Während die Jihadisten des „Islamischen Staats“ die von Kurden bewohnte Grenzstadt Kobane belagerten und immer weiter vorrückten, standen türkische Panzer schussbereit an der Grenz. Doch sie taten nichts. Dies ist bekannt.
Weniger bekannt ist, dass auch amerikanische Kampfflugzeuge nicht oder kaum eingriffen. Erst als die Stadt kurz vor dem Fall stand, flogen US-Jets Einsätze.
Türkische Syrienstrategie und Kurdenpolitik
Warum die Türken nicht eingriffen, ist relativ leicht zu erklären. Sie hatten zwei Gründe, sich zurückzuhalten. Erstens ihre gesamte Syrienstrategie und zweitens ihre Kurdenpolitik. Was die Syrienstrategie angeht, so hat Präsident Erdogan mehrfach und öffentlich klar gemacht, dass er drei Ziele anstrebt:
- Eine Sicherheitszone in Nordsyrien vor der türkischen Grenze "ungefähr 50 Kilometer tief";
- ein Flugverbot über dieser Sicherheitszone und
- eine Ausbildung einer Streitmacht, die aus syrischen Oppositionellen besteht und gegen Asad kämpfen soll.
Erdogan machte klar, dass dieser Plan nicht eine rein türkische Aufgabe sein könne, er müsste von Amerika und den "Freunden Syriens" in Europa und in der arabischen Welt mitgetragen und ausgeführt werden.
Die USA und die "Freunde Syriens" sind jedoch nicht bereit, die Risiken einzugehen, die dieser Plan mit sich bringt. Dazu gehört eine kriegerische Konfrontation mit Asad und mit all den Kräften, die Asad stützen, das heisst: Iran, Hizbullah und Russland.
„Wir Türken wären bereit…“
Die türkischen Tanks, die nicht schossen, waren eine Demonstration Erdogans. Er wollte zeigen: "Wir Türken wären bereit, unsere Rolle in dem geplanten Vorgehen gegen das Syrien Asads zu spielen. Aber wir warten darauf, dass die anderen wichtigen Mächte mitmachen".
Die Demonstration sollte nach aussen wirken, gegenüber den "Freunden Syriens", aber auch nach innen gegenüber den Kritikern Erdogans. Ihnen wollte er zeigen: Das Ausland will nicht mitmachen, ihm mangelt es an Initiative. Schuld ist nicht die türkische Syrien-Politik. Wegen der vielen syrischen Flüchtlinge und den abgebrochenen Beziehungen zu Damaskus befindet sich die Türkei in einer schwierigen Lage.
Erdogan dürfte wissen, dass wenig Chancen bestehen, dass Washington und seine Verbündeten ihre Haltung ändern.
Doch er erreicht zunächst immerhin einen Propagandaeffekt zur Verteidigung seiner Syrienpolitik. Die wird von seinen Gegnern als verfehlt kritisiert. Erdogan weiss auch, dass der Krieg noch lange dauern wird. Das heisst, dass sich die Situation später ändern könnte und dass sein Kriegsplan doch noch verwirklicht werden könnte.
Misstrauen gegenüber den Kurden
Die kurdische Politik ist ebenso komplex. Für die Türkei ist die PKK (weltweit als Terrororganisation eingestuft) nach wie vor ein Feind, mit dem das Land seit 1984 einen Dauerkrieg geführt hat. Zwar befindet sich die Türkei zurzeit in einem "Friedenprozess" mit der PKK. Doch ein Friedenprozess ist nicht das gleiche wie Friedensverhandlungen. Friedensverhandlungen zielen auf die Herstellung eines Friedens ab. Ein Friedensprozess, das sind nur langfädige Gespräche über mögliche Friedensverhandlungen, oft mit dem Ziel, wirkliche Friedensverhandlungen ad infinitum hinauszuziehen.
