Ein Gegenentwurf zur Tiktokisierung unserer Zeit: Das gemeinsame Lesen von Büchern. Unter dem Eindruck von künstlicher Intelligenz lohnt die analoge Neu-Lektüre, auch von Schweizer Klassikern, erst recht. Mit Furor gegen die Manie – ein Rundumschlag.
Die Welt ist aus den Fugen, der Kitt und die Kontrolle verloren: Krieg, Klima, Dauerkrise. «O tempora, o mores!», ächzt es seit nunmehr 2000 Jahren. Und das ist eine gute Nachricht, denn sie ist so beruhigend wie entlarvend. Besteht doch gerade eines der grösseren Übel unserer Tage in der larmoyanten Kakophonie einer Kultur der Selbstaffirmation. Kein Medium scheint davor gefeit, erst recht nicht die sogenannten Social Media, das Babel der Jetztzeit. Die multioptionale Mimimi-Gesellschaft forciert sich dergestalt geradewegs in die maximale Komplexitätsreduktion hinein. Alle posten, alle jammern, alle dissen, alle haten – niemand liest. Wir wissen es doch längst: Wir haben uns im digitalen Nebel verrannt. Die Brille, auch die der Virtual Reality, ist dauerbeschlagen.
Zur Selbstkasteiung servieren wir uns im Live-Feed einen galligen, unverdaulichen Partikular-Einheitsbrei. Ein gärendes Lamento der Echokammer, den schnappatmenden Kotzchoral des 21. Jahrhunderts. Gibt es ein Allheilmittel? Natürlich nicht, denn nichts ist sicher, nichts für immer, nichts geschenkt. Nur Totalitarismen behaupten das Gegenteil. Was wäre also Pharmakon der Hoffnung? Ein Vorschlag: Maul halten, Computer ausschalten, Mensch sein, lesen. Oder um den Bogen zur Antike aufrechtzuerhalten: Tolle, lege! Nimm das Buch – und lies.
Auslese
Denken will gelernt sein, kulturelles Wissen erworben, stetig vertieft, gespiegelt und seinerseits hinterfragt. Das braucht Zeit und Widmung. Just darum ist Scrollen nichts mehr als Daumenlutschen für Erwachsene – und Kinder. Es nährt nicht, es imitiert nur die Aufnahme, leere Kalorien. Es ist ein lärmendes Staubsaugen für den Drecksack in unserem Kopf. Lesen hingegen kommt vom Althochdeutschen «lesan», welches das Auflesen und Sammeln in der Landwirtschaft bezeichnet. Das braucht und fördert Reife (von Produkt und Sammler), Kenntnis und Geduld. Und das ist das Rüstzeug, welches wir benötigen, um dem Wahnsinn der Welt zu begegnen.
«Konzentrieren» bedeutet die Sammlung und Ausrichtung der Kräfte hin zum Mittelpunkt. Da wollen wir hin. Ad fontes, mit aller Kraft! Auf dass wir erkennen, was die Welt, im Innersten zusammenhält. Tiefe statt Tiktok. Viel wird gemosert über den implodierenden, weil unverbindlichen Kanon. Doch ist uns tatsächlich schon einmal ein Maturand begegnet, welcher noch nichts von Schiller, Goethe oder Kafka gelesen hätte? Eben. Nein, das Abendland ist noch nicht verloren. Gelesen wird immer. Und selbstredend bedeutet der Fokus auf den Kanon nicht die Abkehr von der Lektüre zeitgenössischer Literatur. Doch muss dem gemeinsamen, identitäts- und sinnstiftenden Lesen per se wieder mehr gesellschaftliche Wichtigkeit beigemessen werden. Ein respektvoller, demokratischer Diskurs auf Augenhöhe setzt reale Präsenz und Interesse am Gegenüber voraus. An dieser Überzeugung, diesem Wertefundament, müssen wir festhalten. Und verzichten für einmal auf «Digital Learning». Tolle, lege!
