Tintin und Milou, die millionenfach publizierten Comicstrip-Figuren, heissen auf Deutsch etwas einfältig „Tim und Struppi“. Man traut den deutschsprachigen Lesern offenbar nicht zu, den Namen Tintin nasal auszusprechen.
Doch diese Namensverdrehung ist für Tintin zur Zeit sekundär. Primär ist jetzt ein Justizverfahren, in dem der Comic-Held der Hauptangeklagte ist. Zwar hat er den ersten Prozess gewonnen, doch es droht neues Unheil.
Es geht um die gezeichnete Geschichte „Tintin im Kongo“. Sie wurde vor über achtzig Jahren erstmals publiziert. Und noch immer erhitzt sie die Gemüter. Der in Belgien lebende Kongolese Bienvenu Mbuto Mondondo verlangt ein Verbot des Buches. Es sei „rassistisch und ausländerfeindlich, eine Beleidigung für alle Kongolesen“. Der Kongolese mit dem schönen Vornamen "Bienvenu" hat selbst den belgischen König eingeschaltet. Von einer Antwort ist nichts bekannt.
Natürlich stand nicht Tintin vor dem Richter, sondern der Casterman-Verlag, der den Bildband publiziert. Gezeichnet wurde die Geschichte von Georges Remi, der sich den Künstlernamen Hergé zulegte (R.G. Remi Georges). Umfragen in Belgien zeigen: Nicht alle kennen den Namen des Königs, aber alle, auch Vierjährige, kennen den Namen Hergé.
Ins Lateinische übersetzt
24 Comicstrip-Geschichten hat Hergé im Laufe seines Lebens (1907 – 1983) veröffentlicht. Sie erreichten Millionenauflagen und wurden in 40 Sprachen übersetzt, sogar auf Khmer und Latein. „Tintin im Kongo“ ist das zweite Abenteuer des kleinen Reporters und seines intelligenten Hundes.
„Tintin au Congo“ erschien erstmals 1930 im „Petit Vingtième“ – einer Beilage der belgischen Zeitung „Le vingtième siècle“. Es war die Zeit, als der Kongo eine belgische Kolonie war. Seit 1877 gehörte er als Privatbesitz den belgischen Königen, 1908 wurde er aber dem Staat Belgien übergeben. Das Land wurde von den Kolonialherren aufs Brutalste und Unmenschlichste ausgebeutet.
Während dieser Zeit reisen also „le petit reporter Tintin" mit Hund Milou in den Kongo. Die Geschichte ist harmlos. Tintin hat den Auftrag, für verschiedene Zeitungen Reportagen zu schreiben. Doch einigen Gangstern aus Chicago gefällt das nicht. Sie wollen im Kongo illegal Diamanten fördern und fürchten, Tintin könnte sie auffliegen lassen. Natürlich scheitert der Versuch der Bösewichte, den kleinen Reporter umzubringen.
"Monsieur chien"
Doch nicht der Plot ist es, der seit jeher für Aufregung sorgt, sondern das Bild, das Hergé von den Schwarzen zeichnet. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hagelte es auch in Belgien Kritik. „Schon in den Fünfzigerjahren“, erzählt eine Belgierin, „behandelten wir den Bildband in der Schule. Der Lehrer machte uns auf rassistische Stellen aufmerksam." In allen Schulen ist dies wohl kaum geschehen.
Bienvenu Mbutu Mondondo wollte nun endlich Klarheit schaffen. Vor fünf Jahren schon zog er vor das "Tribunal de 1ère instance de Bruxelles" und verlangte ein Totalverbot. Oder zumindest müsse der Comic-Band mit einer Bauchbinde versehen werden, die auf den rassistischen Inhalt hinweise. Unterstützung erhielt Mondondo von mehreren belgischen und französischen Schwarzen-Organisationen. Doch die Mühlen der belgischen Justiz mahlen langsam.
Letzte Woche nun veröffentlichte das Brüsseler Gericht sein Urteil: Die Geschichte sei „nicht rassistisch“. Doch Mondondo will nicht aufgeben. Sein Anwalt sagt, er wolle die Sache weiterziehen, „soweit er könne“. Offenbar hat er Geld, um zu prozessieren.
Ist Tintin im Kongo rassistisch? Die Schwarzen werden als liebenswerte und freundliche Leute dargestellt. Doch sie sind auch etwas tollpatschig und unbeholfen. Sie können keine Verben konjugieren. Die Kinder wissen nicht, wie viel zwei und zwei ergibt. Den Hund Milou nennen sie „Monsieur chien“. Doch „Monsieur“ können sie nicht aussprechen, sie sagen „Missié“. Sie wissen nicht, was ein Grammophon ist und suchen im Gerät den Mann, dessen Stimme sie hören.
