Giorgia Meloni hat einen sauberen, souveränen Start hingelegt. Sie hat dem Faschismus abgeschworen und Putin verurteilt. Der Ukraine will sie weiter Waffen liefern. Brüssel deckt sie mit netten Worten ein. Ihre Kabinettsmitglieder umarmen sich. Also alles paletti? Oh nein! Ein Kommentar.
Meloni hat in den letzten Tagen vieles richtig gemacht. Sie gibt sich zahm, vernünftig, verantwortungsbewusst, unpolemisch.
Aber: Obwohl sie die Wahlen klar gewonnen hat, sind ihr die Hände gebunden. Sie gibt sich als starke Regierungschefin, doch stark ist sie nicht. Sie wird abhängig sein von vielen und vielem.
In der neuen Regierung lodert eine Menge Sprengstoff, der schon sehr bald losgehen könnte.
Meloni, die Gefangene
Als sie ihre Regierung den Medien vorstellte, standen neben ihr «Lega»-Chef Matteo Salvini und der frühere vierfache Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Die beiden lächelten immer wieder süffisant, herablassend, arrogant. Als würden sie sagen: «Ja, Mädchen, wir zeigen es dir dann schon.» Immer wieder kicherte Berlusconi in sich hinein oder grinste sein traditionelles Grinsen. Ein Auftritt, der der neuen Regierungschefin wenig Gutes verspricht.
Meloni, die klare Walsiegerin, ist eine Gefangene von Salvini und Berlusconi. Allerdings nicht nur: Sie ist auch eine Gefangene neofaschistischer Kreise. Ebenso eine Gefangene von Anti-Europäern, von Putin-Verehrern und ultrakatholischen Besessenen, vertreten durch den neuen Präsidenten der Abgeordnetenkammer.
Vor einer schlimmen Zerreissprobe
Ihre Regierung sieht nicht so aus, wie sie es sich wünschte. Sie wollte ein Kabinett mit kompetenten Politikern und Fachleuten. In Wirklichkeit sitzen jetzt viele unbedarfte Menschen am Kabinettstisch, die von ihrem Fach kaum eine Ahnung haben, aber der richtigen Parteifraktion angehören. Meloni konnte sich gegenüber Salvini und Berlusconi nur teilweise durchsetzen.
Sie hat sich bisher überraschend klar auf die Seite des Westens, der USA, der Nato und der Ukraine gestellt. Doch ihre beiden Koalitionspartner Salvini und Berlusconi hegen offene Sympathien für Putin. Salvini fordert eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Und Berlusconi, der nach eigenen Angaben mit dem Kreml-Herrscher nach wie vor «süsse Briefe» austauscht und kürzlich von Putin 20 Flaschen Wodka erhielt – dieser Berlusconi gibt dem Westen und der Ukraine unverhohlen die Schuld am Krieg. Das wird die Regierung eher früher als später in eine schlimme Zerreissprobe stürzen.
Salvini braucht Klamauk
Dass Berlusconi und Salvini stillhalten werden, ist nicht zu erwarten. Salvinis Partei, die «Lega», ist dabei, krachend zusammenzubrechen. Sie, die in Umfragen einst 35 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter sich wusste, ist bei der Wahl am 25. September auf 8 Prozent abgerutscht.
Salvini muss also wieder provozieren, sich abgrenzen von den anderen, um auf sich und seine Lega aufmerksam zu machen. Er muss Meloni herausfordern, ihr Paroli bieten, sie vor den Kopf stossen, ihr Ultimaten stellen und seinen ganzen rechtspopulistischen Kram wieder hervorzaubern. Er braucht Klamauk. Nur dann besteht Hoffnung, dass seine erschlaffte Partei wieder zulegt.