Im Falle der PKK und des türkischen Staates besteht der Verdacht, dass der Friedensprozess in erster Linie zu dem Zweck begann und zögernd fortgeführt wird, um Erdogan die Stimmen der türkischen kurdischen Abgeordneten im Parlament von Ankara zu verschaffen. Er benötigt diese für seinen Plan, die türkische Demokratie aus einer parlamentarischen in einer präsidiale Demokratie umzuwandeln. Seine eigene Partei, die AKP, besitzt eine solide Mehrheit im Parlament, jedoch nicht die Zwei-Drittels-Mehrheit, die nötig wäre, um diese Umbaupläne reibungslos unter Dach zu bringen. Kritische Neuwahlen sind im kommenden Jahre fällig.
Indirekte Gespräche mit den USA
Bewaffnete Mitglieder der KYD, der „Kurdischen Einheitspartei“, sind es, die zurzeit noch Kobane in verzweifelten Strassenkämpfen zu verteidigen suchen. KYD ist eng mit der PKK verbunden. Sie gilt als der syrische Arm der türkischen PKK.
Sie hat einen politischen Konkurrenten in den kurdischen Enklaven an der syrischen Nordgrenze. Dieser Konkurrent nennt sich "Kurdischer Nationalkongress" (Englisch KNC). In ihm sind verschiedene kurdische Parteien zusammengeschlossen.
Die Mitglieder des „Nationalkongresses“ sind nicht bewaffnet. Sie wurden daher in den kriegerischen Zeiten, die Syrien durchmacht, von den bewaffneten KYD-Kämpfern zurückgedrängt.
Doch der amerikanische Journalist Jake Hess enthüllte kürzlich in der Zeitschrift „Foreign Affairs“, dass amerikanische Diplomaten seit 2012 indirekte Gespräche mit beiden in Syrien aktiven kurdischen Gruppierungen führten.
Robert Ford, einst amerikanischer Botschafter in Damaskus und später Beauftragter für die Kontakte mit der syrischen Exilopposition in Istanbul, hat dies Jake Hess bestätigt.
Kurdisches Stillhalte-Abkommen mit Asad
Offenbar versuchten die Amerikaner, die nicht bewaffneten Mitglieder des „Kurdischen Nationalkongresses“ (KNC) dazu zu bewegen, mit der stets stark zerstrittenen syrischen Exilopposition zusammenzuarbeiten. Dies funktionierte deshalb nicht, weil die Kurden darauf bestanden, die Zusage zu erhalten, dass die syrischen Kurdengebiete künftig autonom würden. Dagegen wehrten sich die Exilpolitiker, die syrischen Nationalisten, Salafisten und die syrischen Muslimbrüder.
Weil sie bei den Exilpolitikern wenig Sympathie fanden, schlossen die syrischen Kurden mit der Asad-Regierung im Juli 2012 ein Stillhalteabkommen, ob ausdrücklich oder nur de facto, ist unklar. Das Asad-Regime hatte kein Interesse auch noch mit den Kurden einen Krieg zu führen. Deshalb konnten sich die Kurden etwa drei Jahre lang weitgehend selbst regieren. So ergab es sich, dass der PKK-Sprössling, KYD, der bewaffnet war, die eigentliche Macht ausübte.
Die Türken nicht verärgern
Das Zögern der Amerikaner, in Kobane gegen den Islamischen Staat einzugreifen, dürfte mit dieser komplexen Vorgeschichte zusammenhängen. Nach den Aussagen von Botschafter Ford, hielten die Amerikaner die Türken über ihre Kontakte mit den beiden syrisch-kurdischen Gruppen auf dem Laufenden. Die Türken baten darauf die Amerikaner, langsam vorzugehen. Dies deshalb, weil die Türkei selbst Kontakte mit der PKK unterhielt. Erdogan wollte vermeiden, dass die Kurden – dank ihren Kontakten mit den USA – ihre Verhandlungsposition gegenüber Ankara aufwerten könnten.
Die Amerikaner seien sich bewusst gewesen, dass sie die Türken durch ihre Kurdenkontakte nicht verärgern dürften, erklärte Ford.
Ob nun Kobane noch in letzter Stunde dank der nun doch eingesetzten amerikanischen Luftschläge doch noch gerettet werden kann, ist zurzeit offen. Die komplexe Geschichte zeigt deutlich, wie sehr Geheimverhandlungen über politische Fragen in die syrischen Kriegshandlungen hineinspielen und das blutige Kriegsgeschehen recht eigentlich dominieren.