Die Wahl war alles andere als selbstverständlich. Der Gegenspieler Rouhanis, Ebrahim Raisi, verfügte über Geld, Einfluss und Unterstützung im Staatsapparat, und er konnte darauf hinweisen, dass unter Rouhani die erhofften und versprochenen Verbesserungen der Wirtschaftslage Irans nicht oder nur in sehr bescheidenem Masse eingetreten waren.
Raisi führte auch eine „populistische“ Kampagne. Er versprach den einfachen Wählern finanzielle Unterstützung, wenn sie ihn wählen würden. Von den Kanzeln warben die Geistlichen überwiegend für ihn. Man kann sagen: Im Gegensatz zu den amerikanischen Wählern sind die iranischen nicht auf die populistischen Slogans eines mit leeren Worten und grossmäuligen Versprechen auftretenden Präsidentschaftskandidaten hereingefallen.
Die Bedeutung der Lokalwahlen
Viel weniger Beachtung als der Ausgang der Präsidentenwahl fanden die lokalen Wahlen in Iran, die gleichzeitig durchgeführt wurden. Alle Städte und Ortschaften wählen lokale Räte, die sich um die lokalen Angelegenheiten zu kümmern haben. Kandidaten, die sich für diese Räte bewerben, werden ebenso wie die Anwärter auf das Präsidentenamt von nicht gewählten geistlichen Gremien gesiebt. In ihrem Fall befinden die lokalen Richter der Scharia-Gerichte über ihre Zulassung. Nur Personen, die das Vertrauen dieser Aufsichtsgremien besitzen, können kandidieren.
Dies hatte bisher bewirkt, dass die lokalen Räte von den konservativen Mitgliedern dominiert waren. Wenn sich Befürworter der Reform des bestehenden Systems als Kandidaten anmeldeten, wurden die energischsten und bekanntesten von ihnen in der Regel schon vor dem Wahlgang entfernt. Was bisher zur Folge hatte, dass die konservativen, aber sich selbst gerne als „revolutionär“ bezeichnenden Kräfte, Befürworter des politischen Systems, wie es seit Khomeini errichtet worden war, gewählt wurden. Unter den lokal bekannten Personen waren sie meist die einzigen, die Zulassung zu den Lokalwahlen erlangten. Sie erhielten dann Stimmen, weil man sie kannte.
Die wenigen, nicht ausgesiebten, meist wenig bekannten Personen unter den verbliebenen Freunden der Reform, soweit es sie überhaupt gab, hatten das Nachsehen, weil sie über keine Kanzeln und über keine Fürsprecher von den Kanzeln verfügten.
Listen ersetzen die nicht erlaubten Parteien
Doch diesmal schritten die Freunde der Reform zu einer neuen Taktik. Nach der Ausscheidung der den herrschenden Kräften nicht genehmen Kandidaten stellten sie Listen von Bewerbern auf, die ihnen unter den Zugelassenen als die am ehesten den Reformbestrebungen zuneigenden galten. Diese Listen wurden über das Internet verbreitet. Sie bewirkten, dass die Freunde der Reform den Wählern bekannt gemacht wurden, sogar wenn es sich um Personen handelte, die als Individuen keinen hohen Bekanntheitsgrad besassen.
Die Listen führten neben den reformerisch ausgerichteten Kandidaten auch „Zentristen“ auf. Das heisst Personen, die vorgeschlagene Reformen nicht von vorneherein aus dogmatischen Gründen ablehnten.
Das Vorgehen wurde zuerst in Teheran anlässlich der Parlamentswahlen von Februar 2016 erprobt. Es führte dazu, dass damals die „Liste der Hoffnung“ mit 30 Abgeordneten vollständig ins Parlament gewählt wurde. In den jüngsten Lokalwahlen kam es erneut zur Anwendung und erwies sich als überraschend wirksam. Es führte zu einer Umkehr der Mehrheitsverhältnisse in den meisten lokalen Räten – vor allem in den grossen Städten, wo diese Räte von besonderer, oft wegweisender Bedeutung sind.
