Mit seinen in Leuchtvitrinen präsentierten Grossbilddias erzählt der Kanadier Jeff Wall (*1946) auf hintergründige Weise Geschichten. In einer Arbeit thematisiert er das Geschichtenerzählen selber – in «Storyteller».
Die Fondation Beyeler zeigt in ihrer jüngst eröffneten Ausstellung über 50 in den letzten 40 Jahren entstandene Werke Jeff Walls – darunter auch «Storyteller» (1986). Dem beinahe viereinhalb Meter breiten Grossbilddia in Leuchtkasten mag eine Art Schlüsselrolle im Schaffen des Kanadiers zukommen. Das Werk ist so gross und dank des Leuchtkastens von solch frappierender Präsenz, dass, wer davor steht, selber Teil eines fast unendlich erscheinenden Bildraumes und gewissermassen Partner der darin agierenden Menschen wird.
Zu sehen ist eine Szene im Niemandsland zwischen Wäldchen und Autobahnbrücke. Da sitzen links drei Menschen; zwei hören gebannt einer Frau zu, die mit beschwörender Geste eine Geschichte erzählt. Sie erregt auch die Aufmerksamkeit zweier weiterer Personen, die auf einer bunten Decke im Gras liegen. Ganz rechts, im Schotter unter der Brücke, sitzt, scheinbar unbeteiligt, ein einzelner Mann. Die insgesamt sechs Personen, nach klassischen Kompositionsprinzipien in die Landschaft gesetzt, als sei’s von Manet, hätten sich eine lieblichere Gegend für ihre Freizeit aussuchen können, würde man meinen. Doch Jeff Wall lässt nicht nur eine Geschichtenerzählerin agieren, er wird mit «Storyteller» selber zum Erzähler einer vielschichtigen, mit kulturpolitischen Statements und Stolpersteinen gespickten Geschichte.
Die Menschen sind, sieht man genau hin, Angehörige der kanadischen First Nations und kaum freiwillig in dieser unwirtlichen Zwischenwelt. Sie fühlen sich möglicherweise an den Rand gedrängt, und da pflegen sie, für uns unhörbar, ihre archaische Kommunikationsform, jenes Geschichtenerzählen, wie es eher in der urtümlichen Welt des Wäldchens zu Hause ist als in jener der Autobahn und damit des technischen Fortschrittes. Doch so einfach ist die Sache nicht: Die sechs sind nicht einfach am Rand. Sie sind dazwischen. Ob sie, beidem zugehörig, heimatlos geworden oder mindestens in ihrer Identität in Frage gestellt sind? Wir können das nicht genau wissen. Auch der Künstler zeigt sich in «Storyteller» nicht als Wissender. Aber er stellt uns jene Fragen, die uns zum eigenen Positionsbezug anregen können. Er tut das, ohne plakativ zu werden. Gerade damit fordert er die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher zu genauem Hinsehen auf.
Panorama und Panorama
«Storyteller» ist (auch) ein Beitrag zur Frage, was das Bild vermag und wie es sich zu anderen Medien – konkret der Sprache – verhält. Auch in «Restoration» stellt Jeff Wall Schnittstellen zwischen Wirklichkeit und ihrer medialen Darstellung zur Debatte.
In «Restoration», dem 1993 in Luzern entstandenen Grossbilddia in Leuchtkasten, bildet Jeff Wall mit einer Panoramakamera das 1881 entstandene Rundbild von Edouard Castres ab. Castres und seine Mitarbeiter, darunter der junge Hodler, schildern die 1871 erfolgte Internierung und Entwaffnung der Bourbaki-Armee im Jura-Tal wirklichkeitsnah bis hin zum Aufbau echter Realien wie Zelten, Schlitten, Gewehren oder gar menschlichen Figuren. Doch bleibt Wirklichkeitsnähe nicht stets eine unerreichbare Illusion? Nicht nur Castres, auch Jeff Wall sucht das Unmögliche: Auch mit der Panoramakamera lassen sich nicht die ganzen 360 Grad des Rundgemäldes – eine in den Jahren seines Entstehens beliebte, an Jahrmarkt-Schaubuden gemahnende Publikumsattraktion – ins rund 5 Meter breite Dia übertragen, sondern nur rund die Hälfte. «Restoration» thematisiert damit u. a. auch die Nicht-Darstellbarkeit des Panoramas, wie das Panorama selber – allerdings ungewollt – die Nicht-Darstellbarkeit des damaligen Geschehens im Val de Travers thematisiert. Der heutige Stand der Dinge (Stichwort «Virtual Reality») hat Jeff Walls Werk allerdings längst eingeholt und der Diskussion um die Möglichkeiten des Bildes neuen Schub verliehen, dabei aber Walls Werk nicht obsolet gemacht, sondern, im Gegenteil, in seiner medialen Bedeutung unterstrichen.
Über diesen medienkritischen Ansatz hinaus widmet sich «Restoration» auch weiteren Motiven. So wenden sich auf dem Grossleuchtdia drei junge Frauen dem Panoramagemälde auf ihre Weise zu und kümmern sich als Restauratorinnen um Castries’ Installation, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung von Jeff Walls Werk in ruinösem Zustand befindet. Dass es nicht Models, sondern «echte» Restauratorinnen sind, ist Jeff Wall wichtig, ebenso, dass 1993, als «Restoration» entsteht, die Sanierung des Rundgemäldes erst diskutiert wird, dass Jeff Walls Werk also nicht einen aktuellen Zustand dokumentiert, sondern einen Blick in die Zukunft wirft. Wichtig ist dem Künstler überdies, dass es Frauen sind, die das von Männern erstellte und auch Männern gewidmete Kunstwerk pflegen. Dass dieses restaurierungsbedürftige Kunstwerk zum Thema der humanitären Mission der Schweiz gilt, gibt ihm eine zusätzliche mehrschichtige politische Dimension.
