Zwar erscheinen in Israels Zeitungen immer wieder Artikel zum Thema Auswanderung. Doch die entsprechende Statistik zeigt, dass die Zahl auswandernder Israelis noch nie so niedrig war wie heute.
Fatale Erinnerung an die zweite Intifada
Auf der anderen Seite entwickelt sich die heutige Situation palästinensischer Morde an Juden fatal an das Bild der Entwicklung zur Zweiten Intifada. Der frühere Regierungschef Ariel Sharon schlug nach weit über tausend ermordeten Israelis – Juden und Araber – diese Intifada 2 wirkungsvoll nieder, baute den Sicherheitszaun, der Israel vor Selbstmordattentätern und Terror schützt und die zweite Intifada zusammenbrechen liess. Aber jetzt scheint es von neuem zu beginnen, vor allem in Jerusalem. Jetzt meucheln palästinensische Islamisten mit neuen Waffen: Fahrzeugen und Messer. Fast täglich tote Juden, gelegentlich tote Palästinenser (oder sollte ich „Araber“ schreiben?).
Und die israelische Abneigung gegen seine palästinensischen Nachbarn und leider auch gegen seine arabischen Mitbürger, die sich von eigenen Funktionären aufhetzen lassen, wächst weit mehr noch als diejenige rechtsextremistischer Juden gegenüber Palästinensern.
Hochschaukeln des gegenseitigen Hasses
Ich kann mich nicht erinnern, wann diese gegenseitige Abneigung, der tödliche palästinensische Hass auf alles Jüdische (nicht nur Israelisch-Jüdische) so stark war wie heute. Dieser gegenseitige Hass schaukelt sich gegenseitig hoch.
Trotzdem verlassen weniger Israeli ihre Heimat, um in der Galut (Diaspora) Besseres zu suchen. Nicht weil in Deutschland der Milky-Pudding billiger ist, sondern weil sie wissen, im Staat der Juden langfristig sicherer zu sein als im Westen, in dem ein moderner Antisemitismus, als Israelfeindschaft getarnt, wächst und das Ende westlich-moderner Zivilisation, wenigstens in Europa, absehbar macht – es sei denn, der Westen besinnt sich auf seine Werte und verteidigt sie.
Viele Israelis sind Doppelbürger und besitzen noch einen zweiten Pass. Den ihres Geburtslandes, oder weil Opa und Oma vor sechzig Jahren aus Europa und Amerika eingewandert waren. Sie laufen nicht davon. Sie bleiben, stellen sich dem gewalttätigen arabischen Hass und, falls nötig, kämpfen sie als Soldaten für ihren Staat. Als sich 1967 der Sechstageskrieg abzeichnete, kehrten Tausende im Ausland lebenden Militärpflichtigen nach Israel zurück und meldeten sich bei der Armee. Nach dem Ausbruch des Jom-Kippurkrieges in 1973 geschah genau dasselbe – ich selbst war damals einer dieser Soldaten aus dem Ausland.
Die Heimatgefühle nichtreligiöser Juden
Was ist der Grund für die Bereitschaft der Israelis, so entschieden für ihr Heimatland einzustehen, dafür zu kämpfen und auch bereitwillig ihr Leben zu riskieren, statt davonzurennen? In seinem NZZ-Artikel „Jom Kippur 5775, Tel Aviv“ vom 5.10.2014 beschreibt Carlo Strenger (wie ich ein säkularer „Linker“ und bewusster Jude) seine Gefühle als in Israel lebender Jude. Was ist der Grund dafür, dass viele Juden nicht mehr eine Minderheit im eigenen Land bleiben wollen – obwohl sie heute meist völlig integriert sind?
Strenger beschreibt wie er des Judentums wichtigsten Feiertag, Yom Kippur, bewusst erlebt, auch ohne rituelle religiöse Vorschriften einzuhalten. Sein Essay lässt durchblicken, wie ein Israeli, ohne fromm zu sein und ohne die jüdischen Religionsgesetze umfassend zu leben, als Jude vollgenommen wird. Eine Tatsache, die auch den Beitrag zu diesen Bürgerpflichten nichtjüdischer, also arabischer, beduinischer, drusischer, christlicher und anderer Bürger um nichts entwertet. Und vor allem, dass ich die Möglichkeit habe, mich als Jude zu verteidigen.
Keine Notwendigkeit, mich „zu erklären“
Selbstverteidigende Juden sind für viele Judenhasser noch immer ein historischer Widerspruch. Das ist eine völlig falsche Auffassung, die den Tatsachen während des Zweiten Weltkrieges weit weniger entspricht, als die vielen Vorurteile es zulassen. Denn sogar während der Nazizeit haben sich Juden gewehrt und haben ihre Feinde bekämpft – zugegeben mit ungenügendem Erfolg. Doch sind die Ghettokämpfer in polnischen und anderen osteuropäischen Städten, die Partisanen in osteuropäischen Wäldern, die jüdische Brigade der britischen Armee, die Juden im britischen Geheimdienst, die Aufständischen der Nazi-Vernichtungs- und Konzentrationslager Beispiele genug, Behauptungen umfassender jüdischer Apathie gegenüber Judenverfolgungen Lügen zu strafen.