Hören, denken, fühlen
Sodann nehmen wir den «Faust» zur Hand und lernen Seite um Seite, was das «Tertium Comparationis» sein könnte, was dieses Jahrhundertdrama mit uns zu tun hat: Die Angst vor der Überforderung durch die Welt, vor der Einsamkeit, dem Scheitern. Es gab ihn doch schon immer, den Horror vacui. Im Umkehrschluss: Es wird nicht schlimmer – wenn wir dem Einbruch der permanenten Verunsicherung selbstbewusst und selbstbestimmt Einhalt gebieten. Wer also könnte dieser Mephisto im Jahr 2024 sein? Vielleicht die sogenannte «künstliche Intelligenz»? Verbirgt sich dahinter ein Chatbot? Ein Hilfsmittel, von welchem wir schon beim Erstkontakt ahnen, dass es uns entmündigt und hilflos macht. In gerade dieser Einsicht offenbart sich die Ohnmacht als Stärke. Und lehrt Demut. Hier sind wir Menschen. Jetzt müssen wir es sein.
Wir gehen in der sprunghaften Tour d’Horizon durch das kanonische Regal über zu Dürrenmatts «Physiker» und sehen, dass wir wissen können – und wollen! Was ist demnach die wahre «Weltformel»? Wollen wir die Antwort auf diese Frage wirklich dem Algorithmus überlassen, wo sie doch in uns liegt? Das fiktive Irrenhaus «Les Cerisiers», es ist nunmehr vielleicht nur eine App entfernt respektive auf X, vormals Twitter, zu finden. Ein Augiasstall der anonymen Beleidung, der Enthemmung und des Voyeurismus, in welchem es bisweilen schwerfallen kann, sich nicht ebenfalls in den Niederungen des Niveaus zu suhlen. Die Selbsterkenntnis mag schmerzen, aber von kathartischer Wichtigkeit sein.
Notabene: Es ist dies hier keine Abrechnung mit der digitalen Sphäre im Allgemeinen oder dem Laptop, auf welchem diese Zeilen geschrieben wurden. Doch sehr wohl Plädoyer für ein bewusstes Innehalten und der Versuch einer korrigierenden Neu-Gewichtung. Digitales und analoges Lesen sind komplementär zu verstehen – aber nicht zu vermengen. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückscrollen, ist doch der Medienwandel eine anthropologische Konstante. Ebenso aber die dazugehörige, kritische Meta-Reflexion. Nicht das Metaverse.
Beurteile und herrsche
«Was alle angeht, können nur alle lösen», heisst es im Anhang zu den Physikern. Dass sich das Informationszeitalter unter dem Eindruck der künstlichen Intelligenz in einer akuten Sinnkrise befindet, steht nicht zur Debatte. Der grosse Schweizer Schriftsteller selbst liefert eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit unserer Verunsicherung: «Der schnellste Weg, um über eine Sache klar zu werden, ist das Gespräch.» Es ist an der Zeit, diese unumstössliche Wahrheit wieder aus dem Korsett des Allgemeinplatzes zu befreien. Es könnte mitunter auch ein Akt der Emanzipation sein. Tolle, lege!
Um Dürrenmatt und seinem geliebten Sophokles Reverenz zu erweisen, lassen wir das belletristische Gedankenspiel heiter in die Katastrophe münden. Denkbar ist Gotthelfs «Schwarze Spinne»: Ist unsere Kultur unlängst zum Horror-Biedermeier des klebrigen «Internetz» verkommen? Inwiefern unterscheiden sich literarische und historische «Tradition», wenn Storytelling alles ist? Was ist Mythos, Märchen, Heimat 2.0? Hohle Gasse, dunkle Cloud: Auch Tell lässt grüssen. Und wer bezahlt eigentlich dafür, dass der Teufel immer Rat weiss? Wir haben einen Verdacht.
Sexroboter und Urknall
Abschliessend keine Gutenachtgeschichte: E. T. A. Hoffmanns «Sandmann». Was bedeutet «Sehen» noch in einer Welt des Visuellen? Emanzipiere ich mich dergestalt endlich vom Sandmännchen? Und weil Eros und Thanatos bekanntermassen Brüder in Geist und Fleisch sind: Ist die betörend-spröde Olimpia ein verkappter Sexroboter? Die Frage, nicht die Provokation, lag doch auf der Puppenhand. Denn die Klassiker haben ihren Status dadurch erlangt, dass sie jeder Folgegeneration den Spiegel – nicht das Insta-Selfie – vorzuhalten wissen. Eine unausweichliche Konfrontation mit Raum, Zeit und dem Selbst.
