Die Amerikaner, die Iraner, die Türken und die Kurden stehen vor vergleichbaren Optionen gegenüber dem Irak. Die sich heute abzeichnende Möglichkeit eines ISIS Staates in Nordirak und Nordostsyrien bedeutet für alle vier eine grosse Gefahr.
Für ISIS sind die Schiiten Abtrünnige
Washington sieht seine Sicherheit in Gefahr und seine Position als Ordnungsmacht im Nahen Osten in Frage gestellt. Die Iraner müssen befürchten, dass ISIS mit seinen bereits öffentlich ausgesprochenen Drohungen ernst machen könnte und die grossen Pilgerstädte des Schiismus in Südirak zerstört sowie Massaker unter der schiitischen Bevölkerung anrichtet. Den ISIS-Leuten gelten die Schiiten als Heiden und Abtrünnige vom wahren Glauben. Sie wollen ihr Blut vergiessen.
Die schiitischen Interessen Irans
Eine gemeinsame Grenze mit ISIS dürfte für Iran eine Dauergefahr darstellen. Die Wichtigkeit der Pilgerstätten Kerbela und Najaf kann man daran ermessen, dass bis in die letzten Tage iranische Flugzeuge Zehntausende von Pilgern täglich nach Bagdad flogen, um ihnen die Pilgerfahrt zu ermöglichen. Diese Flüge wurden nun eingestellt, dabei sollen 170 000 iranische Pilger ohne Flugverbindung im Irak zurückgeblieben sein. Sie müssen nun versuchen, Autobusse zu finden, die sie über die Grenze zurückbringen.
Allgemeiner geht es um das Prestige Irans als schiitische Vormacht. Dieses würde schwer angeschlagen, wenn ISIS soweit nach dem irakischen Süden vordringt, dass es dort zu den bereits angekündigten Racheaktionen und "Reinigungen" gegenüber der schiitischen Bevölkerung kommt.
Religiöse Säuberungen
ISIS und seine Verbündeten haben nicht vergessen, dass sie, die irakischen Sunniten, den Bürger- und Religionskrieg um Bagdad der Jahre 2006 und 2007 verloren hatten. Ihre Niederlage hatte bewirkt, dass Bagdad aus einer gemischt schiitisch- sunnitischen Stadt zu einer überwiegend von Schiiten bewohnten Hauptstadt geworden war. Wenn der ISIS sich Bagdads bemächtigt, wird der "Islamische Staat" versuchen, diese Verhältnisse auf dem Wege der Drohungen und des Blutvergiessens wieder umzukehren.
Unerwünschter Nachbar für Kurdistan
Was die Kurden angeht, würde ein ISIS-Staat auch für sie, wie für die Iraner einen gefährlichen und unruhigen Nachbarn abgeben, dessen aggressive Grundhaltung eine latente Bedrohung bildete. ISIS würde gewiss auch versuchen, sich zur Schutzmacht der sunnitisch arabischen Minderheiten in den gemischten Gebieten aufzuwerfen. Die Nachbarschaft würde auch die Entwicklungsaussichten des kurdischen Staates trüben. Für die Türkei gilt ähnliches.
Das Debakel der iranischen Armee
Damit stehen die sämtlichen Aussenstaaten vor der Grundfrage, sollen sie nun entschieden genug eingreifen, um die Gefahr des ISIS Staates gewissermassen im Keim zu ersticken? Wobei sie allerdings eine Kriegsverwicklung in einem verräterischen Gelände riskieren müssten. Der Eingriff ginge anfänglich leicht vonstatten, doch ob und wie er zu Ende gebracht werden könnte, ist nicht voraussehbar.
Die Interventionen der Amerikaner von 2003 bis 2009, die letztlich allen beteiligten Staaten nur Schaden brachten, stehen allen vor Augen.
Doch ohne Eingriffe von aussen könnte ISIS möglicherweise ungehemmt weiter vorpreschen, bis sie Bagdad erreicht. Das Debakel der irakischen Armee in Mosul, wo den Beobachtern nach 170 000 Soldaten sich entweder gefangen gaben oder ihre Waffen niederlegten, ihre Uniformen auszogen und zu fliehen versuchten, spricht nicht dafür, dass die Regierung Maliki, alleine gelassen, sich in den sunnitischen Landesteilen des Iraks gegen ISIS zu halten vermöchte.
