Es regnet – pausenlos, penetrant, unerbittlich. Kein Wunder, wir – meine Frau Sibyl und ich – stehen in Luzern vor dem Bahnhof und warten auf den Bus.
Wahrscheinlich darf man im Zeitalter der «political correctness» solche Vorurteile nicht länger ungestraft verbreiten. Unser Freund Roman, Architekt und Künstler, der den Besuchern einen Kaffee und den tropfnassen Schirmen eine Ecke im Treppenhaus offeriert, belehrt uns, die meteorologische Statistik zeige, dass Luzern nicht die grösste Zahl an Regentagen aller Schweizer Städte aufweise. Ob nie oder nicht mehr (Klimawandel?) bleibt wegen wichtigerer Themen ungeklärt. Im Stillen hoffe ich, die Hitliste werde nicht durch St.Gallen angeführt. Müsste mich schämen für meine Vaterstadt.
Etwas später gesellt sich zu unseren Schirmen ein Vierter. Er gehört Sylvia, Journalistin und ehemalige Leiterin des Medienausbildungszentrums (MAZ). Nun sind wir komplett und könnten uns auf die geplante Tour machen, vom Bodenhofquartier durch den Bireggwald zur Villa Krämerstein – «Chrämerstei» steht auf der Landeskarte – und weiter nach Kastanienbaum ins Seenforschungsinstitut. Leider ignoriert der unbekannte Wettermacher Romans Statistik, oder er (oder ist es eine Sie?) will uns eine Lektion erteilen in Sachen falscher Anwendung auf den Einzelfall. In unserem Einzelfall regnet es jedenfalls weiter, pausenlos … (siehe oben). Wir berufen uns auf die Vernunft und verzichten auf den Bireggwald, auch wenn er schön sein soll, sagt Roman, voller Vogelgezwitscher, speziell jetzt im Mai.
Es ist der 1. Mai, in Zürich ein hoher Feiertag, in Luzern zum Glück nicht. Der 21er-Bus erscheint pünktlich an der Haltestelle Eisfeldstrasse und bringt uns zum Krämerstein.
Die Idee zum Ausflug auf die Halbinsel Horw wurde vor über einem Jahr in Griechenland geboren, in der Mani auf dem Peloponnes, als im Spätherbst Roman und wir in Agios Dimitrios zwei benachbarte Wohnungen am Meer gemietet hatten und im Gespräch herausfanden, dass sich unsere Leben schon viel früher hätten kreuzen können. Roman hatte vor fünfzig Jahren mit seinem landschaftlich einfühlsamen Entwurf für das Seenforschungsinstitut in Kastanienbaum seinem damaligen Arbeitgeber, dem Architekten Roland Mozzatti, den ersten Preis der Ausschreibung eingebracht, und ich forschte dort während Jahren über Seen.
Irgendwann erwähnte Roman auch Sylvias Name. Sie hatte Roman bei seinem Werkbuch unterstützt, und ich wiederum kannte sie vom Club Helvétique. Eine typische Erfahrung: Wohin man auch immer auf dieser Erde reist, man trifft erstens auf andere Schweizerinnen und Schweizer und stellt zweitens bald fest, dass man gemeinsame Bekannte hat.
Jetzt sind wir also beim Eingang zum Park der Villa Krämerstein an Sylvias früherem Arbeitsort, gehen – Schirme aufgespannt – gemächlich durch die Allee zum herrschaftlichen Haus und weiter durch den Park hinunter zur kleinen Bucht am Vierwaldstättersee, wo man im Sommer baden darf, weil die Besitzerin von Haus und Park, die Gemeinde Horw, den Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Am Rande eines Wäldchens steht das «Haus am See», ein kleines Gebäude, das Kulturschaffenden als vorübergehende Wohnstätte zur Verfügung gestellt wird. Du könntest dich, meint Sylvia, als Journal21-Mitarbeiter für eine Kreativretraite melden.
