Eng und enger wird es in Chinas Metropolen. Nach Berechnungen des Uno-Entwicklungsprogramms werden im Jahre 2030 über 700 Millionen Chinesinnen und Chinesen auf 41‘000 Qaudratkilometern städtischer Fläche leben, arbeiten und vor allem sich bewegen. Schon die offiziellen Verkehrszahlen von heute lassen erahnen, was auf die Städter zukommt. Ende des letzten Jahres verkehrten fast 200 Millionen private Autos auf Chinas Strassen. Die Zahl der Zwei- und Dreiräder – Fahrräder, E-Bikes, Motorräder – lässt sich nur schwer schätzen, da einige Kategorien nicht registriert sind oder nicht registriert werden müssen. Chinesische Verkehrs-Experten gehen aber von einer Mindestzahl von 400 Millionen aus. Trotz Restriktionen in verschiedenen Städten und Provinzen kommen jährlich 20 Millionen neue Autos und ebensoviele E-Bikes, Motorräder und Velos auf die Strasse.
„Stille Killer“
In Peking verkehren derzeit nicht ganz sechs Millionen Autos. Dazu kommen vier Millionen Fahrräder, E-Bikes und Dreiräder. Trotz schnellem, grosszügigem Strassenbau sind die Hauptverkehrsadern meist verstopft. Ein gnadenloser Kampf um Verkehrsfläche und Parkplätze spielt sich täglich ab. Velos und E-Bikes haben gegenüber Autos den Vorteil, flexibel zu sein. Zahng Lixian, ein Ihrem Korrespondenten seit Jahren bekannter Taxifahrer, bringt es auf den Punkt: „Die E-Bikes sind brandgefährlich, eine alltägliche Bedrohung.“ Sie seien nicht nur schnell, sondern leise, gar unhörbar und „missachten sämtliche Verkehrsregeln“. Unterdessen sind die elektrischen Velos und Scooters im Volksmund und in den sozialen Medien als „stille Killer“ bekannt.
Empörung
Ein Blick auf die Verkehrsstatistik zeigt, dass das Killer-Attribut nicht ganz von ungefähr herbeigeredet wird. Nach Zahlen der Uno-Weltgesundheitsorganisation kommen jedes Jahr bei Verkehrsunfällen in China 260‘000 Menschen ums Leben. Gut 60 Prozent davon sind Fussgänger, Velo-, E-Bike- und Motorradfahrer. Allerdings gibt es auch die Gegenposition, nach der die Autos die „wahren Killer“ sind. Einen Hinweis dazu gibt Ma Guilong, emiritierter Professor der Pekinger Elite-Universität Tsinghua: „Die Motorfahrzeuge haben mittlerweile fast alle für Fahrräder und E-Bikes reservierten Spuren okkupiert.“ Die Rad- und E-Bikefahrer, aber auch die Fussgänger sind zurecht empört. Eine zusätzliche Gefahr hat sich in den letzten Jahren wegen Internet und E-Commerce entwickelt. Online-Verkäufe haben in China 2015 sagenhafte 3,9 Billionen Yuan – umgerechnet rund 600 Milliarden Franken – erreicht, ein Drittel mehr als 2014.
Diese Waren werden durch unzählige Firmen mit elektrifizierten Dreirädern verteilt. Dafür werden vor allem Migranten angestellt.
„Missfallen und Empörung“
Die Behörden reagieren auf die E-Bike-Flut etwas unbeholfen mit Verboten. In Peking beispielsweise wurden neulich Elektro-Fahrräder und Dreiräder auf zehn Strassen verboten, darunter der Hauptverkehrsader Chang’an Avenue. In der südlichen Boomstadt Shenzhen wurden bereits 2012 rund 90 Prozent der Stadtstrassen für E-Bikes verboten. Begründung: die Bikes konkurrierten oft mit Personenautos, und vor allem missachteten sie ständig Rotlichter. In Guangzhou (Kanton) denken die Behörden gar über ein allgemeines Vebot nach. Selbstverständlich erliessen auch die Behörden von Shanghai weitreichende E-Verbote. Die „Chinesische Fahrrad-Vereinigung“ CBA reagiert empört. CBA-Direktor Ma Zhongchao: „Die Verbote für E-Bikes haben zu weitverbreitetem Missfallen und Konfusion unter der chinesischen Bevölkerung geführt.“ Die Verbote stünden überdies in Widerspruch zur Regierungspolitik, die Nachhaltigkeit fördern und grüne Energie fördern und Umweltverschmutzung vermindern will. Auch seien die Verbote, so Ma, nicht sozialverträglich, denn sie träfen vor allem Wanderarbeiter.
