Zwei Jahre nach dem Abzug der Amerikaner ist der irakische Premier, Nuri al-Maleki, nach Washington gekommen und hat dort erklärt, leider sei Qa'ida in seinem Land stärker denn je, deshalb brauche der Irak mehr Waffen aus Amerika. Gemäss den Hintergrundberichten soll er um "Apache" Angriffshelikopter und anderes Kriegsgerät gebeten haben.
Obama hat dazu, soweit es die Öffentlichkeit erfuhr, weder ja noch nein gesagt.
Die "zarte Demokratie" des Irak
Öffentlich wurde bekannt gegeben, dass Obama den
irakischen Ministerpräsidenten ermahnt hat, für "mehr Demokratie" in seinem Land zu sorgen. Al-Maleki hat seinerseits öffentlich erklärt, er gedenke die "noch zarte" Demokratie in seinem Lande zu fördern.
Diese sehr abgehobene Diskussion muss mit dem realen Hintergrund in Zusammenhang gebracht werden, den man im Irak vorfindet. Das Land steckt in einer neuen Sicherheitskrise, die im April dieses Jahres begann und sich seither immer verschlimmert hat. Die Unsicherheit ist
dadurch gegeben, dass beständig Bomben hochgehen. Die meisten werden von Selbstmordattentätern gezündet, und ihr grösster Teil ist gegen die schiitischen Bevölkerungsteile gerichtet. Eine neuartige Entwicklung besteht darin, dass mehrere Selbstmordattentate gleichzeitig oder in kurzen Abständen erfolgen.
Sunnitische Bomben gegen Schiiten
Die Bombenleger suchen Ziele wie schiiitische Wohnquartiere und deren Kaffees und Märkte, sogar Moscheen, wo viele Menschen zusammenkommen, sowie auch Polizeiposten und Regierungszentren. Diese werden zu den schiitischen Zielen gerechnet, weil in der Bürokratie wie auch in den Sicherheitskräften die Schiiten heute die grosse Mehrheit ausmachen, während die Sunniten weitgehend ausgeschlossen sind.
Gelegentlich kommt auch ein Anschlag als Revanche vor; er richtet sich dann gegen sunnitische Quartiere, deren Märkte und Kaffees und sogar Moscheen. Doch dies ist eher die Ausnahme. Unter den Schiiten gibt es viele angesehene Sprecher, Geistliche und weltliche Honoratioren, die
immer wieder mahnen, die Schiiten dürften sich nicht provozieren lassen. Sie sollten nicht mit den gleichen Mitteln antworten, die gegen sie eingesetzt würden. Wenn sie dies täten, würden sie Zustände heraufbeschwören, wie sie in 2007 herrschten, und dies müsse vermieden werden.
Die Statistik der Bluttaten
In der Tat sind die Opferzahlen jener beiden Jahre merklich höher gewesen als die gegenwärtigen. Wenngleich die gegenwärtigen Zahlen der Bombenopfer eine seither unerreichte Höhe erlangt haben und drohen, für dieses Jahr die Zahl der Opfer von 2008 zu erreichen. Das war das Jahr, in dem der besagte Bürgerkrieg abzuklingen begann.
In nüchternen Zahlen sieht dies so aus: 2006 und 2007 gab es "zivile Tote" (Bomben und Erschiessungen und "politische" Morde) in der Höhe von rund 30.000 pro Jahr; 2008 waren es noch 6786 und dieses noch nicht beendete Jahr sind es bereits 5740. In den dazwischen liegenden Jahren (2009 bis 2012) bewegte sich die Bombenstatistik um rund 3000 Todesopfer pro Jahr.
Die Zahlen der Verletzten, jeweils ein Vielfaches jener der Toten, sind dabei unberücksichtigt geblieben.
Zurück zum blutigen Bürgerkrieg?
In die schrecklichen Jahre von 2006 und 2007 zurückzufallen, suchen die Schiiten unter allen Umständen zu vermeiden. Doch es gibt Sunniten, kleine fanatische Minderheiten von ihnen, die dies anstreben. Ihnen geht es darum, das Regime al-Malekis zu erschüttern, so stark und so lange, dass es zu Fall kommt. Ihre Propagandisten
reden ihnen ein, dass dann eine sunnitische Herrschaft aufgebaut werden könne, die sie meist als einen sunnitischen Sharia Staat sehen wollen.
