Die Beobachter sind sich einig darüber, was geschehen müsste, um einen Bürgerkrieg im Irak zu vermeiden. Barak Obama hat es öffentlich formuliert. Nötig wäre eine Regierung, die beide Konfessionen, die Sunniten und die Schiiten, versöhnen könnte. Der amerikanische Präsident hat auch gesagt: durch die einseitige Unterstützung der einen der Religionsgemeinschaften kann die Lage nicht gerettet werden. Die Gegensätze würden dadurch im Gegenteil nur verschärft und der Bürgerkrieg endgültig.
Obamas Forderung an Maliki
Dem stimmt jedermann zu, der das Land kennt und sich mit seiner Vergangenheit befasst hat, der jüngsten und jener älterer Zeiten. Obama selbst hat auch die Konsequenzen aus dieser Sachlage gezogen. Er fordert, dass al-Maliki eine Regierung bilde, in der beide Gemeinschaften gleichberechtigt vertreten sind. Er deutet an, wenn al-Maliki dies nicht tun könne, sollte er zurücktreten und einem anderen Politiker das Feld überlassen. Er macht auch klar, dass dies die Voraussetzung sei für entschiedene amerikanische Hilfe gegen die ISIS-Kräfte und ihre Verbündeten.
Nothilfe hat Obama allerdings dennoch bereits in die Wege geleitet. In bescheidenem Masse. Er hat angeordnet, dass Sondertruppen in kleinen Zahlen nach dem Irak geschickt werden. Einerseits sollen sie helfen, die irakische Armee zu reorganisieren, so dass sie der ISIS-Offensive Widerstand leisten kann. Andrerseits geht es darum, Zielinformationen zu sammeln, die es im Ernstfall erlauben würden, wirksam gegen die ISIS-Kräfte vorzugehen, etwa mit amerikanischen Raketen, Drohnen oder Bombenflugzeugen. Ein amerikanischer Flugzeugträger im Golf steht bereit.
Noch geht es nicht um Bagdad
Bis heute hat der amerikanische Präsident der Versuchung widerstanden, sofort einzugreifen «um Bagdad zu retten». So rasch der Vorstoss von ISIS in den sunnitischen Landesteilen auch vorankam, bedeutet das nicht, dass auch die schiitischen Gebiete sturmreif wären. Bagdad ist vorläufig nicht in Gefahr.
Doch die grosse Frage ist, ob al-Maliki diesen Wünschen der Aussenwelt nachkommen kann, und ob er ernsthaft versuchen will, sie zu erfüllen. Vielleicht ist es zu spät. Vielleicht schätzt er die Lage ganz anders ein.
Von ihm aus gesehen steht er in einem Kampf um sein politisches Überleben. Er verfügt über eine relative Mehrheit in dem neu gebildeten Parlament. Die Verhandlungen darüber, wie eine neue Regierung gebildet werden soll, haben erst begonnen. Erwartet wurde vor dem Vorstoss von ISIS, dass der Schacher um die neue Koalition sich über Monate hinziehen werde.
Ob die militärische Notlage der Gegenwart die Regierungsbildung beschleunigt, ist ungewiss. Al-Maliki könnte sich auch sagen: Ich verlangsame die Verhandlungen noch mehr, denn solange keine neue Regierung zustande kommt, bin ich als der provisorische Regierungschef und Herr über alle Sicherheitskräfte, Geheimdienste, Polizei und Armee – und, wie sich mehrfach erwies, auch über die Gerichte. Er ist unangreifbar und praktisch allmächtig.
Die unklare Rolle Irans
Neben der nur bedingt gewährten amerikanischen Hilfe kann Maliki auch auf die Unterstützung durch Iran zählen. Sie wird nach den öffentlichen Erklärungen der iranischen Führung bedingungslos gewährt. Ob die Iraner unter vier Augen trotzdem Bedingungen stellen, wissen wir nicht. Jedenfalls befindet sich Qasem Soleimani , der Chef der Kuds-Kräfte, das heisst des aussenpolitischen Geheimdienstes der iranischen Revolutionsgarden, in Bagdad. Dort soll er mithelfen, die schiitischen Milizen zu organiseren, die sich in den letzten Tagen in grossen Massen freiwillig gemeldet haben.
Ein erster Soldat der Kuds-Kräfte ist am 20. Juni vor Tikrit gefallen. Einige der schiitischen Milizen befinden sich bereits zur Unterstüzung der irakischen Armee im Einsatz an zwei der gegenwärtigen Hauptfronten, in Tel Afar nordwestlich von Mosul und in Bakuba, nordöstlich von Bagdad. Der dritte Schauplatz heftiger Kämpfe ist die Raffinerie von Baidschi, nördlich von Tikrit, die grösste des Landes. Ob dort auch schon schiitische Milizen eingesetzt werden, ist unklar.
Es ist denkbar, dass auch die iranische Führung die Notwendigkeit erkennt, ein Gleichgewicht zwischen Sunniten und Schiiten zu schaffen, wenn der Irak stabil bleiben soll. Leuten wie Präsident Rouhani wäre soviel Einsicht durchaus zuzutrauen. Doch die Initiative im Irak scheint bei den Revolutionswächtern zu liegen. Sie setzen wahrscheinlich eher auf eine schiitische Mobiliserung und auf Kampf gegen «die Sunniten», als einen Ausgleich zu fordern.
