Auch Präsident John F. Kennedy rührt keinen Finger. Doch die Berliner sind in heller Aufregung; sie haben Angst. Sie fürchten, vom Westen fallengelassen zu werden. Sie sehen den sowjetische Rachen weit offen. Doch die amerikanischen Regierungsbeamten picknicken an diesem sonnigen Sonntag im Grünen. Und der Chef der Task Force geht zu einem Baseball-Spiel.
Solche und hundert andere pikante Details erzählt uns der amerikanische Militärhistoriker John Provan in seinem neuen Buch ("Ich bin ein Berliner", Berlin Story Verlag).
John F. Kennedy, als Reporter in Berlin
Am 26. Juni jährt sich Kennedys „Ich bin ein Berliner“-Rede zum 50. Mal. Deshalb überkommt uns in diesen Tagen eine Flut von Berichten und Analysen. John Provans 94-seitiges Buch ragt aus dieser Flut hervor. Es ist detailliert recherchiert, farbig geschrieben und enthält viele Überraschungen und Anekdoten. Kurz und klar wird der Besuch in den historischen Zusammenhang gestellt. Illustriert wird das Büchlein mit teils unbekannten Fotos.
Kennedy ist im Juni 1963 nicht zum ersten Mal nach Berlin gekommen. Schon 1939 war er privat dort. Dann, nach dem Krieg, im Sommer 1945, kam er als Reporter. Er war Korrespondent für die Chicagoer Zeitung „Herald-American“. „Die Verwüstung ist vollständig.“ kabelte er damals nach Chicago. „Es gibt nicht ein einziges Gebäude, das nicht ausgebrannt ist. In manchen Strassen ist der Gestank – süsslich und eklig von toten Körpern – unerträglich."
Auch Willy Brandt war wütend auf die Amerikaner
1961, vor dem Bau der Mauer, kam Kennedy erneut nach Europa. Doch Deutschland besuchte er nicht. In Paris traf er De Gaulle und in Wien Chruschtschow.
Zwei Monate später wird die Mauer gebaut. Da die Alliierten kaum reagieren, kochen die Berliner vor Wut. Am 16. August demonstrieren vor dem Rathaus Schöneberg 250‘000 Menschen gegen die westliche Untätigkeit. „90 Stunden und keine Reaktion“, heisst es auf Transparenten. Oder: „Verrat durch den Westen“.
Auch Willy Brandt, der Bürgermeister, ist wütend. „Es wäre äussert willkommen“ telegrafiert er nach Washington, „wenn die amerikanische Garnison in Berlin zu einem gewissen Grad demonstrative Stärke zeigen würde“.
Die Sowjets und die DDR-Oberen wähnen sich offenbar in einer Position der Stärke. Denn kurz zuvor, am 17. April 1961, erlebte Kennedy mit der gescheiterten Invasion in der kubanischen Schweinebucht eine Blamage. „Historiker meinen“, schreibt John Provan, „es könnte sein, dass der Misserfolg in Kuba Chruschtschow und auch die ostdeutsche Führung ermutigt haben könnte, … den Bau der Berliner Mauer durchzuführen."
Lyndon B. Johnsons Fingerspitzengefühl
Vielleicht war dieses Fiasko auch ein Grund, weshalb Kennedy zunächst zögerte. Doch dann reagierte er endlich und schickt seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson und General Lucius D. Clay nach Berlin. Clay war bis 1949 Militärgouverneur in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland.
Über Johnsons Fingerspitzengefühl kann man diskutieren. Vor dem Rathaus Schöneberg warten 300'000 Berliner in höchster Anspannung auf seine Rede. Sie alle sind erregt und haben Angst, Opfer eines westlich-sowjetischen Deals zu werden. Doch Johnson lässt sie warten. Er, der Porzellan-Kenner und Porzellan-Sammler, ist entzückt vom deutschen Porzellan und muss zuerst einen Kaffee-Service für 24 Personen kaufen.
Doch seine anschliessende Rede bringt Zuversicht. Der Besuch von Johnson und Clay macht deutlich: Wir überlassen Berlin nicht dem Frass der Sowjets. Die Berliner sind wieder schnell mit Amerika versöhnt und werfen den Gästen Blumen zu. Auf dem Kurfürstendamm nehmen Johnson und Clay eine Militärparade ab. Eine Million Berliner stehen Spalier.
„…ihre eigenen Leute lassen sie nicht raus“
Am 31. Oktober 1961 demonstrieren die Sowjets erneut Macht. Sie zünden in der Arktis eine 50 Megatonnen-Atombombe.
