Kurz nach acht Uhr morgens in der Yonganli-U-Bahnstation, Metro-Linie 1, im Zentralen Geschäftsviertel. Ununterbrochen strömen Abertausende die Rolltreppe hoch, um nach längerer Pendlerfahrt rechtzeitig um neun Uhr zum Arbeitsbeginn ihre Büros zu erreichen. Ungleich noch vor wenigen Jahren gibt es beim Ein- und Aussteigen keine grösseren Rempeleien. Dirigiert von gelb uniformierten älteren Freiwilligen mit kleinen elektronischen Megaphons wird eingermassen ordentlich und gesittet aus- und eingestiegen.
Wüste Szenen
Das war nicht immer so. Vor den Olympischen Spielen 2008 spielten sich echt chinesisch ziemlich unordentliche, um nicht zu sagen wüste Szenen ab. Drücken, Drängeln, Boxen und Ellbögeln ohne jede Rücksicht hiess die Devise. Um der Welt ein freundliches olympisches Bild zu präsentieren, lernten die Pekinger Schlange stehen. Wie, das bleibt das Geheimnis der rührigen Stadtregierung.
Die neue, ganz unchinesische Sitte hat Olympia 2008 überdauert. Warum? Das bleibt für Ihren Korrespondenten ein Rätsel. In der Regel aller Fälle wird jetzt jedenfalls an den öffentlichen Verkehrsmitteln – Bus, U-Bahnstationen, Bahnhöfen – gehorsam Schlange gestanden. Angesichts der früheren chaotischen Verhältnisse eine kleine proletarische Kulturrevolution.
Teures Wohnen im Zentrum
Zu Stosszeiten herrscht im Innern der Waggons ein dichtes Gedränge. Mann an Mann und Frau an Frau. Viele der Pendler sind pro Tag bis zu drei Stunden unterwegs. Nach Zahlen des Pekinger Statistischen Amtes kommen der Pendler und die Pendlerin auf durchschnittlich exakt 54 Minuten pro Tag. Drei gute Bekannte Ihres Korrespondenten, die in den Vorstädten Shunyi und Tongzhou wohnen, kommen jedoch täglich auf gut und gerne drei Stunden.
Warum, könnte man fragen, wohnen denn diese Pekinger soweit vom Arbeitsplatz entfernt? Die Antwort ist einfach: Immobilien-Preise. Im Zentrum bezahlbare Wohungen zu bekommen, ist aussichtslos. Je weiter draussen, umso preiswerter. Allerdings gilt auch in den Vorstädten die Regel, dass Immobilien möglichst nahe dem öffentlichen Verkehr, also nahe einer Busstation und besser noch direkt an einer Metro-Linie die teuersten sind.
Das dichte Gedränge zur Rushhour am Morgen – 7 bis 9 Uhr 30 – und am Abend – 17 bis 19 Uhr – braucht Nerven. Selbst ein voll besetzter S-Bahn-Zug in Zürich oder einem Basler Trämli zur Hauptverkehrszeit ist verglichen mit den Pekinger Verhältnissen erholsam. „Zeitungen lesen, das geht schon lange nicht mehr“, sagt Chen Weixian, ein älterer Bekannter Ihres Korrespondenten. Heute jedoch sei das gar nicht mehr nötig. Die meisten U-Bahnfahrer benutzen heute ihr kluges Telephon – Neudeutsch: Smartphone – spielen Games, schauen TV oder lesen eben ihre E-Papers.
Hitzeferien
Das U-Bahn-System der chinesischen Hauptstadt ist mit derzeit 552 Kilometern das längste der Welt. Nicht nur das, es ist praktisch nach jedem Kriterium das beste. Punkto Sauberkeit der U-Bahn-Stationen und der Waggons ist selbst ein frisch geputzter 1.-Klass-Waggon der SBB nur ferner liefen. Bei den meisten Linien gehören Rolltreppen und Glasabsperrungen zum U-Bahn-Trassee zur Standardausrüstung. Airconditioning in den Waggons ist de rigueur.
Das ist nicht ganz unwichtig im Sommer. Bei 39 Grad im Schatten wie eben gerade draussen an der Yonganli-Station der Linie 1 ist es bei langen Pendlerzeiten angenehm, dicht gedrängt im Metro-Waggon in tief gekühlter Luft auf seinem klugen Telephon das Parteiblatt „Renmin Ribao“ (Volkszeitung) zu lesen und zu erfahren, wie gerade der ideologische Parteiwind weht, und natürlich auch, was auf der Welt passiert.
Am Rande vermerkt: Selbst wenn das private Thermometer wie vor drei Tagen satte 41 Grad angibt, überschreitet das offizielle Thermometer niemals 39 Grad. Der Grund: Bei 40 Grad müssten Schulen und Betriebe Hitzeferien ausrufen...
