Die türkische Polizei hat am Sonntag frühmorgens eine Grossaktion in 13 Städten der Türkei begonnen. Ziel ist das Netzwerk von Journalisten und andern Anhängern der Gülen-Bewegung. Sie sollen, wie Präsident Erdoğan am Freitag erklärte, „in den Höhlen aufgesucht und zur Rechenschaft gezogen werden“. Erdoğan erklärte, „das liebe Volk der Türken soll wissen, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Netzwerk handelt, sondern um eines, das eine Kombination von bösen Kräften im Inland und im Ausland darstellt". Erdogan betonte, die Bewegung Gülens sei ein geheimer Staat im Staat.
Erdoğans jetziges Vorgehen gegen die freien Medien erfolgt genau ein Jahr, nachdem bekannt geworden war, dass Gerichte und die Polizei gegen Minister der damaligen Regierung Erdoğan ermittelt haben. Ihnen wurde Korruption vorgeworfen. Gegen einige der Minister wurde Haftbefehl ausgestellt.
Gerichte unter der Fuchtel der Regierung
Erdoğan wies die Korruptionsvorwürfe zurück. Er sorgte dafür, dass es zu keinem Prozess kam und ging gegen die Polizei- und Untersuchungsbehörden vor, die versucht hatten, die angebliche Korruptionsaffäre aufzudecken. Danach wurden Hunderte Polizisten, Polizeikommandanten und Untersuchungsrichter entlassen oder aus den grossen Städten aufs Land strafversetzt. Anschliessend wurden auch die richterlichen Behörden umgebaut.
Das provozierte den Widerstand der obersten Richter des Höchsten Gerichtshofes. Doch Erdoğan brach diesen Widerstand mit Hilfe seiner Parlamentsmehrheit. Die Abgeordneten erliessen Gesetze, die darauf abzielten, die Gerichte und Richter in grössere Abhängigkeit vom Justizministerium zu bringen.
Zwei neue, restriktive Gesetze
All dies ging nicht ohne heftigen Widerstand der türkischen Opposition über die Bühne. Doch die Opposition kann die Mehrheitspartei Erdoğans nicht davon abhalten, Gesetze zu formulieren, die die Machtverhältnisse innerhalb des Staates zum Nachteil der richterlichen Gewalt und zum Vorteil der Exekutive verschieben.
Während der Kämpfe um Kobane an der irakisch-türkischen demonstrierten im vergangenen Oktober Kurden gegen die türkische Regierung. Diese heftigen Demonstrationen nahm die AKP Erdoğans zum Vorwand, um zwei Gesetze zu erlassen, welche die Befehlsgewalt der Exekutive über die Polizei und Untersuchungsbehörden erheblich steigern. Gleichzeitig wurde die Aufsichtsfunktion der Richter über kriminelle Untersuchungen stark reduziert. Ein Sicherheitsgesetz, das Anfang Dezember dieses Jahres vom Parlament verabschiedet wurde, erlaubt es den Provinzgouverneuren, die vom Ministerpräsidenten eingesetzt werden, der Polizei direkte Befehle zu erteilen.
Die Gouverneure können die Polizei auffordern "präventiv zu handeln", kriminelle Untersuchungen durchzuführen und Festnahmen anzuordnen, auch ohne Ermächtigung durch Untersuchungsrichter. Sie können auch auf eigene Faust Polizeikommandanten ernennen. Gleichzeitig erklärt das neue Gesetz, vermummte Demonstranten seien Verbrecher und würden als solche behandelt. Als Verbrechen gilt nun auch der Besitz von Molotow-Cocktails, von Feuerwerk und von Schleudern.
Schlag gegen die Pressefreiheit
Mit den neuen Polizeiaktionen dieser Tage, die sich nun gegen Journalisten richten, die der Gülen-Bewegung nahe stehen, sowie offenbar auch gegen andere einflussreiche Sympathisanten der Bewegung, beginnt eine weitere Phase. Dabei gehe es offensichtlich darum, die Medien und private Personen zum Schweigen zu bringen, die bisher von der offiziell bestehenden Meinungsfreiheit Gebrauch machten, um Erdoğans Politik zu kritisieren.
Die Zeitung "Zaman“ gilt als das meist gelesene Blatt der Türkei. Man kann "Zaman" auch in englischer Version lesen. Die Zeitung hat im vergangenen Jahr die Politik Erdoğans scharf kritisiert. Angeprangert wurden sowohl die wirtschaftlichen wie auch die innenpolitischen Massnahmen und die aussenpolitische Linie. Die Zeitung brachte viele der fragwürdigen Aspekte aus all diesen Bereichen ans Licht und schlug alternative Massnahmen vor. All dies in einem durchaus zivilen Ton, jedoch sachlich scharf. Gegen die Politik Erdoğans gibt es viel einzuwenden. Sie verfolgt einen Kurs der Machtkonzentration in Händen des Präsidenten. Gleichzeitig leidet die türkische Wirtschaft unter Vertrauensschwund, was sich unter anderem im Zerfall der Währung zeigt. Die Syrienpolitik der Türkei hat sich zu einer schweren Belastung des Landes entwickelt. "Zaman" verfehlte nie, auf diese und alle anderen Schwächen der Regierungspolitik hinzuweisen.