Im Jahr danach, im Februar 1962, schickt Kennedy seinen Bruder Robert nach Berlin. Robert „Bobby“ Kennedy ist Justizminister. In eisiger Kälte hält er vor dem Rathaus Schöneberg eine Rede. Da fliegen plötzlich, aus Ostberlin kommend, vier Raketen herüber. Sie platzen und vier rote Fahnen flattern herunter. Bobby Kennedy reagiert schlagfertig: „Die Kommunisten lassen die Fahnen rüberkommen, aber ihre eigenen Leute lassen sie nicht raus.“
Provan erzählt auch, dass die Amerikaner in Westberlin ein Stück der Mauer nachbauten. Sie wollten einen Durchbruch üben. Doch sowjetische Spione hatten das Vorhaben fotografiert. Die Amerikaner stoppten das Experiment.
Eine Garantie für die Sicherheit Westeuropas
Die Spannungen zwischen Ost und West werden bedrohlich. Im Oktober 1962 kommt es zur Kuba-Krise. Die Sowjetunion stationiert auf der Insel Raketen, die die USA erreichen könnten. Die Welt steht am Rande eines neuen Krieges. Doch Chruschtschow gibt nach, die Raketen werden abgezogen.
Jetzt entschliesst sich John F. Kennedy, selbst nach Berlin zu reisen. Der Besuch soll ein Bekenntnis zur geteilten Stadt sein. Er soll Gewissheit und Zuversicht bringen: eine Art Garantie, dass man Berlin nicht aufgibt.
Die Kurz-Visite sollte genau 15 Jahre nach Beginn der Luftbrücke nach Berlin stattfinden. Ab dem 26. Juni 1948 waren mehr als zwei Millionen West-Berliner mit Brennstoff und Lebensmitteln versorgt worden. Während 324 Tagen transportierten amerikanische Flugzeuge 1'783'573 Tonnen Hilfsgüter. Diese Hilfe führte dazu zu, dass die Amerikaner in Berlin eine riesige Popularität erlangten. Diese Popularität will sich Präsident Kennedy jetzt zunutze machen.
Amerikanische Überheblichkeit
Johns Provans kleines Buch besticht durch die riesige Fülle von grossen, kleinen und kleinsten Fakten. 35 Jahre lang sammelte er Informationen über die amerikanischen Streitkräfte in Deutschland. Er schrieb mehrere Bücher, unter anderem auch eines über Sergeant Elvis Presley in Deutschland.
Der Autor geht mit „seinen“ Amerikanern durchaus auch kritisch um. So erwähnt er, dass bei den Vorbereitungen zum Kennedy-Besuch die Leute aus dem Weissen Haus „eine gewisse Überheblichkeit zeigten“. Er zitiert einen amerikanischen Diplomaten: Die Amerikaner „fielen über Bonn her wie ein Schwarm von Heuschrecken. Der Geheimdienst machte sich mit einer Übernahme-Strategie unbeliebt, was bei den deutschen Geheimdiensten nicht gut ankam“.
Kennedy besucht zunächst Frankfurt, Köln, Wiesbaden und Bonn. In der damaligen deutschen Hauptstadt lädt er zu einem Dinner für Kanzler Adenauer.
Willy Brandts Début
„Es gab norwegischen Lachs à la Bellevue mit einem 1959er Saarburger, Tournedos à la Henri IV mit Pommes Parisienne, dazu Almaden Pinot Noir, Salat Mimosa mit Käse-Selektion, Soufflé mit Grand Marnier sowie Petit Four mit 1955er Dom Perignon.“
„Das Menu zeigt“, schreibt Provan, „auf welchem Niveau Kennedy zu leben pflegt“. Doch das Wichtigste an diesem Dinner sind nicht das Tournedos und der Pinot Noir.
Das Wichtigste ist, dass Willy Brandt von Kennedy dazu eingeladen wird. „Das war das Début Brandts auf internationalem diplomatischen Parkett“. Brandt war einer der wenigen pro-amerikanischen Sozialdemokraten. Das sehr positive Deutschland-Bild, das Kennedy in sich trug, ist vor allem auf die enge Freundschaft mit Willy Brandt zurückzuführen.
Der verknöcherte Adenauer
Mit Adenauer tut sich Kennedy schwerer. Der Kanzler wirkt auf den amerikanischen Präsidenten „verknöchert“. Die Beziehungen zwischen den beiden könne man „nur als problematisch bezeichnen“, schreibt Provan.
Vor dem Essen mit Adenauer und Brandt muss noch ein logistisches Problem gelöst werden. Prinzessin Caroline, die jüngste Schwester von Jacqueline Kennedy, sollte zum Coiffeur und sich die Haare machen lassen. Doch, oh Schreck, es ist Montag und alle Friseur-Salons sind geschlossen. Schliesslich erklärt sich im 75 Kilometer entfernten Düsseldorf ein Haarschneider bereit, seinen Laden zu öffnen. Caroline fliegt mit dem Helikopter nach Düsseldorf und ist, frisch gekämmt, zum Dinner zurück.
Siebeneinhalb Stunden live aus dem Auto
Kennedy landet am 26. Juni um 10.30 Uhr mit der Air Force One in Berlin-Tegel. Er fährt 53 Kilometer durch die Stadt und wird von bis zu 2,2 Millionen Menschen bejubelt.