Am oberen Ende der Aussentreppe, welche zum Eingang des Kulturrefugiums führt, steht – eine Antwort auf Sylvias Vorschlag? – ein weit ausladender Regenschirm. Sylvia zeigt zur Villa hinauf, die selbstbewusst auf dem Hügel thront und über die Horwerbucht schaut. Ganz links habe sie ihr Büro gehabt, ihr schönster Arbeitsort aller Zeiten. Dennoch hätte sie als Direktorin – schweren Herzens, aber der Vernunft gehorchend – im Jahre 2005 das MAZ in die Stadt Luzern verlegt. Es seien vor allem finanzielle Gründe gewesen, aber auch die eingeschränkte Erreichbarkeit für die Studierenden an einem Ort, der damals nur schlecht an den ÖV angeschlossen war.
Auch Paradiese haben ihre Schattenseiten. – Ob anno 1786 der Erbauer der Villa, der Unternehmer Balthasar Falcini, und all die späteren Besitzer aus dem Luzerner Adel dies auch schon so empfunden haben? Wir wissen es nicht und stellen lediglich fest, dass Philipp Keller, Sohn des letzten Besitzers, die Villa im Jahre 1980 mitsamt einer Sammlung von Schiffsmodellen dem Verkehrshaus der Schweiz vermachte. Doch schien die Idee einer Aussenstation mit Pendelschiff zwischen dem Luzerner Lido und Kastanienbaum den Verantwortlichen des Verkehrshauses damals als zu riskant; sie schlugen die Schenkung aus. Schliesslich kaufte die Gemeinde Horw Villa und Park. Dort residierte von 1984 bis 2005 das MAZ, später die International School of Zug and Luzern, aber auch diese nur, bis ihr die Schüler ausgingen.
Paradies oder Last? – Zumindest für die Besucher, die jetzt durch die Allee zur Strasse zurückgehen, überwiegt das Paradiesische, trotz des andauernden Regens. Überhaupt hat das Luzerner Seebecken schon immer kontemplative und kreative Menschen angezogen, besonders Musiker. Richard Wagner, Johannes Brahms, Sergei Rachmaninoff (seine Villa Senar in Hertenstein beherbergt heute die Luzerner Musikhochschule) und andere haben hier gelebt und gearbeitet. In Kastanienbaum wohnte von 1968 bis zu seinem Tod 1996 Rafael Kubelîk, der Dirigent tschechischer Abstimmung, der 1973 die Schweizer Staatsbürgerschaft erwarb. Und auf dem Nachbargrundstück des Krämersteins steht die ehemalige Villa des holländischen Dirigenten Bernard Haitink. Sie verfüge über einen angebauten Konzertsaal, wo Haitink gelegentlich private Konzerte veranstaltet hatte, erfahren wir von Sylvia.
Wir wandern weiter Richtung Hotel Kastanienbaum. Entlang der schmalen Strasse hat die Nachkriegszeit gewütet und – weil Geld und guter Geschmack bekanntlich nicht immer zusammenfallen – ein Sammelsurium an architektonischen (Alb-)Träumen hinterlassen, wie unser Architekt betrübt feststellt. Einige der alten Villen mit ihrem grossen Umschwung vermochten zwar dem Ansturm der Betonmischmaschinen standzuhalten, aber andernorts stehen die mehr oder weniger fantasievollen Häuser dicht an dicht. Hoffen wir für das «unscheinbare Chalet» aus dem Jahre 1905, über das die «echten» Villenbesitzer damals vielleicht auch die Nase gerümpft hatten, der Wahlspruch unterm Dach möge stark genug sein: «Leichten Mut bring herein, Sorgen lass draussen sein.»
Auch die Hotels auf der Horwer Halbinsel spürten immer wieder die «paradiesische Last». Das Hotel St. Niklausen ist seit vielen Jahren geschlossen, und das romantische alte Hotel Kastanienbaum, in das wir vom Labor damals gerne essen gingen, wurde abgerissen und durch ein Viersterne-Hotel ersetzt, das seinerseits vor zehn Jahren wegen juristischen Streitereien für einige Jahre geschlossen blieb. Wir gehen daran vorbei und kommen nun an jene Stelle, die ich immer besonders liebte. Hier grenzt die Strasse über eine anderthalb Meter abfallende Mauer – ohne Abschrankung oder Leitplanke – direkt an den See. Mit dem Auto unterwegs hatte ich mir damals immer vorgestellt, wie man hier bei Glatteis «hindernislos» zu einem Bad im See kommen würde. Das ist lange her. Unterdessen hat der Horwer Strassenmeister offenbar ähnliche Albträume gehabt und zum See hin ein – wenn auch nur sehr niedriges – Mäuerchen anbringen lassen.
