In den letzten beiden Jahren sind mehr als 250’000 Minderjährige unbegleitet über die Südgrenze in die USA gekommen. Es sind keine illegalen Einwanderer. Die Bundesbehörden wissen um ihre Existenz und müssten sich um sie kümmern. Doch für viele ist Kinderarbeit häufig der einzige Ausweg.
Sie kommen in den meisten Fällen aus Zentralamerika. Sie haben ihre Heimatländer verlassen, um bitterer wirtschaftlicher Not zu entrinnen und ihre Familien zu unterstützen. Nur ein Drittel von ihnen stösst in den USA zu den Eltern. Die übrigen geraten in die Mühlen einer heillos überforderten Einwanderungsbürokratie, welche die Kinder an Verwandte, Bekannte oder – oft ohne nähere Überprüfung – an Sponsoren vermittelt. Fast die Hälfte der Kinder kommt aus Guatemala, wo Armut und Gewalt grassieren und Eltern oft keinen anderen Ausweg lassen, als ihre Kinder in Richtung Amerika loszuschicken, in der Hoffnung, sie würden dann aus dem gelobten Land etwas Geld zurückschicken.
Vor allem der Umstand, dass die Minderjährigen mit Sponsoren leben können, öffnet Kindesmissbrauch Tür und Tor. Die USA erlauben es seit 2008 Kindern, die nicht aus Mexiko oder Kanada kommen, bei Sponsoren zu leben, während Einwanderungsformalitäten erledigt werden, die mehrere Jahre dauern können. Während dieser Zeit sind die Kinder ihren mitunter skrupellosen Sponsoren ausgeliefert, denen sie für Unterkunft und Essen Geld schulden. Was sie wiederum dazu zwingt zu arbeiten, statt in die Schule zu gehen. Auch bei Schleppern sind die Jugendlichen häufig verschuldet.
«Eine Wirtschaft der Ausbeutung»
«Diese jungen Arbeiterinnen und Arbeiter sind Teil einer neuen Wirtschaft der Ausbeutung», berichtet Hannah Dreier, eine Reporterin der «New York Times». Sie hat in 20 Staaten mit mehr als 100 Minderjährigen gesprochen, die arbeiten müssen: «Kindermigranten, die ohne ihre Eltern in Rekordzahlen in die USA gekommen sind, finden sich am Ende in einigen der härtesten Jobs wieder (…). Diese Schattenbelegschaft erstreckt sich über Industrien in jedem Staat und missachtet Gesetze zur Kinderarbeit, die fast seit einem Jahrhundert in Kraft sind. Zwölfjährige Dachdecker in Florida und Tennessee. Minderjährige Schlachthausarbeiter in Delaware, Mississippi und North Carolina. Kinder, die in South Dakota in Nachtschichten Bretter zuschneiden.»
Die Kinder arbeiten oft bis zur Erschöpfung, ständig begleitet von der Furcht, in Umständen gefangen zu sein, aus denen zu entkommen es kaum noch Hoffnung gibt. Hannah Dreier weiss: «In Stadt um Stadt waschen Kinder nachts Geschirr. Sie bedienen in Vermont Melkmaschinen und tragen in New York City Essen aus. Sie ernten Kaffee und bauen in Hawaii Mauern aus Lavasteinen um Ferienhäuser. Mädchen, nicht älter als dreizehn, waschen in Virginia Bettlaken.»
«In Schuldknechtschaft versetzt»
Lehrpersonal in Middle und High Schools, das Englisch für Kindereinwanderer unterrichtet, erzählt, dass fast alle ihrer Schülerinnen und Schüler nach Ende des Unterrichts zu langer Schichtarbeit aufbrechen. «Sie sollten nicht zwölf Stunden am Tag arbeiten müssen, aber es passiert hier», sagt eine Sprachlehrerin in Homestead in der Nähe von Miami. Fast aller ihrer rund 100 Achtklässler, die sie in Englisch unterrichtet, würden wie Erwachsene arbeiten.