«Mein Mädchen»
Auch Berlusconis einst staatstragende Partei, die fast 20 Jahre lang regierte, ist auf nicht einmal 8 Prozent abgestürzt. Doch bei ihm kommt etwas dazu. Er, der damalige Ministerpräsident, hatte 2008 Giorgia Meloni zur jüngsten Ministerin Italiens gemacht: zur Jugend- und Sportministerin. Sie war, für Berlusconi, wie Helmut Kohl gesagt hätte, «mein Mädchen».
Und dieses Mädchen ist es nun, das dem 86-Jährigen den Marsch bläst. Das erträgt er nicht. Dass sie jetzt sogar seine enge Kumpanin Licia Ronzulli nicht zur Ministerin erkor, hat ihn nach Angaben von Römer Politkreisen «schwerstens gekränkt». Meloni wird keinen harmonischen Umgang mit Berlusconi haben. Er gehört zu den Menschen, die nichts vergessen und die sich rächen.
Ungestraft provozieren
Schon kurz nach Antritt der neuen Regierung hat Salvini begonnen, eines seiner Lieblingsthemen zu bewirtschaften. Er will den NGOs erneut drohen, die italienischen Häfen für Flüchtlingsboote zu sperren. So, wie er es während seiner Zeit als Innenminister getan hat – und viel Entrüstung erntete.
Doch Meloni ist auf Salvini und Berlusconi angewiesen. Allein ist ihre Partei, die «Fratelli d’Italia», zu schwach, um zu regieren. Das wissen die beiden Koalitionspartner und können deshalb ungestraft wüten und provozieren.
Verharmloser des Faschismus
Und wie steht es ideologisch? Hat sich Meloni wirklich endgültig vom postfaschistischen Gedankengut verabschiedet? Nicht alle glauben ihr das. Ist ihre Absage an den Faschismus nur Fassade? Seit ihrem 15. Lebensjahr ist sie von postfaschistischen Kreisen sozialisiert worden. Kann man das so schnell über Bord werfen? Noch kürzlich zeigte sie offene Nähe zu rechtsradikalen Bewegungen.
Mit der Wahl des neuen Senatspräsidenten Ignazio La Russa hat die neue Regierung ein wichtiges Zeichen gesetzt. La Russa gilt als Verharmloser des italienischen Faschismus. «Wir sind alle Erben Mussolinis», sagt er. Immer wieder rutschen ihm Mussolini-freundliche Sätze heraus. Er, ein HSG-Absolvent, ist der Mann, der zuhause eine Sammlung von Mussolini-Büsten und -Skulpturen ausstellt. Benito Mussolini habe doch vieles richtig gemacht, sagt er. (La Russas zweiter Vorname lautet übrigens «Benito»).
Postfaschistischer Ballast
Wurde Meloni zur Wahl La Russas gezwungen? Hätte sie lieber einen Gemässigteren gehabt? Meloni ist von La Russa abhängig. Er war es, der zusammen mit ihr 2012 die Berlusconi-Partei verlassen hatte, um die weiter rechts stehende, «postfaschistische», «rechtsradikale» Partei «Fratelli d’Italia» zu gründen. Lange Zeit stand Meloni im Schatten La Russas.
Selbst wenn sie definitiv zu Kreuze gekrochen wäre und endgültig mit dem Postfaschismus gebrochen hätte, spriessen in ihrem Gefolge noch immer starke neofaschistische und rechtsextreme Kräfte – Kräfte, die sie beeinflussen wollen und auf die sie zum Teil angewiesen ist. Die zierliche, 1.63 Meter grosse Frau schleppt einen schweren Rucksack mit postfaschistischem Ballast mit sich.
Der verrückte Verschwörungserzähler
Verhindern konnte oder wollte sie auch Lorenzo Fontana nicht. Er ist der neue Präsident der grossen Kammer, der Abgeordnetenkammer. Portiert wurde er von seinem Freund und Trauzeugen Matteo Salvini. Fontana, ein irrer, ultrakatholischer Fanatiker, ein Putin-Verehrer, der Kontakte zu rechtsextremen europäischen Parteien pflegt, verbreitet die verrücktesten Verschwörungsgeschichten.