Mehr Frauen in den Lokalräten
Aufgrund von Listen zustande gekommene Mehrheiten der Befürworter von Reformen in den neuen lokalen Räten ergaben sich in Städten wie Teheran. Isfahan, Schiras, Meschhed, Täbris, und auch in weniger bekannten wie Khorramabad und Bandar Abbas. Die Zahl der gewählten Frauen nahm stark zu. In der weit abgelegenen Provinz Sistan-Belutschistan hatte es bisher in allen Land- und Stadträten 185 Frauen gegeben. Nun wuchs ihre Zahl auf 415.
Der Aufgabenbereich dieser lokalen Räte ist beschränkt, etwa auf öffentliche Transporte, Infrastruktur, lokale Kulturzentren. Doch ihre Bedeutung liegt auch darin, dass sie eine Schule für echte Demokratie abgeben. In ihnen müssen sich Gleichgesinnte und einigermassen Gleichgesonnene zusammenfinden, um gemeinsam praktische, konkrete Aufgaben zu lösen, die der Bevölkerung nützen. Es geht nicht um Ideologie, sondern um praktische, übersehbare Arbeit für die Gemeinschaft.
Die Wurzeln der Demokratie
Wenn man sich die Frage stellt, warum der hoffnungsvolle Aufbruch der arabischen Gesellschaften vom Frühling 2011 zusammenbrach und zu verschärfter Tyrannei oder zu bisher nicht überwundenem Chaos von zerfallenen Staaten führte, ist eine gewichtige der vielen einigermassen zutreffenden Erklärungen: weil es keine tragenden neuen Strukturen gab, und diese auch nicht improvisiert und ins Leben gerufen werden konnten, als die alten Regime unter dem plötzlichen Druck der Volksaufstände zusammenbrachen. Man rief nach „Demokratie“. Viele glaubten, wenn nur Wahlen stattfänden, sei sie erreicht. Übersehen wurde dabei, dass die erhofften und angestrebten freiheitlichen Strukturen auf mehr als auf blossen Wahlen beruhen mussten.
Es gab keine Parteien, die ein klares Programm ausarbeiteten und vertraten, dem Wähler zustimmen oder das sie ablehnen konnten. Es gab vor allem zu wenig Personen, die bereit waren und über Mitarbeiter dazu verfügten, sich über konkrete, ihre Gesellschaft betreffende Sachfragen zu orientieren, eine Meinung zu bilden und diese Meinung nach aussen hin verständlich und glaubwürdig zu vertreten. Mit anderen Worten, es fehlte an Personen, die darauf vorbereitet waren, in konkreten Sachfragen, nicht bloss mit ideologischen Slogans, Verantwortung zu übernehmen und Lösungen durchzusetzen.
Tief eingefleischte hierarchische Ordnungen
Dass solche Grundlagen für ein demokratisches Regime fehlten, war dadurch gegeben, dass die arabischen Gesellschaften weder in vorkolonialen noch in kolonialen noch in postkolonialen Zeiten andere Gesellschaftsordnungen gekannt hatten als hierarchisch strukturierte. Das heisst pyramidal aufgebaute, im Wesentlichen von einem Scheitelpunkt der Macht aus regierte und gelenkte Strukturen. Dies im Grossbereich der Reiche und Länder wie auch im kleinen der Stämme, der Städte und Dörfer.
Unter solchen Umständen bringt der Sturz der bisherigen Macht einen neuen Machthaber auf den Gipfel der Pyramide. Wenn dies nicht geschieht, wird es viele, auf den entscheidenden Spitzenposten abzielende, konkurrierende Teil-Machthaber geben, die einen erbitterten Kampf gegeneinander führen, der bis zur Zerstörung des gesamten Gemeinwesens gehen kann.
Die Möglichkeit der Zusammenarbeit und kollektiven Beschlussfassung und Ausrichtung auf bestimmte Ziele hin mit eingebautem Machtwechsel für den Fall, dass die erhofften Ziele nicht oder allzu ungenügend erreicht worden sind, gibt es nicht, weil die dazu notwendigen mentalen und organisatorischen Strukturen fehlen.