Ein Lehrer an der Union High School in Grand Rapids (Michigan) erinnert sich an eine 15-Jährige, die nachts in einer Wäscherei arbeitete, in der Schule vor lauter Müdigkeit einzuschlafen begann und zweimal ins Spital musste. Weil es aber weiterarbeiten musste, verliess das Mädchen die Schule. «Sie verschwand in der Versenkung», erzählt der Pädagoge: «Es ist die neue Kinderarbeit. Man pflückt Kinder aus einem anderen Land heraus und versetzt sie praktisch in eine Schuldknechtschaft.»
Carolina Yoc erzählt in der «New York Times» ihre Geschichte. Sie stammt aus einem Dorf in Guatemala, in dem es kaum Wasser und Elektrizität und nach Beginn der Corona-Pandemie auch fast kein Essen mehr gab. Die einzigen Dorfbewohner, die einigermassen überlebten, waren solche, denen Verwandte aus den USA Geld schickten. Carolina lebte allein mit ihrer Grossmutter, deren Gesundheit sich aber zu verschlechtern begann. Als sie Nachbarn vom Auswandern reden hörte, entschloss sich die Vierzehnjährige, mit nach Norden aufzubrechen: «Ich bin einfach nur gewandert.»
Schule morgens, Arbeit abends
Als das Mädchen erschöpft die amerikanische Grenze erreichte, wog es noch knapp 40 Kilo. Einst im Land, schickten Agenten der Einwanderungsbehörde Carolina in eine Unterkunft in Arizona, wo eine Sachbearbeiterin der Behörde ihre Tante Marcelina Ramirez in Grand Rapids (Michigan) kontaktierte. Diese wollte Carolina erst nicht aufnehmen, da sie bereits drei eigene Kinder hatte und für zwei weitere Kinder als Sponsorin fungierte.
Als das Mädchen trotzdem bei ihr ankam, bedeute sie ihm, es müsse jeden Morgen zur Schule gehen und am Abend für die Firma Hearthside arbeiten gehen, die als Zulieferbetrieb Lebensmittel herstellt. Ms Ramirez hatte es seinerzeit als junge Einwanderin nicht anders gekannt und bereits als Zweitklässlerin zu arbeiten begonnen. Sie wusste, dass Carolina ihrer Grossmutter Geld schicken wollte. Und sie war überzeugt, dass Arbeiten Jugendlichen guttue. Ausserdem ist im ländlichen Guatemala Kinderarbeit die Regel.
Hearthside Food Solutions, ein grosser Subunternehmer für nationale Markenhersteller wie Frito-Lay, General Mills oder Quaker Oats, ist in den USA bei weitem nicht die einzige Firma, die Minderjährige wie Carolina beschäftigt. Angeblich hat das Unternehmen nicht reagiert, als es von einem lokalen Arbeitsvermittler darauf aufmerksam gemacht wurde, es würde jung aussehende Angestellte beschäftigen, deren Ausweise offenbar gefälscht waren. Auch ist Hearthside, dem landesweit 39 Fabriken gehören, seit 2019 von staatlichen Stellen wiederholt für die Vernachlässigung von Sicherheitsvorschriften gerügt worden.
Für Hearthside arbeitet auch der 15-jährige Kevin Thomas, der mit seinem damals siebenjährigen Bruder vor zwei Jahren in Grand Rapids eingetroffen ist. Er wurde zuerst zu einem lokalen Unternehmen geschickt, das als Zulieferer Autoteile produziert. Seine Nachtschicht endete morgens um halb sieben, so dass er in der Schule nicht wach bleiben konnte, und er hatte Mühe, die schweren Kisten aufzuheben. Kevin wechselte zu Hearthside und stapelt heute in derselben Schicht wie Carolina 22,5 Kilogramm schwere Boxen mit Müsli: «Es ist nicht so, dass wir in diesen Jobs schuften wollen. Wir wollen aber unseren Familien helfen.»
