ich das Land“, sagt Silvana.
Doch auch das kann sie nicht.