Alles zweckfreie Schöngeistigkeit? Ausdruck einer pädagogischen Sinnkrise? Zu viele Fragen? Gut möglich. Die Diskussion auf Augenhöge möge beginnen. Denn wir haben uns qua entschleunigenden und ausgedehnten Lesens der kollektiven Basis versichert. Wir sind in Ruhe im Mittelpunkt zusammengekommen und bereit, zu hören, zu denken – und zu fühlen. Jedes für sich, aber alle zusammen. Farbig, frohgemut, fiebrig oder forsch: Gemeinsame, analoge Lektüre und der Austausch darüber können jedes Mal aufs Neue einen kleinen kulturellen Urknall bedeuten. Und individuelle, tiefmenschliche Off-Screen-Erkenntnisse mit sich bringen, die sich weder ökonomisch noch kompetenzpädagogisch quantifizieren lassen. Das ultimative Device in dieser Welt, die keine Utopie ist, sondern hier und jetzt möglich, heisst: Kopf. Tolle, lege!
Die wahre Weltformel
In den vergangenen Monaten wurde viel berichtet über die zunehmende Unfähigkeit von Schülerinnen und Schülern, Gelesenes zu verstehen, bei sich zu «behalten». Kritische Notiz am Rande: Können wir Erwachsene uns a priori ausnehmen? Hierbei geht es aber nicht, wie manch Kommentar insinuierte, um den PISA-Wettbewerb oder die Kompetenzkanone «Lehrplan 21» – nein, es geht in Wahrheit um «alles» (!), wie es der im vergangenen Jahr verstorbene Philosoph Peter Bieri in seiner Schrift «Wie wäre es gebildet zu sein?» schon 2005 formulierte. Nicht unerwähnt bleiben darf Bieris eigenes literarisches Schaffen: Der Berner Denker war auch Dichter und veröffentlichte unter seinem Pseudonym Pascal Mercier unter anderem den Weltbestseller «Nachtzug nach Lissabon». Eine Reise nicht nur nach Portugal, sondern gleichsam eine archäologische Erkundung der Seele.
Und so drängt sich des Pudels unliebsamer Kern nach und nach in unseren Deutungshorizont: Warum eigentlich soll neben etlichen Stunden Screentime in der Freizeit der Bildschirm auch in der Schule im ständigen Fokus sein? Das Leben einer Mehrheit wird noch mannigfach Möglichkeit bieten, Zeit vor dem Monitor zu verbringen. Laut einer deutschen Studie sind es durchschnittlich 25 Jahre. Man führe sich vor Augen: Bill Gates erlaubte seinen Kindern bis ins Alter von 14 Jahren keine Handy-Nutzung, Steve Jobs’ Sprösslingen war zu Hause der Umgang mit iPads verboten. Zufall? Nein, die Visionäre wussten, was zählt: Bildung, nicht Bildschirm. Tolle, lege!
Bestimmt, nicht beliebig
An anderer Stelle äussert Bieri den Wunsch, in einer «Kultur der Stille» zu leben, in welcher es darum ginge, jedem dabei zu helfen, seine eigene Stimme zu finden (vgl. «Wie wollen wir leben?»). Es ist dies eine Stimme der Innerlichkeit, welche das Zuhören erst ermöglicht. Uns dämmert: Diese Stimme ist nicht eine Meinung, welche es loszuwerden, abzusondern, hinauszurotzen gilt. Diese «Vox humana» ist vielmehr ein internalisierter Anker, eine Überzeugung, ein Kompass. Getreu dem Credo: Ich brauche nicht für alles Verständnis zu zeigen. Aber ich will möglichst vieles verstehen. Bestimmt, nicht beliebig, als handelndes Subjekt, nicht als Opfer meiner Zeit. Und dafür muss der Mensch lesen. Es macht ihn nicht zwingend besser. Das wäre illusorische Hybris. Aber es hilft ihm dabei, zuzuhören, und gleichsam Empathie zu erlernen.
In summa: Wie formulierte es Jorge Luis Borges? «Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.» Produktive Imagination. Ein Heureka, wie es keine ChatGPT-Zusammenfassung jemals generieren wird, denn es muss selbst gedacht und selbst gefühlt werden. Zum Glück. Das ist die Schönheit der kreativen, lebensbejahenden Dialektik und damit ein ebenso vernünftiger wie radikalhumanistischer Gegenentwurf zum digitalen Getöse unserer Zeit. Noch haben wir es – das Buch! – in der Hand. Stille; lege.