Die innere Dynamik in Iran spricht dafür, dass die Revolutionswächter – Kämpfer und Kritiker der Linie Rouhanis – für eine Konfrontationspolitik im irakischen Nachbarland eintreten, nicht für einen Ausgleich. Al-Maliki könnte versucht sein, sich auf sie zu stützen und die amerikanischen Ratschläge in den Wind zu schlagen.
Saudi-Arabien als Gegenspieler Irans
Je gewichtiger die Rolle der Iraner in den schiitischen Teilen des Iraks wird, desto mehr werden die Saudis den Sturz Malikis anstreben. Er selbst scheint daran zu glauben, dass es die Saudis sind, welche «die Verschwörung» im Nordirak gegen «den Irak» angezettelt haben. Er beschwert sich öffentlich darüber. Diese seine Sicht ist ohne Zweifel eine Vereinfachung komplexerer Gegebenheiten. Doch viele der schweren Waffen der ISIS dürften – auf welchen Wegen auch immer – zuerst mit saudischer Hilfe in die Hände der Islamisten gelangt sein. Inzwischen hat ISIS allerdings auch schwere Waffen der irakischen Armee erbeutet, die bei Mosul gelagert waren.
Wenn al-Maliki sich darauf versteift, dass er «ein Opfer der Saudis» geworden sei, verhindert diese Meinung, dass er begreifen könnte, was ihm die Amerikaner und so gut wie alle einsichtigen Aussenstehenden klar zu machen versuchen, nämlich dass seine Behandlung der irakischen Sunniten die wichtigste unter all der verschiedenen Ursachen des gegenwärtigen Debakels abgab.
Die Schiiten machen mobil
Zum Gesamtbild, wie es sich für den irakischen Machthaber darstellt, gehört auch, dass er auf die enthusiastische Unterstützung der irakischen Schiiten zählen kann, weil diese nun fürchten, dass ISIS sie verknechten, ja ausrotten könnte. Das laute Echo, welches der irakische Schiitenführer Ayatollah Sistani gefunden hat, als er die Schiiten zur Rettung des Iraks aufrief, macht dies sehr deutlich.
Der Ayatollah, der normalerweise alle politischen Stellungnahmen peinlich vermeidet, hat sich zu Wort gemeldet, weil auch er eine Gefahr für das Land, für seine schiitische Gemeinschaft und für deren heilige Stätten erkennt. Er hat die irakischen Schiiten aufgefordert, sich bei den Sicherheitskräften zu stellen – nicht Milizen zu bilden. Doch die grosse Masse der Freiwilligen, die am Samstag in Bagdad patroullierten, wirkten mehr als Milizen denn als Rekruten der regulären Armee. Die Armee wäre wohl kaum in der Lage, die Abertausenden von Freiwilligen, die sich nun stellen, in ihre Ränge zu integrieren.
Es fehlt nicht an Mannschaften
Die Sicherheitskäfte im Irak, Polizei, Sondertruppen und reguläre Armee, zählen 900’000 Mann. Sie treten an gegen rund 10’000 ISIS-Kämpfer und vielleicht noch einmal 10’000 Verbündete, Baathisten und ähnliche Gruppen. An Mannschaften fehlt es den Sicherheitskräften also keineswegs, eher an deren Organisation, Führung und Einsatzbereitschaft.
Dies beutet, dass die grossen Massen der schiitischen Freiwillen unvermeidlich als Milizen eingesetzt werden. Sie sind somit irreguläre Einheiten unter der Führung ihrer eigenen «Kriegsunternehmer». Diese Führungspersonen werden in vielen Fällen ehemalige Milizführer sein, die sich zu Zeiten des ersten Kriegs zwischen Schiiten und Sunniten von 2005 bis 2007 als blutrünstige Bandenführer erwiesen.
Die sogenannte Mehdi-Armee, die damals unter Muktada as-Sadr ihr Unwesen trieb, ist offiziell aufgelöst worden. Doch Ableger existieren noch immer. Ihre bisherigen Bandenchefs, haben sich teilweise von as-Sadr losgesagt, als er sich nach Iran absetzte und von dort aus das Ende ihrer Aktivitäten befahl. Sie werden nicht verfehlen, an der Spitze ihrer Mordbanden wieder aktiv zu werden. Was die Gefahr erhöht, dass sie sich nun auch die Schiiten Übergriffe gegen die sunnitische Bevölkerung zu Schulden kommen lassen, wenn sie nach Norden vordringen.
Die Dynamik des Krieges
So droht die Kriegsdynamik im Irak genau das Gegenteil dessen zu bewirken, was nun von al-Maliki gefordert ist, nämlich Ausgleich und Versöhnung. Diese Dynamik ist im Gang. Wenn er sie aufzuhalten versuchte, würde al-Maliki wahrscheinlich seine eigene Position untergraben. Noch radikalere Schiitenanführer würden ihn zu ersetzen trachten.
Wenn er versucht, mit der schiitischen Strömung zu schwimmen, bleibt er zunächst an der Macht. Im schiitischen Teil des Iraks kann er sie jedenfalls zunächst weiter ausüben. Sein bisheriges Verhalten lässt befürchten, dass er diese Alternative wählen wird – nicht den Weg zur Versöhnung, sondern den der Verschärfung des Bürgerkrieges.