Mittelstand gegen Unterschicht
In Shenzhen beispielshalber sind die Hälfte der 17 Millionen Einwohner Migranten aus andern Provinzen. Diese Wanderarbeiter malochen in unzähligen Fabriken oder sind bei Online-Lieferdiensten als E-Dreiradfahrer angestellt. Ähnlich in der Hauptstadt Peking. Dort sind nach offiziellen Zahlen von 21,7 Millionen Einwohnern 8,2 Millionen Wanderarbeiter. In Shanghai und andern Grossstädten sind die Verhältnisse nicht viel anders. Klassenkampf also zwischen den wohlhabenden Autofahrern und der E-Bike-fahrenden Unterschicht der Wanderarbeiter und Normalos.
Der relativ wohlhabende Mittelstand Chinas wird auf derzeit rund 300 bis 400 Millionen Menschen, die Zahl der Wanderarbeiter und Arbeiterinnen, die im wirtschaftlich blühenden Küstengürtel Beschäftigung und Auskommen suchen, auf 250 bis 300 Millionen Menschen geschätzt.
Kaum verbindliche Standards
Das erste chinesische E-Bike wurde 1989 an der Tsinghua-Universität entwickelt. Zu jener Zeit wurden Motorräder von vielen Strassen verbannt. Nicht zuletzt deshalb wurden Mitte der 1990er Jahre die schnellen E-Fahrräder langsam zum Verkaufsschlager, zumal sie relativ billig waren. Noch heute kostet ein einfaches E-Bike kaum mehr als umgerechnet 300 Franken. Erschwinglich also für jedermann.
Mittlerweile ist China weltweit die Nummer 1 als Produzent, Käufer und Verkäufer von elektrischen Fahrrädern. Allerdings sind die E-Bikes in China gefährlicher als in der Schweiz. 1999 noch galt für E-Bikes im Reich der Mitte eine limitierte Batterie-Grösse, eine Geschwindigkeits-Limite von 20 Kilometern pro Stunde und ein Höchstgewicht von 40 Kilogramm. Unterdessen freilich gibt es Elektor-Velos, die gut und gerne geräuschlos mit 40 Kilometern pro Stunde über die Strassen brettern. Von den schwergewichtigen und schnellen E-Scooters ganz zu schweigen. Für die gefährlichen Liefer-Dreiräder gibt es schliesslich gar keine verbindlichen Standards.
Rasende Pendler
Wie der Klassenkampf auf Chinas städtischen Strassen ausgehen wird, bleibt vorerst offen. Ihr Korrespondent behilft sich seit einem Velo-Klau mit Leih-E-Bikes. Mit einem Smartphone kann man sie öffnen, fährt damit, wohin immer man will. Stellt sie irgendwo ab und fertig. Abgerechnet wird mittels Fintech pro Kilometer, denn die klugen E-Bikes sind mit GPS ausgerüstet. Aber schnell sind sie nicht. Gerade einmal 20 km/h. Links und rechts, geräuschlos natürlich, flitzen einem die rasenden Pendler, Wanderarbeiter und Online-Lieferanten um die Ohren.
In Chinas Grossstädten fährt man deshalb sicherer, schneller und komfortabler mit der U-Bahn. Denn Chinas Stadtbehörden haben eines schnell gelernt: um den permanenten Stau und schliesslich Kollaps des Verkehrsystems zu verhindern, braucht es den wohlfeilen öffentlichen Verkehr. Allein seit Beginn dieses Jahrhunderts sind in Peking und anderswo Hunderte von Metro-Kilometern gebaut worden. In Peking kostet das teuerste U-Bahn-Billet knapp mehr als ein Kurzstrecken-Ticket im Basler Trämli ...