Bei aller radikalen Neu-Inszenierung und Kürzung von 3 ½ Stunden auf etwa die Hälfte ist Holten dem Original in wesentlichen Aspekten treu geblieben. Es macht Sinn, einen modernen Don Juan als berühmten Künstler zu imaginieren, der seine gestörte Beziehung zu sich und der Welt in künstlerische Werke ummünzt. Auf den drei Monitoren, an welchen er in seinem weitläufigen Studio, einer ehemals industriell genutzten Halle, arbeitet, sind die drei Worte zu lesen: „Women“, „Project“ und „The“. Mit Frauen hat er Sex, Männern bietet er den Kampf an – ausser sie bewundern ihn.
Besetzung und Neuinterpretation
Die von Juan (Christopher Maltman) unter den Augen des Publikums verführten Frauen ihrerseits zeigen sich von dessen Potenz keineswegs nur blind und passiv hingerissen. Gierig gibt Anna sich ihm hin, ist auch Zeugin seiner tödlichen Auseinandersetzung mit ihrem Vater. Die geschmeichelte Zerlina hofft, als Zugabe zum Abenteuer auch noch einen kleinen Job zu erhalten. Leporello (Mikhail Petrenko) ist Juans Assistent. Getreulich dokumentiert er der die Liebesgeschichten seines Chefs. „All recorded in High Definition“, erklärt er der durch ihre Bindung an den Geliebten gefährdeten Elvira (Elizabeth Futral, USA) – und gibt ihr Einblick in die Sammlung.
Don Giovanni gibt rauschende Parties in seinem Loft, wo an den Wänden überlebensgroß die Porträts seiner Eroberungen hängen, „rider e scherzar“ ist mit „Laugh and smoke, drink and fuck“ übersetzt.
Andere Da Ponte-Texte sind relativ originalgetreu übernommen. Was etwa die gekränkte Donna Anna auf der Polizei zu Protokoll gibt, folgt eng ihrem unschuldigen Bericht im italienischen Libretto, inszeniert das Originalzitat jedoch als Lüge.
Die Musik bleibt
Bei allen Veränderungen – die Musik bleibt. Offenbar war es der Musikdirektor E.T.A. Hoffmann, der als erster den „Don Juan“ als „Oper aller Opern“ bezeichnet hat. In seiner Begeisterung für Mozart ersetzte er 1805 seinen dritten Vornamen „Wilhelm“ durch „Amadeus“. In seiner „Don Juan“-Erzählung (1813) „aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten“ findet sich der Ich-Erzähler durch die Oper „in eine Art Somnambulism“ versetzt. Gerade auf dem Hintergrund der radikal modernisierten und aktualisierten Erzählung und des O-Tons der Großstadt begeistert Mozarts Musik wie eh und je.
Don Juan sei keine zeitabhängige Figur, seine „sinnliche Genialität“ lebe „auf Grund des abstrakten Charakters der Idee ewig zu allen Zeiten“, schrieb Søren Kierkegaard 1843 („das Musikalisch-Erotische“ in: „Entweder-Oder“). Don Juan sei „die Inkarnation des Fleisches oder die Begeisterung des Fleisches aus des Fleisches eigenem Geist“. Er lasse sich „nicht als Verführer darstellen …, außer mit Hilfe der Musik, es sei denn, daß man sich … in das Psychologische einlassen will, welches aber wieder nicht leicht ein dramatisches Interesse gewinnen kann.“
Regie und Orchester
Kasper Holten, 1973 geboren, hat, seit er mit elf im Wohnzimmer seiner Eltern mit Puppen und Grammophon „Die Walküre“ aufführte, mehr als 50 Opern inszeniert. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er als künstlerischer Direktor des Royal Danish Theatre. „Juan“ ist sein erster Film, gedreht in 16mm. Als Orchester wirkt das Concerto Copenhagen – während der Ouvertüre kann man es unter Lars Ulrik Mortensen spielen sehen, während einige der Hauptfiguren samt Juan im Publikum sitzen. Zur Lebendigkeit der Vorführung trägt nicht zuletzt bei, daß vielfach direkt auf dem Set, vor laufenden Kameras, gesungen worden ist.
Nachdenken über Kunst
Holtens „Juan“ reflektiert auch sein eigenes Schaffen. Wie weit sind Egozentrik und Beziehungsdelinquenz Voraussetzungen künstlerischer Produktivität? Muss, wer Kunst hervorbringen will, sich und andere verraten? Wie weit wird dadurch die Qualität eines Werks beeinträchtigt? Weder Juans Frauenporträts noch das, was Juan auf Grund von Leporellos uferloser filmischer Materialsammlung hervorbringt, erscheint besonders interessant. Juan sei ein Abbild der Kraft, die einen zu Eroberungen und Erfolgen antreibe, kommentiert Kasper Holten, die einen zum Beispiel antreibe, Operndirektor zu werden und Filme zu machen – die einen aber auch zum destruktiven und selbstzerstörerischen Narziß werden lasse. Für dieses Mal ist er dem zum Glück entgangen. Bei aller Reflexion lässt er die Musik bedingungslos führen. Seine Verfilmung des „Don Giovanni“ interessiert, verzaubert, verführt, ohne daß man sich hinterher betrogen fühlt.
Juan wird folgendermassen gezeigt:
20.10.11 bis 01.11.2011 Luzern: Stattkino
03.11.11 bis 09.11.2011 Biel: Lido
20.11.11 bis 23.11.2011 Solothurn: Kino Uferbau
15.12.11 bis 04.01.2012 Bern: Kino im Kunstmuseum