Der Palast als Symbol
Natürlich berichtete das Blatt auch ausführlich über den Skandal des neuen Präsidentenpalastes, den sich Erdoğan in einem eigentlich unter Naturschutz stehenden Wald hoch über Ankara bauen liess. Er hat 1‘000 Zimmer, 258 davon für den Privatgebrauch Erdoğans. Die Kosten waren auf 615 Mio. Dollar veranschlagt. Doch der Palast wurde noch teurer, weil für den umgebenden Park viele Bäume aus Italien importiert wurden, deren Kosten im Voranschlag nicht enthalten waren. Die monatliche Elektrizitätsrechnung des Palastes soll 330‘000 Dollar betragen. Erdogan verteidigt seinen Palastbau damit, dass er dem Prestige der Türkei diene.
Fehlgeschlagene Polizeiaktion vor "Zaman"
Am Sonntag früh versuchte die Polizei den Chefredaktor von "Zaman" zu verhaften. Doch dies misslang. Die Polizeiaktion war im Voraus bekanntgeworden. Ein gewisser "Fuad Avni", der regelmässig über bevorstehende Verhaftungen Bescheid weiss und sie auf "Twitter" bekannt gibt, hatte schon Tage zuvor gewarnt, eine Grossaktion stehe bevor. Zuerst war sie, seinen Informationen zufolge, auf den Freitag geplant. Beabsichtigt war die Festnahme von 400 Personen. Doch dann, so wollte Avni auch wissen, sei sie wegen seiner Bekanntmachung neugeplant und auf Sonntag verlegt worden. Beabsichtigt seien jetzt nur 32 Festnahmen gewesen. Der Twitter-Denunziant gab die Namen der zu Verhaftenden bekannt. Dies führte dazu, dass die ganze Belegschaft von "Zaman" über Nacht in dem Gebäude ausharrte, wo die Zeitung redigiert und gedruckt wird.
Die Leute hatten Schilder vorbereitet, auf denen stand "Alle mögen schweigen, aber Zaman kann nicht zum Schweigen gebracht werden". Vor dem Gebäude hatte sich eine grosse Menge von Sympathisanten angesammelt. Die Menschen standen so dicht, dass die Polizei gehindert wurde vorzurücken. Daraufhin forderten die Sicherheitskräfte den Chefredaktor, Ekrem Dumanli, auf, hinunterzukommen. Doch er weigerte sich und erklärte, er sitze in seinem Büro, wenn die Polizei mit ihm sprechen wolle, solle sie zu ihm hinaufkommen. Ohne Gewalt zu gebrauchen, war dies den Polizisten nicht möglich. Sie zogen daher ab.
32 Verhaftungen
"Zaman" veröffentlichte darauf eine bebilderte Darstellung des Vorgangs auf der ersten Seite seiner Sonntagsausgabe - was natürlich eine Blamage für die Polizeikräfte bedeutete.
Allerdings ist dem Vernehmen nach der Chefredaktor zu einem späteren Zeitpunkt am Sonntag doch noch verhaftet worden. Ebenso festgenommen wurden die Leiter einer Fernsehstation, die der Gülen-Bewegung nahe steht, sowie andere Journalisten und Medienverantwortliche. Bisher sollen es total 32 Personen sein. Laut "Fuad Avni" soll die Festnahme von 150 Journalisten und 250 anderen Gülen nahe stehenden Personen geplant sein. Weitere Verhaftungen könnten also folgen.
Ein islamischer Gegenpol zu den Islamisten
Gülen, gegen den jetzt eine Hexenjagd veranstaltet wird, ist ein islamischer Prediger und Gelehrter, der in den USA lebt. Seine Auffassung des Islams ist weltoffen. Er neigt der Moderne, der Demokratie und der Zusammenarbeit mit anderen Religionen zu. Gülen ist beeinflusst von der mystischen Islamtradition Anatoliens. Dies ist in jeder Hinsicht ein Gegenpol zum sogenannten Islamismus, der islamisch eingekleideten Ideologie, die eine sich selbst "islamisch" nennende Gewaltherrschaft anstrebt.
Die Gülen-Bewegung hat Millionen von Anhängern in der Türkei und in vielen anderen Ländern. Sie war mit der AKP Erdoğans verbündet, solange diese darauf ausging, eine echte Demokratie mit tatsächlicher Gewaltentrennung in der Türkei einzurichten. Doch sie geriet in Konflikt mit Erdoğan, als dieser und seine Partei begannen, die von Anhängern Gülens betriebenen Schulen der Staatsmacht zu unterstellen. Der Konflikt spitzte sich zu, als Polizeibehörden vor einem Jahr Korruptionsanklagen gegen Minister Erdoğans und auch den Sohn des damaligen Ministerpräsidenten erhoben. Nach Erdoğan handelten sie als Mitglieder eines Geheimbundes, der von Gülen geleitet werde.