Langwierige Lernprozesse für die Demokratie
Solche Strukturen können aufgebaut und ihre Funktion erlernt werden, und die unterschiedlichen Gesellschaften können ihre eigenen Organisationsformen finden. Doch der Lernprozess braucht Zeit und ein Klima, in dem er sich ausbreiten kann. Die Geschichte der Länder, die sich demokratische Strukturen haben zulegen können, zeigt, dass der Entstehungsprozess dieser komplexen Strukturen nicht ohne Rückschläge vor sich zu gehen pflegt, und meistens nur nach bedeutenden Schwankungen hin und zurück über Generationen hinweg zu einer Verwirklichung durch feste und brauchbare Institutionalisierungen kommt.
Die Französische Revolution führte 1789 zum Sturz des alten monarchischen Systems. Doch eine stabil funktionierende Demokratie kam erst 1879 mit der Dritten Republik zustande. In den 90 Jahren der Übergangszeit hatte es zwei Kaiserherrschaften und zwei Formen der restaurierten Monarchie gegeben. Die Erste und die Zweite Republik hatten nur zwölf (1792–1804) und vier Jahre (1848–1852) gedauert.
Ansätze auf lokaler Ebene
Sogar wenn ein demokratisches Regime einmal erreicht ist, muss es beständig grössere oder kleinere Krisen und Herausforderungen innerer und äusserer Natur überstehen, beständig weiter gepflegt, immer wieder erneuert und dem Lauf der Zeiten angepasst werden, um fortzudauern.
Der Prozess der notwendigen mentalen und organisatorischen Wandlungen, der unabdingbar ist, wenn ein hierarchisches Einmann-Regime zu einer funktionierenden Demokratie umgebaut werden soll, kann im Kleinen beginnen. Lokalverwaltungen mit gewählten Verantwortlichen, können einen Keim dafür bilden, weil es dabei um überschaubare Verhältnisse geht und weil die praktischen Aufgaben in den Vordergrund rücken.
In Iran ist die Bildung von politischen Parteien verboten. Die Listen ersetzen Parteien mindestens teilweise, weil sie Gruppen von Personen erlauben, sich zum gemeinsamen Handeln zusammenzufinden und nach aussen hin als Kollektiv vorzustellen. Wenn sie gewählt werden, erhalten sie Gelegenheit, auf bestimmte konkrete Ziele hin zusammenzuarbeiten.
Versuch eines neuen Herrschaftsmodells in Iran
Der Umstand, dass sie auf praktische Fragen von beschränkter ideologischer Tragweite ausgerichtet sind, hilft mit, sich auf die gemeinsame Durchführung zu konzentrieren, ohne dass ideologische Differenzen hindernd eingreifen. Funktionierende Stadträte können ein Modell und Lehrstück für handlungsfähige Parlamente bilden. Doch der Vorgang, wie jeder Lehrvorgang, braucht Zeit.
Die iranische Revolution von 1979 kann als die erste Bewegung im muslimischen Nahen Osten gesehen waren, der es gelang, den bisherigen Alleinherrscher, der sich auf die „westliche“ Aussenwelt und ihre Waffen und Waffenträger abstützte, zu entfernen und ein eigenes Regime aufzubauen. Diese Revolution fiel nur sehr teilweise demokratisch aus. Ayatollah Khomeiny sorgte dafür, dass die islamischen schiitischen Gottesgelehrten in der Islamischen Republik Iran eine führende Rolle autoritärer Natur erhielten.
Reformversuche und Rückschläge
Über die 37 Jahre ihres bisherigen Bestehens hinweg musste der postrevolutionäre Iran zuerst einen verlustreichen und blutigen Krieg gegen den äusseren Feind, Saddam Hussein, führen. Er dauerte von 1980 bis 1988. Dann folgte eine Periode des Wiederaufbaus unter Präsident Rafsanjani 1989–1997. Unter seinem Nachfolger, Mohammed Khatami (1997–2005), gab es einen ersten zaghaften Versuch, das in seinen Grundzügen autoritäre System zu öffnen und der Bevölkerung mehr Mitspracherecht zu gewähren.