Versprechungen ohne Entscheide
Zwischen zwei Entscheiden, die beide wenig Erfreuliches verheissen, haben zunächst alle fünf Aussenstehenden verbal von Unterstützung für Maliki gesprochen. Was genau sie tun wollen, haben sie jedoch nur ganz unbestimmt angedeutet. Die Amerikaner sprachen davon, dass sie die legale Regierung von Bagdad nicht im Stich lassen würden. Waffen wollen sie ihr jedenfalls gerne und sogar beschleunigt weiter verkaufen.
Doch die auf privater Basis im Irak wirkenden amerikanischen Militärberater und Söldner ("military contractors") wurden zunächst aus Sicherheitsgründen ausser Landes gebracht. Was weiter getan werden soll, blieb offen. "Alle Optionen" würden erwogen, hiess es in Washington. Jedoch Soldaten, so unter der Hand mehrere Mitglieder der Administration Obama, würden im Irak nicht mehr eingesetzt werden. Sogar die Möglichkeit, der irakischen Luftwaffe mit amerikanischen Flugzeugen zu Hilfe zu kommen, wurde von solchen inoffiziellen Sprechern als unwahrscheinlich zurückgewiesen. Die Maliki-Regierung hatte um eine derartige Bombardierungshilfe ersucht.
Freund in Syrien, Feind im Irak?
Die Lage ist für die Amerikaner besonders verwirrend, weil ISIS in Syrien immer noch als ein Feind des Asad- Regimes auftritt, also die gleiche Haltung einnimmt wie die Amerikaner. Allerdings gewinnen die Gerüchte immer mehr Glaubhaftigkeit, die darüber umgehen, dass das Asad-Regime die ISIS-Kämpfer absichtlich schone, in dem es sie beispielshalber nicht aus der Luft angreift, weil deren Macht und Präsenz im Lager der Anti-Asad- Kräfte die westlichen Staaten (und wohl auch viele der Geldgeber aus dem Golf ) daran hindert, die syrische Opposition allzu energisch zu unterstützen.
Für Iran gib es weniger Widersprüche
Für Iran ist dies einfacher. Die Islamische Republik Iran ist ein Freund und Helfer Asads und ein Feind seiner Feinde, darunter auch der ISIS-Truppen. Ein Widerspruch allerdings besteht gegenüber Amerika. Washington ist noch immer ein Gegner Irans, obgleich es Verhandlungen mit Teheran gibt. Doch gegenüber ISIS sind die Amerikaner und die Iraner eigentlich potentielle Verbündete.
Angebote von Seiten Irans, man könne gemeinsam mit den USA gegen ISIS ankämpfen sind andeutungsweise von Präsident Rouhani gemacht worden. Doch die Amerikaner sind vorläufig nicht darauf eingegangen.
Hilfe ohne iranischen Einmarsch
Iran scheint sich zunächst dafür entschieden zu haben, der Maliki Regierung nach Kräften zu helfen, jedoch ohne offizielle Entsendung iranischer Truppen nach dem Irak. Iranische Berater und geheimdienstliche Helfer sind eine andere Sache. Iranische Waffen wurden ausdrücklich versprochen. Erwarten könnte man, dass Iran als Organisator und Stratege der schiitischen Milizen wirken könnte, deren Rekrutierung im Südirak schon im Gange ist. Ziel wäre dabei, den Guerilla Kämpfern des ISIS eine Anti-Guerrilla entgegenzustellen. Es gibt Ansatzpunkte dafür in den irakischen Schiitenmilizen, die im irakisch iranischen Krieg auf Seiten Irans gekämpft hatten und die nach dem amerikanischen Einmarsch und dem Sturz Saddams nach dem Irak zurückgekehrt waren.
Die Hakim Familie hatte eine dieser Milizen gebildet, Muqtada as-Sadr aus der Sadr Familie eine andere. Sie waren zu Beginn des Maliki Regimes von Maliki mit amerikanischer Hilfe ausgeschaltet worden, doch sie sind weiterhin mobilisierbar. Denkbar ist, dass solche Milizen an der Seite al-Malikis im Krieg gegen ISIS künftig eine ähnliche Rolle zu spielen vermöchten, wie die Hizbullah-Milizen aus Libanon an der Seite Asads. Auch Hizbullah ist ein Zögling Irans, genauer der iranischen Revolutionswächter.
