Zehntausende Rechtsradikale werden Anfang Oktober in die Lombardei strömen. Mit ihrem Grossaufmarsch wollen sie Lega-Chef Matteo Salvini Absolution erteilen. Auch aus dem Ausland werden sie kommen, vielleicht auch Elon Musk, Viktor Orbán und Marine Le Pen. Inzwischen läuft die italienische Rechte Sturm. Die Staatsanwälte und Richter, die Salvini hinter Gitter bringen wollen, erhalten Morddrohungen. In den sozialen Medien tobt eine eigentliche Hasskampagne.
Das ist ein «Aufruf zum Lynchmord», kommentiert ein Richter in Palermo. Zeitungen sprechen von «entfesselter Wut» der rechtsradikalen Szene. Im Schussfeld stehen drei sizilianische Staatsanwältinnen und ein Staatsanwalt. Doch nicht nur die Staatsanwaltschaft ist Ziel von Anfeindungen und Einschüchterungsversuchen: Auch altgediente Richter, die den Prozess gegen Matteo Salvini führen, werden mit dem Tod bedroht. Da das Schlimmste befürchtet wird, wurde am Donnerstag ein Sicherheitsalarm ausgelöst. Die Staatsanwälte und die Richter wurden zusammen mit ihren Familien unter Polizeischutz gestellt. «Es besteht ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko», sagte Lia Sava, die erste Generalstaatsanwältin von Palermo, die sexistisch aufs Übelste angegriffen wird.
Alles begann im August 2019. Salvini war damals Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung des «Fünf-Sterne»-Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Als solcher versuchte er sein laut hinausposauntes Versprechen wahr zu machen und schloss die Grenzen für Migranten und Flüchtlinge. Es war die Zeit, als jährlich Tausende über das Mittelmeer kamen und in Italien anlegen wollten.
So kam es, dass im August 2019 das spanische Rettungsschiff «Open Arms» 147 vorwiegend eritreische Flüchtlinge im Mittelmeer vor der libyschen Küste vor dem Ertrinken rettete und an Bord nahm. Anschliessend wollte das Schiff die Migranten auf der italienischen Insel Lampedusa an Land bringen.
Geballter internationaler Druck
Doch Innenminister Salvini verbot dem Schiff die Landung und sperrte den Hafen. Neunzehn Tage lang kreuzte die Open Arms kreuz und quer mit den völlig erschöpften, teils kranken Flüchtlingen vor italienischen Häfen. An Bord herrschten schreckliche Zustände. Viele der Migranten waren krank, dem Tode nahe. Es fehlte an allem: an hygienischem Material, an Medikamenten und Nahrungsmitteln.
Dann, am 20. Augst 2019, auf geballten internationalen Druck hin, wurde die Staatsanwaltschaft aktiv und liess die «Open Arms» beschlagnahmen, sodass das Schiff anlegen konnte.
Und jetzt fordert die Staatsanwaltschaft von Palermo sechs Jahre Haft für den Lega-Chef. Delikt: Freiheitsberaubung und Amtsanmassung in 147 Fällen. Darauf stehen in Italien bis zu 15 Jahre Haft.
Davide Faraone, der Fraktionsvorsitzende der Kleinpartei «Italia Viva» erklärte, Salvini sei schon immer unmenschlich gewesen. Er habe immer auf Kosten der Schwächsten eigene Propaganda betrieben.
Jetzt, nachdem der Antrag der Staatsanwaltschaft auf sechs Jahre Gefängnis veröffentlicht wurde, ging es los. Der Lega-Chef gibt sich als Märtyrer – eine Rolle, die Rechtsaussen-Politiker gerne spielen. Er bekenne sich «schuldig», spottete er, weil er die italienischen Grenzen geschützt habe. «Ich bekenne mich schuldig, Italien und die Italiener zu verteidigen. Ich bekenne mich schuldig, mein Wort zu halten.»
Die Lega bildet zusammen mit Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia» und der von Aussenminister Antonio Tajani geführten Ex-Berlusconi-Partei «Forza Italia» die italienische Regierung.
«Dieser verrückte Staatsanwalt»
Giorgia Meloni, die Salvini eigentlich nicht mag, bekundet ihre «totale Solidarität» mit ihm. «Es ist unglaublich, dass ein Minister sechs Jahre Gefängnis riskiert, weil er seine Aufgabe wahrnimmt, die Grenzen der Nation zu verteidigen, wie es das Mandat der Bürger verlangt», schrieb sie.
Und Salvini erhielt Unterstützung aus dem Ausland.
Elon Musk, der Freund von Trump, schrieb auf seinem X-Portal: «Gut gemacht, Matteo Salvini! Dieser verrückte Staatsanwalt sollte ins Gefängnis für sechs Jahre und nicht du.»
Der ungarische Präsident Viktor Orbán bezeichnete Salvini als «unseren Helden».
Auch Marine Le Pen verteidigt Salvini. «Wir sind vereint und mehr denn je an deiner Seite, Matteo», schrieb sie. Salvini bedankte sich auf der Plattform X und betonte, dass er weiterhin für seine Überzeugungen kämpfen werde: «Danke, Marine, ich werde nicht aufgeben. Vorwärts bis zum Ende.»
Salvini spricht von einem «politischen Prozess», der gegen ihn geführt wird. Er dankt den Fratelli und Forza Italia für ihre «grosse, liebevolle Solidarität». Ganz Europa, auch die Länder mit sozialistischen Regierungen, würden die Grenzen verstärkt bewachen und kontrollieren, betonte Salvini.
«Die Linke will sich rächen»
Seit je bezeichnen die italienischen Rechtsaussen-Politiker die Justiz als «von der Linken unterwandert». Diese Linke wolle sich jetzt an ihm rächen, sagt Salvini.