Die Geschehnisse von 2006 und 2007
Der damalige Sturz in den blutigen Bürgerkrieg kam zustande, nachdem das schiitische Heiligtum von Samarra am 22. Febraur 2006 in die Luft gesprengt worden war. Damals verloren die irakischen Schiiten ihre Geduld und sie schritten ihrerseits zu Racheaktionen, woraufhin die Lage zwei Jahre lang eskalierte. Der Bürgerkrieg klang schliesslich ab, weil ganze Quartiere Bagdads von Sunniten "gereinigt" worden waren. Hunderttausende flohen nach Syrien, die reicheren Minderheiten
nach Jordanien.
Dazu kam eine Erhebung der sunnitischen Stämme gegen die radikalen Jihadisten, mit denen sie vorher zusammengearbeitet hatten, die sogenannte "Sahwa" (Erweckung. Ihre Stammesführer beschlossen, mit den Jihadisten zu brechen und mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Die Qa'ida Täter waren in ihren Augen allzu blutig und allzu eigenmächtig geworden. Dies war der Hauptgrund, weshalb die sunnitischen Jihadisten isoliert werden konnten und ihre Mordaktionen abnahmen.
Eine Verstärkung der amerikanischen Besetzungstruppen, der sogenannte "surge" Bushs, nach dessen Wiederwahl, trug ebenfalls zu dieser Entwicklung bei.
Malekis Einseitigkeit
Die gegenwärtige Krise hat eine Hauptwurze: al-Maleki hat seine Macht aufgebaut, indem er sich nahezu aussschliesslich auf "seine" Gemeinschaft, die der Schiiten, stützte. Sie machen den grössten Teil der heutigen irakischen Streit- und Sicherheitskräfte aus. Sie haben
die wichtigsten Regierungsposten inne. Die Gerichte pflegen zu ihren Gunsten zu entscheiden. Gegen die wenigen sunnitischen Politiker, die versuchten, innerhalb der Regierung eine Rolle zu spielen, ist Maleki mit sehr zweifelhaften Methoden, sogar gewaltsam,vorgegangen.
Es wird allgemein angenommen, dass er die Leibwächter der beiden wichtigsten sunnitischen Regierungsvertreter, die sich heute auf der Flucht befinden, foltern liess, um Geständnisse aus ihnen herauszupressen, die zur Anschuldigung des sunnitischen Vizepräsidenten und Finanzministers seiner eigenen Regierung dienen konnten. Diese wurden
dann von willigen Richtern in Abwesenheit verurteilt, zum Tode natürlich.
Ungleiche Behandlung der Sunniten
Das Vorgehen der meist schiitischen Sicherheitsleute gegen jene Sunniten, die sie verdächtigen, mit den Bombenlegern in Verbindung zu stehen, folgt immer den gleichen Mustern: gefangen nehmen und quälen, bis sie gestehen. Dann kann man einen „Erfolg“ verbuchen. Als legaler
Hintergrund dazu dienen strenge Notstandsgesetze gegen die Baath Partei (die Staatspartei unter Saddam Hussein) und gegen den Terrorismus.
"Riechgeräte" aus Grossbritannien
Dass die irakischen Sicherheitskräfte bei den Strassenkontrollen noch immer elektrische Spürgeräte verwenden, die ihnen von einem britischen Betrüger verkauft worden waren mit der Behauptung, diese Geräte könnten Bombenmaterial "riechen", gehört in ein ähnliches Kapitel.
Vermutlich waren grosse Bestechungsgelder geflossen, als der Kauf getätigt wurde. Der Betrüger sitzt inzwischen in einem englischen Gefängnis. Doch seine "Riechgeräte" werden weiter verwendet. Wahrscheinlich riechen sie, wenn es sich um Sunniten handelt, mehr als
bei Schiiten.
Massendemonstrationen in Anbar
Aufgebracht über diese und viele vergleichbare Zustände haben die Sunniten der ausgedehnten Wüstenprovinz Anbar, im mittleren Westirak bis zur syrischen Grenze, sehr viele darunter sind Stammesleute, zu Beginn dieses Jahres zu demonstrieren begonnen. Sie beabsichtigten, ihre Demonstrationen gewaltlos zu halten. Diese gingen Monate lang weiter und sind bis heute nicht völlig abgeklungen.