Jürgen Graf, ein Reporter des Radio-Senders RIAS (Radio im amerikanischen Sektor) berichtet siebeneinhalb Stunden live. Das ist eine radiotechnische Sensation. Es ist die erste Live-Übertragung aus einem fahrenden Auto.
Die RIAS-Techniker hatten drei Tage experimentiert um herauszufinden, wie man die Übertragung sicherstellen kann. RIAS baute entlang der Strecke vier starke Sendeanlagen, die die Signale aus dem fahrenden Auto in die RIAS-Zentrale weiterleiteten.
Das verhängte Brandenburger Tor
„Kennedy war tief erschüttert, als er selbst vor der Berliner Mauer stand“, schreibt der Autor. Der Präsident wird ans Brandenburger Tor geleitet. Die Ostdeutschen hatten das ganze Tor mit roten Fahnen verhängt. So kann Kennedy zunächst keinen Blick in den Osten werfen. Kurzerhand errichten Amerikaner und Engländer eine Aussichtsplattform und Kennedy schaut hinüber.
Auf dem Weg zum Checkpoint Charlie durchbricht eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und Nelken in der Hand die Polizeisperre und geht auf Kennedys Wagenkolonne zu. Die Polizisten drängen die Frau zurück. Kennedy lässt die Wagenkolonne anhalten, spricht mit der Frau und nimmt die Blumen entgegen.
Emotional gestaltet sich der Besuch beim Checkpoint Charlie. Kennedy steigt auf die Aussichtsplattform und ist erschüttert. Er wirkt beklommen und spricht kein Wort.
Kennedys Mühe mit Fremdsprachen
Vor dem Rathaus Schöneberg haben sich inzwischen anderthalb Millionen Berliner eingefunden. Die Rede, zu der Kennedy jetzt ansetzt, macht ihn unsterblich.
Geschrieben worden war diese Rede von Theodore Sorensen. Er hatte wochenlang daran gefeilt. Immer wieder gab es Korrekturen. Auch das Aussenministerium mischte sich ein. Schon immer bestand die Idee, dass Kennedy einen oder zwei Sätze auf Deutsch einflechten würde. Doch der begnadete Rhetoriker Kennedy hatte seine liebe Mühe mit jedwelcher Fremdsprache.
John Provan erklärt, dass Kennedy den „Ich bin ein Berliner“-Satz am 18. Juni phonetisch mit blauer Tinte auf einen Zettel schrieb. Dieser Zettel befindet sich heute im Landesarchiv Berlin. Vor seiner Rede übt Kennedy diesen Satz im Büro von Willy Brandt in Anwesenheit seines Dolmetschers Robert H. Lochner.
Kalte-Kriegs-Rhetorik?
Dann tritt er vor die Menge. „Die Mauer ist die abscheulichste und stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems.“
Kennedy ist von seinem Besuch derart erschüttert, dass er mehrmals vom vorbereiten Manuskript abweicht. Ziel der Rede ist es, ein starkes Bekenntnis zu Berlin abzugeben. Den Sowjets sollte einerseits der Meister gezeigt werden, anderseits sollten nicht alle Brücken abgebrochen werden, im Gegenteil.
Kennedy Erlebnis am Rande der Mauer führt ihn dann dazu, dass seine Empörung stärker zum Ausdruck kommt, als es das Redemanuskript vorsieht.
Er geisselt die dogmatischen Staaten im Osten. Sie seien den Herausforderungen der Welt nicht gewachsen. Das wurde da und dort als Kalte-Kriegs-Rhetorik verstanden. Auch im US-Aussenministerium gab es Leute, die glaubten, Kennedy sei zu weit gegangen und habe einer möglichen Entspannungspolitik geschadet.
Ermutigung zu einer neuen Ostpolitik
John Provan sieht es anders: Kennedy "ermutigte Brandt zu dessen Strategie, später unter dem Begriff ‚Ostpolitik‘ bekannt, nicht nur auf Konfrontation, sondern auf Kontakte, Kommunikation, und Handelsbeziehungen zu setzen. Gleichzeitig war das ein Affront gegen Adenauers starre, nicht mehr zeitgemässe Ausrichtung.“
Am Schluss sagte Kennedy:
„Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Berlin, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können, ich bin ein Berliner.“
Dann läuten die Freiheitsglocken.
19 Tage später stellen Willy Brandt und Egon Bahr ihre Vorstellungen zu einer neuen Ostpolitik vor.
Jacqueline Kennedy sagt nach der Ermordung des Präsidenten, ihr Mann habe mehrmals die Filmaufnahmen vom Deutschlandbesuch angeschaut. "Der Besuch war ein prägendes Ereignis in seinem Leben."
John Provan, "Ich bin ein Berliner", John F. Kennedys Deutschlandbesuch 1963, Berlin Story Verlag, 2013, Übersetzung Wieland Giebel, ISBN 978-3 86368-1122-8, Euro 9.80