Doch: «Die Grenzen verteidigen ist kein Verbrechen.» Andrea Crippa, der stellvertretende Sekretär der Lega, meinte, es gebe «eine bestimmte Art orientierter Justiz, die offensichtlich ein Problem mit der Lega hat und die Salvini als Gefahr sieht». Sibyllinisch deutet Crippa an, dass es im Falle einer Verurteilung Salvinis im Volk zu Aufständen und Gewalt kommen könnte.
Auch Aussenminister Tajani, Vorsitzender der einstigen Berlusconi-Partei «Forza Italia», stellt sich auf die Seite von Salvini und macht der Justiz Vorwürfe. «Ich stimme nicht immer mit Salvini überein, aber dieses Mal hat er aus rechtlicher Sicht recht.» Der Antrag auf sechs Jahre Gefängnis sei «übertrieben». «Sicher gibt es eine politische Absicht seitens der Staatsanwaltschaft von Palermo», sagte Tajani.
«Sind wir in einer Bananenrepublik»
Auf der anderen Seite kritisiert keineswegs nur die Linke, dass sich die rechtsstehenden Politiker in ein Justizverfahren einmischen. «Sind wir eine Bananenrepublik, haben wir keine Gewaltentrennung?», heisst es. Die Linke findet es unakzeptabel, dass die Regierung massiven Druck auf die Justiz ausübt, um einen Schuldspruch zu verhindern. «Lasst die Justiz ihre Arbeit machen», heisst es.
Elly Schlein, die Vorsitzende des sozialdemokratischen «Partito Democratico» (PD) bezeichnet es als «äusserst unangemessen», dass sich Giorgia Meloni zu einem laufenden Prozess äussert. Die Exekutivgewalt der Regierung und die Judikative seien zum Schutz der Demokratie getrennt, doch die Regierung zeige, dass sie diesen Grundsatz nicht kenne.
In Kreisen der Cinque Stelle heisst es: «Was Matteo Salvini als Innenminister tat, war gesetzeswidrig: Er entführte Männer, Frauen und Kinder und liess sie in völliger Verzweiflung mitten im Meer zurück. Das ist kein korrektes Verhalten. Zuallererst muss das humanitäre Recht gerettet werden.» Auch Italiens Verband der Richter und Staatsanwälte wehrte sich gegen den «unzulässigen Druck», den rechtsgerichtete Regierungsvertreter auf die Justiz ausüben.
Sie nennen sich Patrioten
«Wir müssen gegen diese Richter und Staatsanwältinnen mobilisieren», forderte nun Salvini. Und er mobilisiert. Er ruft Tausende, Zehntausende auf, nach Pontida zu kommen, eine kleine Gemeinde bei Bergamo in der Lombardei. Dort, auf einer Wiese, findet jeweils am 6. Oktober das Parteifest der Lega statt. Zehntausende kommen. Letztes Jahr waren es 20’000. Sie nennen sich Patrioten, und die Wiese von Pontida bezeichnen sie als «heilige Erde».
Es ist kein Volksfest und keine Parteiveranstaltung. Der Aufmarsch gleicht einer Andacht, einem Hochamt. Die Teilnehmer sind ernst und ergriffen. Es geht um Würde und Stolz. Und es geht um Freiheit. Aus voller Kehle singen sie aus Giuseppe Verdis Nabucco «Va pensiero sull’ ali dorate» – die «Parteihymne» der Lega. «Oh, mia patria sì bella e perduta!» (Oh, meine Heimat, so schön und verloren!). Wer als Nicht-Lega-Anhänger, dabei ist, dem läuft es kalt über den Rücken.
Mit dem seit über 30 Jahren stattfindenden Treffen, das vom Lega-Urgestein Umberto Bossi ins Leben gerufen worden war, erinnern die Lega-Leute an den «Eid von Pontida». Am 7. April 1167 sollen hier die Lombarden geschworen haben, sich gegen Friedrich I. Barbarossa, den Kaiser des römisch-deutschen Reiches, aufzulehnen. Neun Jahre später wurde Barbarossa in die Flucht geschlagen.
Salvini, «der Erlöser»
Ziel der «Lega Nord» (so hiess die Lega früher) war zunächst eine Abspaltung Norditaliens vom übrigen Italien. Unter der Führung von Matteo Salvini entwickelte sich die Lega zu einer zum Teil klar rassistischen, rechtsextremen Partei. Heute kämpft die Lega vor allem gegen Migranten und für geschlossene Grenzen.
Und diesmal, am bevorstehenden 6. Oktober, soll die Kundgebung vor allem eine Massendemonstration für den angeklagten Matteo Salvini werden. Ein «Hochamt für den Lega-Chef», spottet ein Journalist. «Salvini wird als Erlöser gefeiert werden.»
Wer wird dabei sein? In Römer Journalistenkreisen schiessen die Spekulationen ins Kraut. Offenbar, was nicht bestätigt ist, wurde Elon Musk eingeladen, auch Viktor Orbán, Geert Wilders, Steve Bannon und Marine Le Pen, die schon letztes Jahr dabei war. Auch andere Rechtsaussen-Politiker sollen eine Einladung erhalten haben. Doch die AfD-Frau Alice Weidel wollen selbst die europäischen Rechtsextremen nicht – und Meloni schon gar nicht.
Das Urteil gegen Salvini wollen die Richter in Palermo im Oktober verkünden. Doch selbst wenn er verurteilt wird, ist nicht anzunehmen, dass er bald ins Gefängnis muss. Da Italien eben keine Bananenrepublik ist, kann der Verurteilte den Prozess weiter- und weiterziehen. Im Belpaese, mit seiner überlasteten Justiz, kann dies Jahre dauern.