Es scheiterte im Wesentlichen am Widerstand der etablierten „islamischen“ Machthaber und ihrer Unterstützung durch ihre Waffenträger, die Revolutionswächter. Viele seiner ursprünglichen Parteigänger, die mitgeholfen hatten, ihn durch ihre Stimmen zur Macht zu bringen, warfen Khatami am Ende seines Mandates vor, er habe zu zaghaft gehandelt und es nicht gewagt, die Hoffnungen durchzusetzen, die er geweckt hatte.
Im Jahr 1999 war es zu Studentenprotesten gegen das herrschende System gekommen.Sie wurden von den Ordnungskräften und Revolutionswächtern blutig niedergeschlagen. Khatami verurteilte die Stundentenproteste sowie das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Doch die Waffenträger und Sicherheitsleute des Regimes erhielten genügend Unterstützung von Khamenei, dem Herrschenden Gottesgelehrten, um alle Reformversuche des Präsidenten zu vereiteln.
Die Machtprobe um die Wiederwahl Ahmadinejads
Die Mobilisierung der konservativen Gruppen und der Einsatz der Revolutionswächter und Bassij Milizen, um alle Reformbestrebungen abzuwürgen, führten schliesslich dazu, dass Mahmud Ahmadinejad, als Kandidat der harten Linie zum nächsten Präsidenten gewählt wurde (2005–2013). Die Wiederwahl für die zweite Amtszeit dieses konservativen und populistisch auftretenden Präsidenten im Jahr 2009 war umstritten. Seine Gegenspieler, die Befürworter der Reform, waren überzeugt, dass die Wahlresultate gefälscht worden waren. Dies führte zu der heftigsten Auflehnung gegen das Regime, die es bisher gegeben hat, in erster Linie in Teheran, aber auch in anderen grossen Städten Irans.
Die Proteste richteten sich zuerst gegen die vermutete Wahlfälschung, später gegen das Regime überhaupt, und dieses konnte sich nur mit Mühe und mit der Anwendung grosser Gewalt an der Macht halten. Die Proteste dauerten mehrere Wochen lang an.
Gewaltsam erstickter Protest
Nachdem sie schliesslich mit Gewalt erstickt worden waren, setzte eine schwere Verfolgung der Reform- und Oppositionskreise an. Es kam zu Folterungen und Morden an Gefangenen. Hussein Moussavi und Mehdi Kharroubi, die reformorientierten Gegenkandidaten des als gewählt bezeichneten Präsidenten Ahmadinejad, welche die Protestbewegung animierten, die sich Grüne Bewegung nannte, wurden schliesslich 2011 zusammen mit der Gemahlin Moussavis, Zahra Rahnaverd, unter Hausarrest gestellt. Sie sind seither bis heute nicht mehr frei gekommen. Andere leitende Figuren der Reformbewegung endeten in den Gefängnissen.
Trotz dieses Sieges der harten Linie ist das iranische Regime sich bewusst, dass es 2009 beinahe seine Macht über die Bevölkerung verloren hätte. Seither tut es alles, was es vermag, um neuen Ausbrüchen der Unzufriedenheit zuvorzukommen.
Negative Bilanz für Präsident Ahmedinejad
Das zweite Mandat Ahmadinejads endete als deutlicher Misserfolg. Der Präsident geriet in Streit mit Khamenei, dem herrschenden Gottesgelehrten, weil er sich dessen Willen nicht fügen wollte. Seine Wirtschaftspolitik, die daraus bestand, dass er den Armen Unterstützungsgelder auszahlen liess, führte zu einer schweren Inflation und zu Stagnation der gesamten Volkswirtschaft. Wobei allerdings neben den Fehlern des Präsidenten auch der amerikanische und westliche Boykott Irans wegen der Frage der Atomanreicherung eine Rolle spielte.
Vorrücken der Revolutionswächter
Die gesamte Atom-Politik mit dem Bau gewaltiger Anlagen zur Anreicherung von Uranium bis zur Bereitstellung von Material, das für eine Atombombe verwendet werden kann, befand sich in den Händen der Revolutionswächter. Sie befassten sich auch mit den expansiven Aspekten der iranischen Aussenpolitik. Ihre Führung ging darauf aus, mit den schiitischen Minderheiten in der arabischen Welt zusammenzuarbeiten, um sie als verbündete Hilfskräfte Irans zu organisieren. Dies besonders energisch im Falle der schiitischen Milizen Libanons, die Hizbullah genannt werden und in Israel als Bedrohung ihres Landes wahrgenommen werden.