Und der weisse Tintin ist ihnen in allem überlegen. Er hat die guten Ideen, er weiss, wie man sich aus der Affäre zieht. Die Schwarzen bewundern ihn. Zwei Mal wird Tintin von vier Schwarzen auf einer Sänfte getragen, wie eben Kolonialisten getragen wurden.
Einmal fahren Tintin, Milou und ihr schwarzer Begleiter Coco über eine Eisenbahnschiene und bleiben stecken. Ein Zug naht und kollidiert mit dem Auto. Doch der Zug ist es, der aus den Schienen springt und schräg liegen bleibt. Jetzt sollten die Passagiere Hand anlegen und den Zug wieder auf die Schiene hissen. Diese Szene ist es, die am meisten Anstoss erweckt.
Tintin fordert die Schwarzen auf, an die Arbeit zu gehen. „Ich bin müde“, sagt ein Passagier. Milou, der Hund, faucht: „Los, ans Werk, Haufen von Schlafkappen.“ Tintin ruft einem chicen Schwarzen mit gelbem Rock zu: "Werden Sie jetzt Hand anlegen, ja oder nein?“ Antwort des Schwarzen: „Aber…aber, ich mich schmutzig machen.“
Man kann den Kongolesen Mondondo verstehen. „Es ist nicht zulässig“, sagt er, „dass Tintin die Dorfbewohner beschimpfen darf, sie, die gezwungen wurden, eine Eisenbahnlinie zu bauen. Es ist nicht zulässig, dass der Hund Milou sie als faul bezeichnen darf.“
Da wurden die Kongolesen von den Belgiern zu Zwangsarbeit verurteilt. Sie mussten im Dschungel Strassen und Eisenbahnen bauen. Unter miesesten Bedingungen mussten sie Bodenschätze schürfen. Die meisten wurden von den Kolonialherren geschlagen, viele wurden gefoltert und getötet. Und da werden sie als „Haufen von Schlafkappen“ bezeichnet. Das tut weh.
Eine Chance für Pädagogen
Und dennoch: Das Buch ist ein Produkt seiner Zeit. Das entschuldigt zwar nichts, aber erklärt einiges. Gezeichnet wurden da die Klischees von Afrika, die damals in der ganzen westlichen Welt weit verbreitet waren. „Das war eine Jugendsünde“, hatte sich Hergé später entschuldigt. Er, der nun wirklich kein Rassist war, sagte: „Ich wurde damals, 1930, mit Vorurteilen gefüttert. Ich kannte von diesem Land nur das, was mir die Leute damals erzählten… Wenn ich es nochmals machen würde, würde ich es sicher anders machen.“
Nicht alle Schwarzen sind so erbost wie der Kläger. „Das Buch bringt keine Schande über uns“, sagen sie, „sondern über die Kolonialisten. Es zeigt, dass die Belgier uns nicht entwickelt, sondern nur ausgebeutet haben.“
Andere sind der Ansicht, das Buch sei auch eine Chance: eine Steilvorlage für Pädagogen, um die unschöne belgische Kolonialzeit aufzuarbeiten.
Die Geschichte ist so herrlich naiv und kindlich, so weltfremd und überzeichnet, dass in der heutigen Zeit niemand diese Klischees für bare Münze nimmt. Selbst Kinder lachen heute über das da gezeichnete Afrika-Bild. (Auch Globi wurde rassistisches Verhalten vorgeworfen. Die in Afrika spielenden Globi-Geschichten wurden allerdings zurückgezogen.)
Tintin au Congo hat auch im Kongo seine Anhänger. Die kongolesische Kulturministerin Jeannette Kavira Mapera bezeichnete es im Oktober 2010 als „ein Meisterwerk“.
Aus den Regalen genommen
Doch trotz des erstinstanzlichen Freispruchs für Tintin und seinen Hund: Mondondo hat doch vieles erreicht. Eine Buchhandlungskette, die in Grossbritannien und den USA tätig ist, hat letzte Woche das Buch aus den Kinderregalen genommen und in die Erwachsenenabteilung gestellt. Ein südafrikanischer Verleger hat sich geweigert, das Buch auf Afrikaans zu übersetzen. Und eine New Yorker Bibliothek hat den Band aus ihren Regalen genommen.
Und noch eine Genugtuung hat Mondondo: Der Verlag hatte in Brüssel eine Prozessentschädigung von 15‘000 Euro gefordert. Diese hat das Gericht abgelehnt.
Ob Tintin nun ein Rassist ist oder nicht – eines ist er sicher: ein Wilderer. Da knallt er mit Lust und Freude 15 Antilopen ab, tötet einen Affen, schlitzt eine Boa auf, erlegt einen Elefanten und sägt ihm stolz die Elfenbeinzähne ab. Vielleicht findet der nächste Prozess gegen den WWF statt.