Zehn Millionen Passagiere täglich
Der Ausbau des Pekinger U-Bahn-Netzes ging in den letzten 15 Jahren in forschem Tempo voran. Die Olympischen Spiele 2008 haben sicher geholfen. Dennoch, auch jetzt wird weiter gebaut, um die schnell wachsenden Satelliten-Städte mit dem Zentrum zu verbinden. Bis 2020 sollen mehrere hundert Metro-Kilometer dazukommen, und das Netz soll dann über 1‘000 Kilometer lang sein. Derzeit befördern die Pekinger U-Bahnen 3,2 Milliarden Passagiere pro Jahr. An Spitzentagen sind es über zehn Millionen. Tendenz steigend.
Billig
Die Pekinger Metro ist nicht nur die grösste, schönste, sauberste, sondern auch die billigste U-Bahn der Welt. Bis vor zwei Jahren galt noch ein Einheitspreis von 2 Yuan auf dem ganzen Netz. Anfangs 2015 gab es unter dem Protest der Massen eine moderate Preiserhöhung. Der Mindestpreis wurde auf 3 Yuan erhöht. Im übrigen gelten wie etwa in Shanghai oder Hong Kong distanzabhängige Preise.
Kein Wunder, denn die Stadtregierung subventioniert den öffentlichen Verkehr mit grossen Summen. Im Jahre 2010 zum Beispiel flossen 13,5 Milliarden Yuan – umgerechnet rund 2 Milliarden Franken – in die Metro. Drei Jahre später waren es dann bereits 20 Milliarden Yuan. Vor der Erhöhung der Preise 2015 deckte der Ticket-Verkauf einen Viertel der tatsächlichen Kosten, danach ist es nun wenigstens die Hälfte.
Früher nur für Partei-Bonzen
Die Pekinger U-Bahn ist die älteste in China und bald fünfzige Jahre alt. 1965 wurde mit dem Bau der Linie 1 begonnen, quer durch das Zentrum von Peking. Eröffnet wurd die Prestige-Linie 1969 zum 20. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik mitten in der „Grossen Proletarischen Kulturrevolution“. Heute misst die Linie 30,4 Kilometer mit 23 Stationen.
Bis 1977 durften nur kleine und mittlere Parteibonzen die Metro benutzen. Die Linie 2, gebaut Ende der 1960er-, anfangs der 1970er-Jahre, führt unter der alten Stadtmauer und der heutigen zweiten Ringstrasse rund ums Zentrum. Seit Ende der 1990er-Jahre hielt der Metro-Ausbau mit dem Bevölkerungswachstum Schritt. Als 1969 die Linie 1 eröffnet wurde, zählte Peking sechs Millionen Einwohner. Heute sind es 22 Millionen.
Der tägliche Strassenstau
Der Strassenverkehr hat das Wachstum weniger gut bewältigt. Der tägliche Stau auf sämtlichen Strassen ist garantiert, obwohl doch in China Strassen in einem für westliche Vorstellungen ungewöhnliichen Tempo gebaut werden. In Peking wird mittlerweile bereits an der 7. Ringstrasse mit mehreren hundert Kilometern Länge gebaut. Obwohl die Stadtregierung mit verschiedenen Mitteln – beschränkte Zahl Autonummern pro Jahr etwa – versucht, das Wachstum des rollenden Verkehrs zu beschänken, nimmt die Zahl der Autos stetig zu.
Heute stecken über 5,5 Millionen im täglichen Stau. Vor zwanzig Jahren fuhren noch nicht einmal eine halbe Million Autos neben Millionen von Fahrrädern zügig durch die Strassen. Die einzigen, die noch heute ohne Schwierigkeiten durch Pekings Strassen kurven, sind wieder Velos. Diesmal aber fast ausschliesslich mit Elektromotor.
Waggons made in China
Parallel zum Metro-Linien-Ausbau hat sich auch der Komfort für die Fahrgäste erhöht. Die Linie 16 zum Beispiel, die 2017 eröffnet wird, prescht erstmals mit in China gefertigten Waggons durch den Pekinger Untergrund. Es handelt sich um eine neue Art von U-Bahn-Zug, der eine maximale Kapazität von 3‘500 Passagieren befördern kann und mit allem nur möglichen Passagier-Komfort ausgerüstet ist.
Ähnlich wie bei den Hochgeschwindigkeitszügen ist China international nun auch beim U-Bahn-Waggon-Bau gut im Geschäft. Die amerikanische Stadt Boston mit einem der ältesten U-Bahn-Netzen der Welt (1897) hat in China 284 U-Bahn-Züge im Wert von 35 Milliarden Yuan (rund 570 Millionen Dollar) geordert. China gehört heute neben Europa, Japan, Südkorea und Amerika zu den führenden Anbietern.
Fröstelnde Nichtpekinger
Von Yonganli auf der Linie 1 zum Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen sind es vier Stationen oder 15 Minuten. Der Waggon ist prall gefüllt. Wegen der Klimaanlage frösteln, weil ungewohnt, viele der aus ländlichen Gebieten stammenden chinesischen Touristinnen und Touristen. Befreiung beim Auftauchen aus dem Untergrund auf den weiten Tiananmen-Platz: 39 Grad. Ohne Schatten. Ohne Klimaanlage. Wie im ländlichen China...