Die Revolutionswächter unterstehen nicht der Regierung und deren Präsidenten. Sie stehen unter dem direkten Oberbefehl des herrschenden Gottesgelehrten. Die Wächter und ihre Führerschaft konnten sich den Boykott Irans zu Nutzen machen, indem sie als Spezialisten und Fachleute für die Unterwanderung der Boykottmassnahmen auftraten und wirkten. Was dazu führte, dass sie die wirtschaftlichen Organismen und Kräfte Irans weitgehend unter ihren Einfluss brachten und grosse Teile der iranischen Wirtschaft in ihren eigenen Besitz nehmen konnten.
Ahmadinejad stützte sich auf die Macht der Wächter und wurde von ihnen gestützt. Doch der Ausbau ihrer Eigeninteressen und ihre Beherrschung weiter Strecken der staatlichen und der bisher privaten Wirtschaftsbereiche ging unvermeidlich auf Kosten der iranischen Gesamtwirtschaft und bewirkte Stagnation und Arbeitslosigkeit, besonders im Bereich der neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Jugend.
Rouhani – Hoffnungsträger der Reform
Die Unzufriedenheit mit Ahmadinejad und seinen Parteigängern von Seiten Khameneis und von Seiten der Bevölkerung wuchs so stark an, dass die Aufsichtsbehörde des Wächterrates sich dazu entschloss, neben konservativen lininentreuen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl auch einen etwas liberaler ausgerichteten zuzulassen, der das Vertrauen Khameneis besass. Dies war Hasan Rouhani, welcher denn auch von der reformwilligen Mehrheit sofort als ihre beste Chance wahrgenommen wurde und in den Wahlen überraschend einen deutlichen Sieg davon trug.
Mit dem Rückhalt Khameneis machte der neue Präsident den Versuch, den Boykott zu überwinden, indem er sich bereit zeigte, mit den westlichen Mächten und mit Russland über die Atomfrage zu verhandeln. Die Verhandlungen zogen sich über zwei Jahre hin und brachten schliesslich eine Kompromisslösung, welche die Atomanreicherung in Iran nicht gänzlich verbot, sie jedoch unter Kontrolle der Internationalen Atomagentur stellte und in ihren Ausmassen soweit reduzierte, dass der Bau einer Atombombe für die kommenden 15 Jahre, für die der Vertrag gilt, unmöglich wurde.
Im Gegenzug wurden iranische Gelder freigegeben, die im Namen des Boykotts in den USA eingefroren worden waren, und die gesamte Aufhebung des gesamten wegen der nuklearen Streitfragen verhängten Boykotts wurde in Aussicht gestellt.
Die Erwartungen nach dem Nuklearabkommen
In Iran fand das Abkommen hoffnungsvolle Zustimmung in den Teilen der Bevölkerung, die eine Öffnung ihres Landes auf die Aussenwelt hin anstrebten. Die Revolutionswächter und die Vorkämpfer der harten Linie kritisierten es. Sie behaupteten die Rouhani-Regierung habe „den Feinden des Islams“ zu viele Zugeständnisse gemacht. Es war offensichtlich, dass die angestrebte Öffnung des Landes den Sonderinteressen der Wächter und ihrer Verbündeten, der Vertreter der harten Revolutionslinie, schadete, weil sie ihre Privilegien und Eigeninteressen untergrub.
Als das erste Vierjahresmandat Präsident Rouhanis 2017 zu Ende ging, war nicht mehr klar, ob der Herrschende Gottesgelehrte weiterhin hinter ihm stand, oder ob er sich entschieden hatte, ihn durch eine konservativere Figur abzulösen. Jedenfalls förderte er den Aufstieg eines erzkonserativ „revolutionären“ Gegenkandidaten in der Figur von Ebrahim Raisi, eines ehemaligen Richters, den Khamenei ein Jahr vor der Wahl zum Verwalter des gewaltigen Wirtschaftskonglomerates befördert hatte, das sich im Besitz der grossen Moschee von Meschhed befindet.