Doch ihre Grossdemonstrationen vermochten nicht, die Regierungspolitik Malekis zu verändern. Die Gewaltlosigkeit hörte auf, als Malekis Sicherheitsleute am 23. April dieses Jahres ein sunnitisches Protestlager in Hawija (in der Region von Kirkuk) zusammenschossen und dabei 23 Todesopfer verursachten. Seither sind viele der "gewaltlosen"
Demonstranten unter den Sunniten bereit, in ihren Rängen auch gewaltbereite Aktivisten zu dulden, zu schützen und von dort aus agieren zu lassen. Was in der Praxis dazu führt, dass es eine stillschweigende Zusammenarbeit zwischen Teilen der Demonstranten und Jihadisten entstanden ist.
ISIS wirkt im Irak und in Syrien
Diese wird weiter dadurch potenziert, dass ISIS, der "Islamic State of Irak and Sham" (Sham ist das arabische Wort für Damaskus und für Syrien) auf beiden Seiten der irakisch-syrischen Grenze und in beiden Richtungen arbeitet. Dies gibt den Bombenlegern erweiterte Rekrutierungsgründe, Bewaffnungs- und Aktionsmöglichkeiten.
Streit um das irakische Wahlgesetz
Zu den Ratschlägen, die Obama seinem Besucher, al-Maleki, erteilte, gehörte auch, er solle doch ein irakisches Wahlgesetz fertig stellen,das Wahlen für 2014 ermögliche. Die wenigsten Amerikaner dürften wissen, worauf ihr Präsident mit dieser Ermahnung anspielte. Das
irakische Wahlgesetz, das für die Wahlen im März des kommenden Jahres gebraucht wird, wird im Irak immer noch diskutiert und im Parlament blockiert. Die Opposition wünscht, dass dasjenige Wahlgesetz angewendet wird, das für die Wahlen von 2005 galt. Die Regierung ist für das Wahlgesetz von 2010. Die Kurden, die normalerweise mit der Regierung stimmen, sind in diesem Fall Vorkämpfer der Wünsche der Opposition.
Malekis bevorstehender Engpass
der Weltgeschichte) eine Regierung zu bilden. Die Kurden wirkten dabei als Vermittler und als das Zünglein an der Waage.
Doch nun verlangen die Kurden und mit ihnen weitere Oppositionsgruppen, dass das Land zu dem Wahlgesetz von 2005 zurückkehrt. Damals hatte der Irak auf Grund von geschlossenen Listen, die für das ganze Land galten, gewählt. Die Wahlen von 2010 waren auf Grund einer Einteilung des Landes in 18 Wahlkreise durchgeführt worden. Die Kurden hatten damals nur 57 Sitze erlangt, 2005 waren es 75 gewesen. Dies, weil die in verschiedenen Wahlkreisen verstreut lebenden Minderheiten von Kurden 2010 ihre Stimmen nicht zur Geltung bringen konnten.
Die Taktik der Kurden
Das bedeutet auch, dass der überaus knappe (eigentlich sogar nicht vorhandene) Wahlsieg der Partei Malekis mit dem Wahlgesetz von 2010 unter jenem von 2005 unmöglich gewesen wäre. Guter Grund also für Maleki, das Gesetz von 2010 oder ein ihm vergleichbares wieder anwenden zu wollen. Die Kurden hingegen haben erklärt, sie würden die
Wahlen boykottieren, wenn noch einmal das Gesetz von 2010 angewendet werde. Sie fordern Rückkehr zum Gesetz von 2005 oder eine Kompensation, für ihre "verlorenen Stimmen", wenn es ein auf Wahlkreisen beruhendes Gesetz gebe. Andere Oppsitionsgruppen stellen sich auf Seiten der Kurden. Darüber streiten sich die irakischen
Abgeordneten im Parlament, ohne bisher übereingekommen zu sein, welches Gesetz oder welche Variation der bisherigen beiden Gesetze, diesmal zur Anwendung kommen soll.
Schlechtere Beziehungen zu den Kurden
Zum Hintergrund dieses Streites gehört auch, dass sich in der Zwischenzeit, seit der Regierungsbildung Malekis, die Beziehungen zwischen der zentralen Regierung in Bagdad und der autonomen Regierung der Kurden deutlich verschlechtert haben. Der Streit dreht sich vor allem um Erdöl, das die Kurden auf ihrem Gebiet auf eigene Rechnung fördern, während Bagdad für sich in Anspruch nimmt, für das Erdölwesen im ganzen Lande zuständig zu sein. Die Kurden sind daran, eine eigene Rohrleitung durch ihr Hohheitsgebiet nach der Türkei zu bauen, nachdem Bagdad die Rohrleitung, die vom Irak nach der Türkei verläuft, für kurdisches Erdöl gesperrt hat.