Die weisse Rasse sei in Gefahr und müsse sich wehren. Deshalb müssten Flüchtlinge ausgeschafft werden. Ziel der ankommenden Muslime sei es, das Christentum zu zerstören. Er ist gegen alles «Multikulturelle», gegen Homosexuelle und gegen Abtreibung. Laut der Zeitung «La Repubblica» betet er 50 Mal am Tag.
Mit ihnen hat sie es jetzt zu tun
Und wieder: Wurde Meloni zur Wahl Fontanas gezwungen oder hat sie ihn gewollt?
Man stelle sich vor: Ein Senatspräsident, der zweitwichtigste Mann im Staat, der neben Mussolini-Statuen schläft – und ein Präsident des Abgeordnetenhauses, der kranke Verschwörungsgeschichten von sich gibt – mit ihnen hat es Meloni jetzt zu tun.
Giancarlo Giorgetti, ein Lichtblick
Ein Coup ist ihr gelungen. Als Wirtschaftsminister hat sie Giancarlo Giorgetti ernannt. Er, ein sehr gemässigter Lega-Mann, war schon Wirtschaftsminister unter Draghi und gilt als Europa-freundlich. Die Ernennung Giorgettis erspart Brüssel viele Ängste, denn in allen drei Regierungsparteien gibt es starke anti-europäische Strömungen. Einige wollen gar den Euro abschaffen und zur Lira zurückkehren.
Die in rechtspopulistischen italienischen Kreisen immer wieder aufflackernde Anti-EU-Gesinnung wird Meloni die Regierungsarbeit nicht erleichtern. Salvini hatte versucht, seinen parteiinternen Widersacher Giorgetti zu verhindern. In diesem Fall hat sich Meloni durchgesetzt.
Sechs Millionen leben in «schwerer Armut»
Grosse Gefahr lauert jetzt von der Strasse. Italien ist ein wirtschaftlich krankes Land. Mario Draghi war es gelungen, die Wirtschaft etwas zu stabilisieren. Und vor allem gelang es ihm, Hoffnung zu schüren, dass es besser würde.
Diese Hoffnung haben nur noch wenige. Die Armut wächst: Fast sechs Millionen Italienerinnen und Italiener leben nach jetzt veröffentlichten Angaben des statischen Amts in «schwerer Armut». Das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung und eine Million mehr als vor drei Jahren. Dazu kommen noch weitere zehn Prozent, die «einfach arm» sind.
Vor einer harten Landung
Der Staat hat kein Geld, die Staatsschuld ist gigantisch, die Preise steigen, Sozialleistungen werden zum Teil abgebaut oder nicht ausbezahlt. Die Gefahr von sozialen Unruhen ist gross. Das wird ausländische Investoren, die mit Draghi wieder ins Land gekommen sind, abschrecken. Auch die Gewerkschaften werden Meloni das Leben schwer machen. Italien könnte sehr unruhigen Zeiten entgegengehen.
Und wie reagieren dann die Alpha-Tiere der Drei-Parteien-Koalition? Sie haben in der Vergangenheit gezeigt, dass die Befriedigung ihres Egos wichtiger ist als das Wohl des Volkes.
Schneller als wohl gedacht, könnte Meloni von der Wirklichkeit eingeholt werden und hart auf dem Boden aufschlagen. Sollte man schon Mitleid mit ihr haben? Zuerst muss sie beweisen, dass sie nicht mehr die streitsüchtige, geifernde, schrille und rüpelhafte Person ist, als die sie sich immer wieder gab. Und sie muss beweisen, dass sie ein für alle Mal dem Postfaschismus den Rücken kehrt – und dass sie die rechtsextremen Kräfte in ihrer Entourage in den Griff bekommt. Das wird nicht einfach sein.