Rouhanis erfolgreiche Wiederwahl
Die soeben erfolgte Wiederwahl Rouhanis für ein zweites Mandat bestätigt die Erfahrung, nach der die iranische Bevölkerung in einer Mehrheit zwischen 60 und 70 Prozent liberale Reformen und eine Öffnung der Islamischen Republik auf die Aussenwelt hin befürwortet und ihre Meinung zum Ausdruck bringt, wenn ihr die Gelegenheit dazu geboten wird. Auch die lokalen Wahlen sollten diese Grundgegebenheit, wie oben erwähnt, aufzeigen.
Iran als feindliche Gegenmacht?
Wenn diese mehrfach bewährte Grundkonstellation in der iranischen Gesellschaft zutrifft, muss man sich fragen: Welche wäre die Iranpolitik von aussenstehenden Staaten, die sie fördern und welche jene, die sie einschränken würde? Die Antwort liegt auf der Hand: Alles, was die Möglichkeiten einer Integration in die Aussenwelt fördert, hilft dem Bestreben der iranischen Mehrheit, ihr Regime im Sinne grösserer Mitspracherechte der Bevölkerung zu reformieren.
Umgekehrt, alles, was die Iranische Islamische Republik aussperrt und isoliert, fördert die „konservativ-revolutionären“ Kräfte, das heisst, die Vorkämpfer eines expansiven Schiismus im Ausland und eines Machtmonopols der islamistischen Doktrinäre im Inneren. Der Komplex der Revolutionswächter und Sicherheitskräfte zusammen mit den von ihm in Besitz genommenen wirtschaftlichen Sektoren, blüht und wächst mit der Konfrontation – natürlich auf Kosten des übrigen Landes. Er verliert an Bedeutung und an Existenzberechtigung, wenn die Konfrontationen abnehmen und die Eingliederung Irans in die Umwelt voranschreitet.
Wenn Präsident Trump sich mit Saudi Arabien und mit Israel zusammentut, um „Iran“ als gemeinsamen Feind einzustufen, verstehen die drei Mächte „Iran“ als einen in sich geschlossenen feindlichen Block. Doch gerade dies ist Iran nicht, wie das Wahlverhalten der Bevölkerung dokumentiert.
Wen unterstützen die Aussenmächte?
Allerdings, wenn die Konfrontationen allzu massiv werden sollten, so dass alle Iraner sich und ihr Land als gefährdet ansehen, könnte die Konfrontation mit „Iran“ als Gesamtheit dazu führen, dass in der Tat ein Zusammenschluss aller Iraner stattfindet im Zeichen der notwendig gewordenen Selbstverteidigung des Landes.
Solange dies nicht geschieht und um zu vermeiden, dass es geschehe, sollte man in der Iranpolitik der Aussenmächte das Land nicht als einen Block auffassen, den es als solchen zu behandeln gelte, sondern vielmehr als aus zwei Hauptströmungen zusammengesetzt. Die erste ist zahlenmässig bedeutender aber machtmässig vorläufig schwächer, weil waffenlos. Sie strebt die Eingliederung ihres Landes in die Weltgemeinschaft an, Hand in Hand mit der Reduktion des Machtmonopols der „konservativ revolutionären“ Geistlichen.
Die zweite, entgegengesetzte Strömung lebt einem expansiven Traum vom (schiitisch) islamischen Staat nach, dem sie Einfluss in der gesamten islamischen Welt zu verschaffen gedenkt. Diese zweite „revolutionär konservative“ Strömung wird an Macht und Einfluss verlieren, wenn Iran von den Aussenmächten als gleichberechtigter Partner behandelt wird. Sie wird Macht gewinnen und diese über ganz Iran ausdehnen, wenn die Islamische Republik von der Aussenwelt boykottiert und ausgegrenzt wird.
Es hängt weitgehend vom Verhalten der Aussenwelt ab, natürlich und in erster Linie der amerikanischen, ob Iran den Weg von Südkorea einschlägt oder auf jenen von Nordkorea getrieben wird.