Wem gehört das kurdische Erdöl ?
Bagdad droht den Kurden, weniger als ihren bisherigen Anteil an den Einkünften des nationalen Steuerwesens auszuzahlen, falls sie nicht mindestens 400.000 Barrel des von ihnen geförderten Öls an die Zentrale abtreten. Die Kurden verlangen, dass sich Bagdad in diesem Falle an den Beträgen beteiligt, die an die in Kurdistan arbeitenden
ausländischen Erdölfirmen abgeführt werden müssen. Beide Seiten sprechen von offenen Rechnungen, denen zufolge die Gegenseite der ihrigen Trillionen von Irakischen Dinars schulde, was Milliarden von Dollar entspricht.
Machtlosigkeit Bagdads gegenüber den Kurden?
So geht es fort, die Kurden erklären, sie glaubten nicht, dass sie die Drohungen von Bagdad ernst nehmen müssten, weil die Zentrale, die bereits unter dem Druck der Bombenleger stehe, es sich nicht leisten könne, auch mit den Kurden Streit anzufangen.
Der alte Konflikt um die Zugehörigkeit von Kirkuk und seiner
bedeutenden Erdölforderung ist seit 2005 ungelöst, weil das den Kurden theoretisch zugesagte Plebiszit der Bewohner von Kirkuk über ihre Zugehörigkeit zum Irak oder zu Kurdistan, noch immer nicht durchgeführt wurde. Natürlich gibt es Streit darüber, wer in diesem Plebiszit stimmberechtigt sei und wer nicht.
Malekis schwierige Machtbilanz
Fazit für die kommenden Wahlen: Maleki kann nicht sicher sein, noch eimal eine Regierungskoalition bilden zu können, wenn er in den kommenden Wahlen ähnlich oder noch schlechter abschneidet als in den vorausgegangenen. Dies muss er erwarten, falls er nachgeben und einem
Wahlgesetz zustimmen sollte, das seine Rivalen marginal mehr begünstigt.
Dass Maleki mit all seiner in den letzten vier Jahren angehäuften "schiitischen" Macht darauf ausgehen wird, noch einmal das Land zu beherrschen, kann man schwerlich in Frage stellen. Was genau er unternehmen wird, um sein Ziel zu erreichen, bleibt abzuwarten. Die Sunniten glauben wohl in den meisten Fällen nicht mehr daran, dass sie
durch Wahlen, ihre politische Lage werden verbessern können. Die Kurden sind primär daran interessiert, ein Maximum an Unabhängigkeit für sich aus der Gesamtlage herauszuschlagen.
Staatspräsident Jalal
Talabani, einer der kurdischen Hauptpolitiker, der um dieses Zieles Willen den Weg der Zusammenarbeit mit Bagdad einzuschlagen versuchte, liegt mit Herzproblemen in einem Spital in Deutschland. Wer ihm als Führer der kurdischen PUK Partei nachfolgen wird, ist noch unbestimmt und Gegenstand eines innerparteilichen Ringens. Ob sein Nachfolger, wenn es ihn einmal gibt, die gleiche Politik des Einvernehmens mit Bagdad fortführen wird, trotz aller Streitfragen, ist keineswegs sicher. Ohne die Stimmen der Kurden jedoch kann die Zentralregierung in Bagdad unter Maleki schwerlich eine Mehrheit zustande bringen. Dies ist die schwierige innere Lage der "zarten irakischen Demokratie".
Die Gefahr einer Aufsplitterung
Von aussen aber ist das Regime durch die Bombenanschläge gefährdet, die sich zu vermehren drohen und die, wenn es so weiter geht, fast unvermeidlich zu einer neuen blutigen Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten führen müssen. Diese könnte zuletzt auf eine Spaltung der Irakischen Landesteile in einen schiitischen Süden und
einen sunnitischen Westen und Norden, sowie einen kurdischen Nordosten hinauslaufen. Der sunnitische Norden und Westen des Iraks liefe dabei Gefahr, mit einem Sharia Staat im syrischen Norden zusammengeschlossen zu werden, wie dies ISIS , dem der Qa'ida angeschlossenen "Islamischen Staat im Irak und Sham", der heute gegen Damaskus und gegen Bagdad kämpft, offenbar vorschwebt.