Hinter einem grossen Kastanienbaum (nomen est omen) erblicken wir wenig später das «Seeheim». Der Bund hatte die ehemalige Gerberei neben dem hydrobiologischen Labor 1968 vom damaligen Besitzer gekauft und ihm und seiner Frau das Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt. Frau S. kostete ihr Wohnrecht nach dem Tod ihres Mannes noch viele Jahre aus und wachte über die Ordnung in den oberen Stockwerken des Hauses, wo es einfache Unterkünfte für Forschende und Schulklassen gab. Am hydrobiologischen Laboratorium Kastanienbaum, das seit 1960 zur EAWAG gehörte, habe ich 1971 meine ersten Schritte von der theoretischen Physik in die Limnologie gemacht, liebevoll und kundig assistiert von René Gächter, der mich in die Geheimnisse der Nährstoffkreisläufe in Seen einführte und damit meine Neugierde und Forschung in eine für mich entscheidende Richtung lenkte. In jenen Jahren übernachtete ich oft im Seeheim und hörte jeweils spät abends Frau S. mit ihrem Schlüsselbund alle Türen verriegeln. Ich erinnere mich auch, im Parterre ein Fenster rekognosziert zu haben, durch das ich mich im Falle eines Brandes hätte retten können.
Doch unsere heutige Exkursion gilt der Architektur. Gegenüber dem Bootshaus liegt der 1976 eingeweihte treppenförmige Neubau, den Roman entworfen hatte. Er beschreibt uns, wie er sich damals als junger Architekt vor die Aufgabe gestellt sah, an diesem landschaftlich äusserst sensiblen Ort am vom See aus weithin sichtbaren Ufer der Halbinsel Horw, neben einem Weinberg, alten Bauernhöfen und baumbestandenen Wiesen, ein Gebäude mit einem anspruchsvollen Raumprogramm (Büros, Labors, Fischzuchtanlagen, Werkstatt, Bibliothek …) unterzubringen und wie er nach Besuchen vor Ort auf die Idee eines an den Hang angelehnten Treppengebäudes gekommen sei. Auch über einen späteren Ausbau hätte er sich Gedanken gemacht. Tatsächlich ist ein entsprechendes Projekt, bei dem die Räume hinter dem bestehenden Gebäude weitgehend im Hang verschwinden würden, in Planung.
Ich schlage einen Rundgang durch das Haus vor und frage jemanden, ob wir kurz durch das Haus gehen könnten, ich hätte hier einmal gearbeitet und mit uns sei auch der damalige Gestalter des Gebäudes. Als ich meinen Namen nenne, horcht eine Mitarbeiterin auf. Sie sei Brigitte, sie hätte vor vielen Jahren im Labor ihre Lehre als Chemielaborantin gemacht und erinnere sich an mich …
So kommen wir unverhofft zu einer kundigen Führung durch das Haus und erfahren einiges über die aktuelle Forschung. Unterdessen ist es spät geworden. Bevor wir zur Bushaltestelle beim Hotel Kastanienbaum zurückgehen – der Regen hat, oh Wunder, unterdessen aufgehört –, gehe ich mit meiner Frau zum kleinen Hafen neben dem Bootshaus, wo das Forschungsschiff liegt, welches ich im Jahre 1988 aus meinem Einrichtungskredit für die neue ETH-Professur beschafft hatte. Sibyl als Patin hatte es damals im Rahmen einer feierlichen Zeremonie mit einer Flasche Champagner auf den Namen Thalassa (altgriechisch: das Meer) getauft und danach (selbstverständlich in Originalsprache) aus der Odyssee zitiert. Dann tauchte überraschend Poseidon mit seinem Dreizack aus dem Wasser auf forderte von der Taufpatin seinen Tribut in Form eines Kusses.
Seither hat die Thalassa Poseidon treu gedient und dazu beigetragen, dass wir heute unsere Seen besser verstehen und damit auch besser zu schützen wissen. – Doch darüber ein anderes Mal mehr.