Die Verleumdungen, die Hassbotschaften und die Lügen haben sich doch nicht ausbezahlt. Jair Bolsonaro, den seine Frau als «Jesus Christus auf dem Präsidentenstuhl» bezeichnete, wird Brasilien keine weiteren vier Jahre regieren. Doch Lula da Silva, der Sieger, steht vor einer zermürbenden, schwierigen Zeit.
Viele hatten befürchtet, Bolsonaro werde während einer zweiten Amtszeit die Demokratie aushöhlen und Brasilien in Richtung Diktatur steuern. Der 67-Jährige gilt als ein Verharmloser der brasilianischen Militärdiktatur, der zwischen 1964 und 1985 Tausende Menschen zum Opfer gefallen sind.
Bolsonaro feierte offen den 31. März 1964, den Tag des Militärputsches, der den Beginn der Militärdiktatur markierte. Dieser Putsch habe «Brasilien gerettet», liess er seinen Verteidigungsminister verbreiten. Die brasilianische Militärdiktatur sieht Bolsonaro als Modell für «sein» Brasilien.
«Mit Wahlen erreicht man nichts»
Seine Rhetorik offenbart ein rechtsextremes Weltbild. Dieses wurde ihm nun doch zum Verhängnis. Immer wieder stellt er die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage. Die Anwendung von Gewalt schliesst er nicht aus. Als Abgeordneter hatte er einst erklärt, «mit Wahlen erreicht man nichts». Man komme nur voran, wenn man, die «Arbeit der Militärgeneräle vollendet und 30’000 Korrupte umbringt».
Viele Brasilianer und Brasilianerinnen schienen vergessen zu haben, was die Generäle damals angerichtet hatten. Doch eine knappe Mehrheit vergass eben doch nicht.
À la Trump?
Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass Bolsonaro das Feld kampf- und geräuschlos räumt.
Viele fürchten, dass er à la Trump die Bevölkerung aufwiegeln wird. Er erklärte immer wieder: «Wenn ich verliere, dann liegt Wahlbetrug vor.» Die Armee befindet sich diskret in Alarmbereitschaft. Gewaltsame Proteste wie am 6. Januar 2021 in Washington sind nicht ausgeschlossen. Selbst ein Bürgerkrieg nicht.
Millionen und Abermillionen rabiater Bolsonaro-Anhänger sind bewaffnet. Wie werden sie sich verhalten? In den sozialen Medien zirkuliert ein Video von Carla Zambelli, einer Verehrerin von Bolsonaro, wie sie am Samstag einen Lula-Anhänger mit einer Pistole bedroht. «Bolsonarismus in Reinkultur», kommentiert ein User.
Möglich ist, dass Bolsonaro das knappe Ergebnis anfechten und eine Nachzählung verlangen wird. Er wird sicher «Zeugen» finden, die «Wahlbetrug» beobachtet haben.
Keine Unterstützung des Militärs
Wie wird sich das Militär verhalten? Trotz Bolsonaros Nähe zu den Generälen, glauben die meisten Beobachter nicht, dass sich die Armeeführung – sollte Bolsonaro einen Aufstand planen – auf seine Seite stellt. Grund dafür könnte die enge Verflechtung des brasilianischen Militärs mit den USA sein.
Schon während des Wahlkampfs hatte Bolsonaro von einer «kommunistischen» Verschwörung gesprochen. Die «Hölle» habe sich gegen ihn erhoben. Zu seinen Feinden gehört das oberste brasilianische Gericht, viele Parlamentarier, Menschenrechtsorganisationen – und natürlich die Medien.
Schmutzig, vulgär
Bolsonaro hatte im ersten Wahlgang vor einem Monat 43,2 Prozent und Lula 48,4 Prozent der Stimmen erhalten. Der bisherige Präsident und seine Anhänger mussten deshalb alles daran setzen, um den Rückstand wettzumachen. Und dafür war ihnen jedes Mittel recht. Brasilianische Politologen bezeichneten diese Wahl als die wichtigste seit dem Ende der Militärdiktatur. 157 Millionen Menschen waren wahlberechtigt.
Der Wahlkampf gehörte zum Schmutzigsten und Vulgärsten, was die Welt je gesehen hat. Bolsonaro warf Lula vor, mit jungen Mädchen Orgien zu zelebrieren, Kindern die Zähne ausreissen zu lassen, damit sei beim Oralsex die Männer nicht verletzten. «Wir müssen unsere Kinder aus den kommunistischen Klauen befreien», hiess es. Lula habe mit dem Teufel einen Pakt geschlossen und diesen mit seinem Blut unterschrieben. Es gebe Beweise dafür.
«Gott hat mich erwählt»
Bolsonaro selbst gab sich von Gott gesandt. «Gott hat mir erklärt, dass ich das Land retten muss», liess er verlauten. Seine 27 Jahre jüngere, dritte Frau Michelle verglich ihren Mann in schleimigen Auftritten mit Jesus Christus. Die Brasilianerinnen und Brasilianer hätten die Wahl zwischen dem Teufel und Jesus. Wer Lula, den Teufel, wähle, werde das «in ewiger Verdammnis büssen». Immer wieder sei Lula bei «satanistischen Zeremonien» gesehen worden.
Lula wolle harte Drogen legalisieren und sie seinen Anhängern verteilen, hiess es. Er wolle Kirchen schliessen, LGBTQ-Kreise mit Millionen fördern und jede Abtreibung mit tausend Dollar vergüten. Sogar die «Vielweiberei» wolle er fördern. Evangelikale Pastoren warfen Lula vor, er wolle den Inzest zwischen Vätern und Töchtern legalisieren.
