Als ich knapp zehn Jahre nach Auflösung der Sowjetunion in Moskau als Korrespondent für das Schweizer Fernsehen tätig war, mussten wir im Schnitt etwa jedes zweite Projekt nach vorbereitenden Recherchen aufgeben, weil keine Drehbewilligungen zu bekommen waren oder weil die Angefragten, unter ihnen „Liberale“, keinen Grund sahen, einem Schweizer Fernsehteam Red und Antwort zu stehen.
Moskau-Korrespondenten zu Stalins Zeiten
Hinweise auf die zentrale Rolle der Medien in einem modernen internationalen Informationsaustausch fruchteten meist wenig. Selbst in Bosnien, Kroatien und Kosovo war es leichter als im Russland Jelzins und Putins, Leute vor die Kamera zu bekommen. Keine der Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens hatte zwar wirklich demokratische Strukturen und Traditionen. Dennoch wurde man meist verstanden, wenn man beim Ersuchen um Interviews und Drehbewilligungen das Argument der Informations- und Pressefreiheit vorbrachte.
Nicht so in Russland. Im Sowjetrussland Stalins gab es erst recht keine Freiheiten für die internationale Presse. Korrespondenten wurden als mögliche Spione betrachtet. Sie durften die Hauptstadt kaum je verlassen – und falls doch, nur mit Sonderbewilligung. Ihre Texte mussten die Korrespondenten wie selbstverständlich der Zensur vorlegen.
Ihre Möglichkeiten, sich über die politische und wirtschaftliche Entwicklung in ihrem Gastland zu informieren, waren minimal. Sie konnten kaum jemanden interviewen oder zum Beispiel zu einem Gespräch in ihr Büro oder Hotelzimmer einladen. Kaum jemand wagte dazu ja zu sagen, denn die Korrespondenten wurden ständig überwacht und wer dennoch mit ihnen sprach, musste mit einer Festnahme rechnen.
Längere Leine für Steinbeck und Capa
Das war nicht nur in der kommunistischen Sowjetunion so, das hat alte russische Tradition. Schon 1634 beklagte sich ein gewisser Adam Olearius, ein deutscher Gelehrter und Diplomat, dass man als Ausländer in Moskau mit Russen kaum ins Gespräch komme, weil man ständig von der Geheimpolizei überwacht werde. Und so war es auch zu Stalins Zeiten: Für die Korrespondenten in Moskau gab es als Informationsquellen bloss die offiziellen Verlautbarungen, unter anderem in der „Pravda“ („Wahrheit“). Im Übrigen widmeten sich die meisten der „Kremlologie“ , der Analyse der Rangordnung der an Paraden und offiziellen Festakten Erschienenen. Aus diesem Kaffeesatz zogen sie ihre oft wenig fundierten Schlüsse.
Umso grösser war daher das Interesse und das Erstaunen, als es dem Pulitzer-Preisträger, Romancier und Kriegsberichterstatter John Steinbeck 1947 gelang, zusammen mit dem Magnum-Gründer und Fotografen Robert Capa, während mehrerer Woche durch die Sowjetunion zu reisen und einigermassen unbehelligt über das zu berichten, was er wünschte: Über das Bauernleben in der Ukraine, über das noch fast vollständig in Trümmern liegende Stalingrad und über „den zweiten Himmel“, nämlich Georgien mit seinen Dichtern, Trinkern und Musikern. In der berühmten Stalingrader Traktorenfabrik durfte Capa dann freilich nicht fotografieren, was ihn zutiefst erboste und enttäuschte.
Mit Witz – und Lücken
Sonst aber gewährte man den beiden Amerikanern (letzterer ungarischer Herkunft) relativ freien Einblick ins sowjetische Alltagsleben. Steinbeck hatte gelobt, ehrliche Reportagen zu schreiben, weder ablehnend noch wohlwollend. Es würde nicht kommentiert und es würden keine Schlüsse gezogen. Es würde einfach berichtet, versicherte er bei der Antragsstellung den zuständigen Sowjetbehörden.
Dieses aus heutiger Sicht wohl etwas naive Konzept verfing: Steinbeck und Capa durften eine Reise machen, von denen die in Moskau isolierten Korrespondenten von „Time“, „Herald Tribune“ und „Christian Science Monitor“ nur träumen konnten. Entstanden ist ein Werk, das mit Verstand und Witz ein wohl im Ganzen recht zutreffendes Bild des damaligen Sowjetlebens zeichnet.
Für Stalin ein paar Zeilen
Erstmals ist nun „A Russian Journal“ auf Deutsch erschienen – unter dem Titel „Russische Reise“. Abgedruckt sind darin auch zahlreiche Fotos von Capa, die übrigens fast alle die Zensur passierten – freilich erst nach tagelanger Prüfung in letzter Minute. Schade nur, dass die Druckqualität der Bilder im Buch sehr zu wünschen übrig lässt.
Die Schilderungen Steinbecks bieten auch heute noch interessante Lektüre. Steinbeck zeigt sich der russischen Wirklichkeit sehr offen gegenüber und erfährt so mehr als viele seiner Zeitgenossen, die alles per se als Propaganda und Manipulation abtaten. Das Buch hat freilich Lücken: Stalin ist Steinbeck absurderweise nur ein paar Zeilen wert. Über den Personenkult Stalins heisst es verharmlosend: „Uns fiel keine Person der Weltgeschichte ein, die bereits zu Lebzeiten derart verehrt wurde.“
Kein Auge für den Terror
Und die Ermordung von Millionen von Oppositionellen (nicht zu sprechen von vermeintlich Oppositionellen ) durch Stalin wird im Buch gar ganz ausgeklammert. Steinbeck wie auch Capa waren linksgerichtet, wenn auch auf eine amerikanisch milde Art. Aber letztlich leiden sie auch sie an der Krankheit intellektueller Linker jener Zeit: In ihrem Bestreben, nicht alles, was sowjetisch ist, zu verurteilen und abzulehnen, sind sie auf einem Auge blind. Das ist ein Umstand, den man bei der Lektüre von „Russische Reise“ im Hinterkopf behalten sollte. Aber lesenswert ist das wunderbar geschriebene Buch allemal.
John Steinbeck: Russische Reise Mit 69 Fotos von Robert Capa Edition Büchergilde, Frankfurt/Main 29.90 Franken ISBN 978-3-940III-84-5