Auch Grosskonzerne betroffen
Auch Zulieferer für nationale Grossunternehmen wie Ford, General Motors oder Walmart haben schon Jugendliche aus Zentralamerika beschäftigt. Sie würden, heisst es heute, solche Vorwürfe ernst nehmen und angebliche Vorfälle untersuchen. Doch staatliche Stellen, die Rechtsverletzungen nachgehen sollten, sind in vielen Staaten unterbesetzt und haben nicht die nötigen Ressourcen, um Anschuldigungen nachzugehen oder Untersuchungen einzuleiten Ähnlich ergeht es jenen offiziellen Instanzen, die Kinderimmigranten fremdplatzieren. Zuständige des Department of Human Health and Human Services (H. H. S.) schätzen, dass rund zwei Drittel unbegleiteter Jugendlicher heute Vollzeit arbeiten.
Eigentlich würden es in den USA Bundesgesetze verbieten, Minderjährige für gefährliche Jobs wie Dachdecken, Fleischverarbeiten oder industrielles Backen einzustellen. Ausser auf Farmen dürfen Kinder unter 16 Jahren pro Tag nicht länger als drei Stunden oder an Schultagen nicht nach sieben Uhr abends arbeiten. Aber genau in solchen aufreibenden und schlecht bezahlten Tätigkeiten finden sich der «New York Times» zufolge die Immigrantenkinder wieder. Sie erleiden auch häufiger als Erwachsene schwere Arbeitsunfälle wie Beinamputationen oder Rückenmarkverletzungen. Gemäss Statistiken des amerikanischen Arbeitsministeriums sind seit 2017 Dutzende unbegleitet eingewanderter Minderjähriger am Arbeitsplatz getötet worden.
Die Personalverantwortliche für Farm Fresh Foods, eine Fleischfabrik in Alabama in Personalnöten, realisierte vor Kurzem, dass sie eine Zwölfjährige für einen Job interviewte, der darin besteht, in einer Abteilung der Fabrik, die auf 4,5 Grad hinuntergekühlt ist, Hühnerbrüste zu Nuggets zu portionieren. Sie begegnet regelmässig Arbeitsuchenden, die sich bemühen, ihr wahres Alter unter starkem Makeup oder hinter Gesichtsmasken zu verbergen: «Manchmal berühren ihre Beine nicht einmal den Boden.» Die Personalzuständige fragt sich, was aus den Kindern wird, wenn sie sie fortschickt: «Es lässt mich nicht kalt, dass sie so verzweifelt sind, solche Jobs zu finden.»
Die Folge vorsätzlicher Ignoranz
«Die Zunahme der Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten während mehrerer Jahre ist das Ergebnis einer Verkettung von vorsätzlicher Ignoranz», folgert «Times»-Reporterin Hannah Dreier: «Firmen ignorieren die jungen Gesichter in ihren Hinterzimmern und in ihren Fabrikhallen. Schulen versäumen es häufig, offensichtliche Verletzungen des Arbeitsrechts zu melden im Glauben, es würde Kindern eher schaden als nützen. Und H. H. S. verhält sich so, als ob es Immigrantenkindern, die ungesehen im Land untertauchen, eigentlich gut gehe.»
Inzwischen treffen aus Zentralamerika mehr Kinder in den USA ein, als das staatliche System seriös verarbeiten kann. Da Platz in anständigen Unterkünften für sie rar geworden ist, bleiben die Minderjährigen in oft Gefängnis-ähnlichen Anlagen, welche die US-Grenzpolizei administriert, und später in Zeltstädten, wo sie auf Turnmatten und unter dünnen Decken schlafen. Die Regierung in Washington DC hat zwar versprochen, das Einwanderungsprozedere für Minderjährige zu beschleunigen, gleichzeitig aber Schutzmechanismen abgebaut, die teils seit Jahren in Kraft waren und dazu dienten, die Identität der Kinder festzustellen und dem Kinderhandel einen Riegel zu schieben. Doch im vergangenen Jahrzehnt haben Staatsanwälte des Bundes lediglich rund in 30 Fällen Anklage erhoben, weil Sponsoren Kinder dazu gezwungen hatten, für sie zu arbeiten und Geld zu verdienen.