Dubiose Rolle der Evangelikalen
Unterstützung erhielt Bolsonaro von den Evangelikalen, die in Brasilien immer mehr Macht haben und ihr aus der Zeit gefallenes Weltbild mit Hilfe des Präsidenten zementieren wollen. Vielen der angeblichen Christen war jede Lüge, jedes unchristliche Vorgehen nicht zu schade, um «ihrem» Präsidenten zum Sieg zu verhelfen. Die brasilianischen Evangelikalen haben in diesem Wahlkampf jede Unschuld verloren.
Der eher linksgerichtete Lula da Silva schien dieser Wucht niederträchtiger Propaganda nicht gewachsen zu sein. Sein komfortabler Vorsprung, den die Meinungsforschungsinstitute noch im Sommer registrierten, schmolz auf 50,9 Prozent zusammen. Zwar versuchten gegen den Schluss des Wahlkampfs auch einige von Lulas Helfern, Bolsonaro mit Niederträchtigem einzudecken, doch nie in dem Ausmass, wie es die Bolsonaro-Truppe tat.
580 Tage im Gefängnis
Lula wurde immer wieder vorgeworfen, dass während seiner achtjährigen Regierungszeit Korruption in grossem Stil betrieben worden sei. Stichwort: Odebrecht. Tatsächlich kam es damals zu massiver Korruption. Lula selbst jedoch konnte nichts Gravierendes nachgewiesen werden. Trotzdem gelang es seinen Gegnern, ihn für 580 Tage ins Gefängnis zu stecken. Deshalb durfte er 2018 bei den Präsidentschaftswahlen nicht als Gegenkandidat von Bolsonaro teilnehmen. Im November 2019 wurde Lula freigelassen.
Und Korruption gibt es auch auf der anderen Seite. Bolsonaros vier Söhne sind beim Kauf von über hundert Immobilien in Geldwäschergeschäfte verwickelt. Alles «Fake News», sagte Bolsonaro.
Tiefste Kaufkraft seit 28 Jahren
Doch es waren nicht nur Lügen, die dem jetzt erfolglosen bisherigen Präsidenten fast zum Sieg verholfen hatten. Im Juni, kurz vor den Wahlen hat er vielen eine Steuerermässigung gebracht. 20 Millionen Arme, die früher Lula wählten, erhielten eine Sozialhilfe von 100 Dollar. Ferner versprach er Millionen ein Weihnachtsgeld. Ob er dieses nach einem Sieg auch bezahlt hätte, ist eher unwahrscheinlich.
Die Bilanz seiner vierjährigen Amtszeit ist eher kläglich. Die Armut im Land wächst rasant, 30 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer hungern, die Kaufkraft ist die tiefste seit 28 Jahren. Der Regenwald wird abgeholzt. Zwei Milliarden Bäume wurden im Amazonas-Becken gefällt. Indios, die sich dagegen wehrten, wurden getötet. 700’000 Menschen starben, weil er Covid als ein «Grippchen» abtat. 35 Millionen wurden infiziert.
Aggressive, oft gewaltbereite Gegner
Zu Lulas Sieg trug wohl bei, dass sich in den letzten Tagen die Finanz- und Wirtschaftselite auf seine Seite geschlagen hat. Auch Simone Tebet, eine Mitte-Kandidatin, die im ersten Wahlgang antrat und als Drittplatzierte ausschied, hatte Lula ihre Unterstützung zugesagt.
Lula ist nicht zu beneiden. Die Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor. Fast die Hälfte der Wählerschaft hasst ihn bis auf die Knochen. Die Bevölkerung ist derart «emotionalisiert» und polarisiert, dass die Gräben in der Gesellschaft kaum zugeschüttet werden können. Der Wahlkampf hat ganze Familien auseinandergerissen. Im Senat haben Bolsonaros Anhänger zudem stark Boden gut gemacht und verfügen über eine Mehrheit.
Wie kann da der 77-jährige Lula regieren? Er steht vor aufreibenden Jahren. Zudem steht er unter Druck, rasch Ergebnisse zu liefern. Wie kann das gelingen? Wie kann er die Armut, die Arbeitslosigkeit reduzieren wenn ihm über 50 Millionen teils aggressiver, teils gewaltbereiter Gegner im Weg stehen?
Aktualisiert, Dienstag, 1. November
Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro hat sein Schweigen gebrochen. Nach seiner Niederlage war er abgetaucht.
Er dankte den Wählern, die für ihn gestimmt hatten, räumte die Niederlage aber nicht ein.
Doch er hat das Ergebnis auch nicht angefochten, wie einige befürchtet hatten.
Sein Stabschef sprach nach der kurzen Erklärung Bolsonaros davon, dass der «Prozess des Übergangs» der Macht beginnen werde.
Bolsonaro sagte, er habe sich immer an die Verfassung gehalten und werde sie auch weiterhin respektieren.
Luiz Inácio Lula da Silva, seinen Erzrivalen, der ihn am Sonntag knapp geschlagen hatte, erwähnte er mit keinem Wort.
Die Spannungen im Land hatten zugenommen, nachdem Bolsonaro mit der Tradition gebrochen hatte, seine Niederlage anzuerkennen.
Einige seiner Anhänger weigern sich, die Ergebnisse anzuerkennen und haben im ganzen Land Strassensperren errichtet.
Die Polizei teilte mit, sie habe bisher mehr als 300 Strassensperren geräumt, aber 267 blieben bestehen.