Die Toten reden
«Dead Troops Talk» (1994) – auch das ein Werk voller Stolpersteine, die unsere Wahrnehmung strapazieren – wirft nicht nur einen Blick in die Zukunft.
Das Werk erscheint insofern geradezu absurd, als es mit dem Mittel der gemeinhin als Abbild der Wirklichkeit geltenden Fotografie eine Welt des Jenseits schildert. Der ausführliche Titel des Werkes – («Tote Soldaten sprechen. Vision nach einem Angriff aus dem Hinterhalt auf eine Patrouille der Roten Armee, bei Moqor Afghanistan Winter 1986») – situiert das Geschehen zeitlich, politisch und räumliche präzise. Kriegsreportage? Nur scheinbar, denn die «toten» Soldaten reden nicht nur, sie lachen, telefonieren, einer hält seinem Kameraden eine tote Maus vors Gesicht – kurz: Sie sind zu neuem Leben erwacht. Was erzählen sie sich? Ihr Gespräch könnte, so Wall, «um die Umstände ihres Ablebens im Dienste eines problematischen militärischen Abenteuers kreisen». Genaues entzieht sich uns. Wir müssen uns selber die Geschichte zurechtlegen, ähnlich wie wir nicht wissen, was die Geschichtenerzählerin in «The Storyteller» zum Besten gibt.
«Dead Troops Talk» ist, wie grosses Kino, eine bis ins letzte Detail inszenierte Geschichte – bis hin zu den Moulagen der Verletzungen, bis zu den Einzelheiten der Kostümierung mit den Dreckspuren auf den Kleidern und bis zum im Atelier originalgetreu nachgebauten Schauplatz des Geschehens. «Dead Troops Talk» gibt sich wie eine echtes Kriegsgeschehen dokumentierende Fotografie. Doch Walls Grossbilddias sind von Dokumentar- oder journalistischer Fotografie weit entfernt – es sei denn, Jeff Wall ironisiere die Street Photography wie in «Mimic» (1982). Auch da greift Wall aber zur Inszenierung. Das Sujet – drei Menschen, die uns, vom Gegenlicht extrem geblendet, entgegentreten – entspricht seiner Beobachtung, doch er verlegt es aus kompositorischen Gründen an einen andern Schauplatz und liess die Szene nachspielen. In diesen Inszenierungen gibt es nichts Voreiliges und nichts Zufälliges, es sei denn, der Künstler lasse den Zufall mit der gleichen Akribie sprechen, wie er in den Inszenierten Bildern die Details sprechen lässt. Ein frühes Beispiel dafür ist «Milk» (1984): Ein einsamer, eher verwahrloster Mann sitzt auf dem Boden und verschüttet eine Tüte Milch so, dass der Eindruck entsteht, der Künstler zitiere ein Gemälde amerikanischer gestischer Malerei.
Singuläre Position
Als Jeff Wall Ende der 1970er Jahre mit seinen inszenierten Bildern in Leuchtkästen beginnt, ist er mit seinen Arbeiten im Kunstkontext vor allem Amerikas alleine: Im Umfeld der damals in Amerika dominierenden Konzeptkunst spielt Fotografie vor allem eine Rolle als Dokumentation oder als Zitat. Technische Perfektion ist kaum gefordert. Auch heute steht der Künstler mit seinem Werk in einem völlig geänderten Umfeld der Fotografie alleine da. In einer Welt der ungebändigten Massenproduktion meist unreflektierter Alltagsbilder wirkt sein Schaffen wie ein Plädoyer für das eigenständige fotografische Bild, das sich höchst komplexer technischer und ikonographischer Strategien bedient. Jeff Wall begleitet sein Werk in eigenen Texten mit philosophischen Reflexionen über den Stellenwert des Bildes in seinen Beziehungen zur Wirklichkeit und über seine Potenz im Konstituieren von Geschichten und ihrer eigenen Realität.
Jeff Wall und sein Kurator Martin Schwander, der dem Künstler schon 1993 im Kunstmuseum Luzern eine grosse Ausstellung widmete, verteilen die über 50 Werke so auf die elf Ausstellungsräume, dass sich Möglichkeiten zu spannendem formalem und inhaltlichem Vergleichen über die Jahrzehnte hinweg ergeben. Der Katalog beschreitet insofern ungewohnte Wege, als der Künstler, zur Selbstinterpretation aufgefordert, seine Bildkonzepte Raum für Raum schildert.
Jeff Wall, geboren 1946 in Vancouver, studierte an der University of British Columbia und am Courtauld-Institut of Arts in London und unterrichtete kurzzeitig an der Kunstakademie Düsseldorf als Nachfolger von Bernd Becher Fotografie. 1967 beginnt er als Fotokünstler zu arbeiten. Seit den späten 1970er Jahren entstehen meist grossformatige Fotografien, die Jeff Wall in Leuchtkästen präsentiert. Weltweite Ausstellungstätigkeit mit mehrfacher documenta-Beteiligung. Erste grosse Ausstellung in der Schweiz 1993 im Kunstmuseum Luzern. Weitere Ausstellungen u. a.: Deichtorhallen Hamburg, Kunstmuseum Wolfsburg, Schaulager Basel, Tate Modern London, MOMA New York, Stedelijk Museum Amsterdam, Louisiana Museum Humlebæk.
Fondation Beyeler Riehen. Bis 21. April. Kuratiert von Martin Schwander. Katalog 62 Franken.