«Völlig inakzeptabel»
Offenbar aufgeschreckt durch das Erscheinen des Artikels in der «New York Times» hat das Weisse Haus Ende Februar wenige Tage später angekündigt, die Regierung wolle grossflächig sowohl gegen die Ausbeutung von Kinderimmigranten vorgehen als auch gegen jene Firmen, die sie beschäftigten. Präsident Joe Bidens Pressesprecherin nannte die Enthüllungen der Zeitung jedenfalls «herzzerreissend» und «völlig unakzeptabel».
So will das Arbeitsministerium in Washington DC künftig nicht nur gegen Fabriken und Zulieferbetriebe vorgehen, die illegal Kinder beschäftigen, sondern auch gegen die grösseren Unternehmen, für deren Lieferketten Minderjährige beschäftigt sind. Es soll für Firmen nicht mehr genügen, sich auf Ignoranz zu berufen, weil die Kinder häufig via Arbeitsvermittler zu ihnen kommen, die weder Alter noch Identität prüfen.
Die neuen Massnahmen dürften allerdings nicht ohne Widerstand aus Kreisen verschiedener Lobbys bleiben, unter denen sich vor allem die Interessenvertreter der einflussreichen Agrarindustrie gegen schärfere Gesetze wie genauer definierte Altersvorschriften oder verkürzte Arbeitszeiten für Jugendliche wehren. Nach wie vor dürfen in den USA auf Farmen Zwölfjährige ausserhalb der Schule bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten.
Höhere Bussen geplant
Auch soll in Zukunft für ertappte Firmen die Höhe der Bussen steigen, die bisher lediglich 15’000 Dollar pro Fall betragen haben. «Geschichten von Kindern, welche die Schule verlassen, vor Erschöpfung zusammenbrechen und sogar Verstümmelungen erleiden, weil sie in Maschinen geraten, würde man in Romanen von Charles Dickens oder Upton Sinclair erwarten, nicht aber in Berichten aus unserem Alltag im Jahr 2023, nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika», hat die demokratische Abgeordnete Hillary Scholten (Michigan) Ende Februar in einem emotionalen Aufruf vor dem US-Kongress angemahnt.
Derweil hat in Arkansas Gouverneurin Sarah Huckabee Sanders, einst Donald Trumps Pressesprecherin im Weissen Haus, diesen Monat ein Gesetz unterzeichnet, das es lokalen Arbeitgebern erleichtert, Kinder unter 16 Jahren zu beschäftigen. Nur einen Monat zuvor hatten Daten des US-Arbeitsministeriums gezeigt, dass die Zahl der Kinder, die in den USA illegal beschäftigt sind, seit 2018 um 69 Prozent gestiegen ist.
Mutmasslich höhere Dunkelziffer
835 Firmen haben im vergangenen Jahr 3’800 Kinder unter Verletzung des nationalen Arbeitsrechts angestellt. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Doch für nicht wenige Lobbyisten und Politiker scheint es wichtiger zu sein, den Pool ausbeutbarer Arbeitskräfte um wehrlose Minderjährige zu erweitern, statt mit höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen reguläre Angestellte anzuziehen. Eine frühere Staatsanwältin, die heute an der Harvard Law School forscht, hält es für völlig unangebracht, dass Politiker diskutieren, ob 14-Jährige in Fleischfabriken legal arbeiten sollen: «Wer das tut, riskiert, eine Praxis zu normalisieren, die total unzulässig ist.»
Carolina Yoc lebt inzwischen seit über einem Jahr in Amerika und hat einige Freundinnen gefunden. Das Lehrpersonal an ihrer Schule in Grand Rapids weiss nur wenig über ihre beschwerliche Reise an die amerikanische Südgrenze. Sie lebt nach wie vor bei ihrer Tante und will zur Schule gehen, um Englisch zu lernen, ist aber nach 17-Stunden-Tagen und dem damit verbundenen Stress am Morgen jeweils zu müde, um noch dem Unterricht zu folgen. «Ich hatte keine Erwartungen, wie das Leben hier sein würde», sagt sie: «Aber es ist nicht, was ich erwartet habe.»