Obwohl ich in der Schweiz geboren und aufgewachsen bin und einen grossen Teil meines Arbeitslebens in der Schweiz verbracht habe, ziehe ich es vor, in Israel zu leben. Was sind die Gründe dafür?
Ich gehöre nicht einer Minderheit an, ich bin Bürger meines eigenen demokratischen Staates. Ich muss mich nicht, wie so oft in der Schweiz, „erklären“. Erklären, was Judentum ist, warum ich überhaupt Jude bin, seine Jahrtausende alte Geschichte vermitteln, mir nicht missionarischen Unsinn aus christlichen Kreisen anhören und trotzdem mit diesen Freund sein, meist vergeblich versuchen, antisemitische Vorurteile und Hass auszuräumen; ich muss mich nicht ducken und mich über all das ärgern. Ich müsste nicht, wäre ich religiös observant, meine Kopfbedeckung zu Hause lassen, um nicht als Jude erkennbar zu sein um nicht von Antisemiten angegriffen zu werden.
Es gibt israelische Rassisten
Denn Juden sind, so denken nicht wenige von ihnen, heute wieder ein gefährdetes Spezi in Europa. In Israel bin ich ein „Jecke“, Jude mit deutschsprachigem Hintergrund, eine der zahlreichen ethnischen Minderheiten des israelisch-jüdischen Volkes. Aber ich bin Jude in Israel und muss mir nicht überlegen, wie damit umzugehen. Damit lebe ich gut.
Es gibt israelische Rassisten, einige mit faschistischem Einschlag. Das schleckt keine Geiss weg. Es sind vor allem Früchte des viele Jahrzehnte dauernden arabischen Hasses, von Kriegen und Terror, die faschistoiden Ideologien Vorschub leisten. Ein Resultat dieser Entwicklung ist die heutige innenpolitische Situation im Land. Rechtsextreme politische Parteien sind stark und einflussreich geworden, sie sind die treibende Kraft der Regierung auch wenn zurzeit der Eindruck besteht, dass es Alternativen gäbe.
Kein Ersatz für Netanjahu?
Das politische Zentrum hat es möglichweise in der Hand, die Situation zu ändern. Unser famoser, von seiner Gattin Sarah getriebener und überwachter Regierungschef Bibi Netanyahu wird kritischer eingeschätzt, sein Streit mit den USA gefährdet das Überleben Israels weit mehr als palästinensischer Hass. Und doch sind sich die meisten Israelis einig darüber, dass kein Bibi-Ersatz in Sicht ist. Das kann nicht stimmen, das darf nicht stimmen. Wir leben in einer sehr ausgeprägten Demokratie, Kandidaten gibt es bestimmt, auch wenn ich mir wünsche, dass ein solcher nicht nur aus dem rechts gerichteten Lager stammen würde.
Die Situation erinnert mich an das grosse Fragezeichen nach dem Tode Franklin D. Roosevelts gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Kaum jemand kannte Harry S. Truman, der sich dann als grosser Präsident entpuppte. Oder Levy Eshkol, Israels Ministerpräsidenten in 1967, der als unentschlossener Zögerer galt und unter dessen Führung trotzdem oder vielleicht deshalb der Sechstagekrieg gewonnen wurde. Wobei allerdings Yitzchak Rabin, Moshe Dayan und andere Militärs nicht weniger Entscheidendes beitrugen.
Innere Festigkeit – trotz alledem
Es gibt tatsächlich Leute, vor allem der rot-braunen Schattierung, die ihre judenfeindliche Einstellung mit der Tatsache anstacheln, dass das tägliche Leben in Israel trotz Terror und Kriegen normal weiter geht. Der normale Israeli weiss: er hat gar keine andere Wahl. Unterschwellig ist zwar ein wenig Unruhe vorhanden. Wenn Palästinenser einen Krieg vom Zaun reissen, wird er einberufen und wenn es vorbei ist, kehrt er zu Familie und Arbeit zurück. So bringt sich Israel einigermassen über die Runden ohne sein wirtschaftliches und soziales Gleichgewicht zu verlieren. Israel befindet sich in der barbarischsten Region der Welt, in der sich die verschiedenen arabisch-islamistischen Gruppierungen gegenseitig mit grenzenlosem Fanatismus umbringen.
Inzwischen ist bekannt geworden, dass viele Familienmitglieder palästinensischer Judenfeinde ihre Krankheiten (nicht Kriegsverletzungen) in israelischen Spitälern kurieren lassen. Dazu gehören unter anderem die Familien der Hamas-Grössen Ishmael Haniyeh und Abu Marsuk. Dagegen kann man nichts haben. Israel ist immer für Überraschungen gut – nicht immer nur negative.