Iran geniesst in Bagdad mehr Vertrauen
Das Vertrauen zwischen Maliki und der Regierung Irans ist zweifellos grösser als das zwischen Maliki und den Amerikanern. Dies schon deshalb weil die Amerikaner es nie unterlassen, Maliki öffentlich dafür zu tadeln, dass er eine einseitige Politik zugunsten der irakischen Schiiten betreibe und die Aufsässigkeit der Sunniten weitgehend selbst provoziert habe. Ganz abgesehen davon, dass er den Verbleib von amerikanischen Truppen und Ausbildern nach 2011 unterband, indem er und "sein " Parlament es ablehnten, den amerikanischen Soldaten Straffreiheit gegenüber den irakischen Gerichten zuzusichern.
Kritik der amerikanischen Offiziere
Die amerikanischen Offiziere, die heute noch als Sicherheitsoffiziere im Rahmen der amerikanischen Botschaft mit der irakischen Armee zusammenarbeiten, sprechen sich äusserst negativ über deren Fähigkeiten, Moral und Kampfbereitschaft aus. Dies obwohl sie wissen, dass die USA vor ihrem Abzug nicht weniger als 25 Miliarden Dollars dazu verwendet hat, um diese Truppen auszubilden. Seit Maliki regiere, erklären sie, sei es mit der irakischen Armee bergab gegangen. Dies aus politischen Gründen; beständige Führungswechsel seien eine der Folgen der Politisierung der Armee.
Die amerikanischen Gewährsleute sagen, die Politisierung der irakischen Armee, Korruption, schlechte Führung, kaputte Waffen und Material, mangelndes Vertrauen zwischen Armee und Regierung hätten alle zur Demoralisierung der irakischen Truppen beigetragen. In Mosul hätten vier der 14 irakischen Brigaden kampflos das Feld geräumt und ihre, von Amerika gelieferten, Waffen dem Feind überlassen. Sogar in Bagdad kämen manche der Wachtsoldaten zur Arbeit mit zivilen Kleidern unter der Uniform, so dass sie diese gegebenen Falles nur ausziehen müssten, um als Zivile zu fliehen.
Allerdings habe es sich bei den vier Brigaden um gemischte Einheiten gehandelt mit sunnitischen, schiitischen und kurdischen Soldaten. Jene, die nur aus Schiiten bestünden, stünden näher bei Bagdad und könnten sich möglicherweise als loyaler und entschlossener erweisen.
Gegenseitige Abneigung zwischen Maliki-Washington
Die irakische Regierung weiss natürlich auch, wie ihre amerikanischen Freunde sie einschätzt. Sie verfehlen nicht, ihrerseits Gründe zu finden, warum diese an dem Debakel mitschuldig oder gar hauptsächlich schuldig seien.
Aus solchen Gründen ist eine intime Zusammenarbeit, etwa auch auf dem Niveau der Geheimdienste, zwischen dem gefährdeten Maliki Regime und Iran sehr viel wahrscheinlicher und erfolgversprechender als etwas Vergleichbares mit Washington.
Das Kalkül der Kurden
Was die Kurden angeht, scheinen sie ihre Entscheidung bereits getroffen zu haben, indem sie Kirkuk besetzten, oder, wie sie es formulierten, vor der Bedrohung durch ISIS "in Schutz nahmen". Gleichzeitig erklärten sie sich auch bereit, Maliki gegen ISIS zu helfen. Sie nützen also das Vakuum aus, das durch den weitgehenden Zusammenbruch der irakischen Armee entstanden ist, um ihre alten Anliegen gegenüber Bagdad durchzusetzen.
Gleichzeit zeigen sie sich auch bereit, mit Bagdad zusammenzuarbeiten. Sie wissen wohl, dass Bagdad in seiner heutigen Lage auf ihr Hilfsangebot nicht verzichten kann und sich daher gezwungen sieht, die einseitigen Schritte seiner kurdischen Freunde und potentiellen Helfer hinzunehmen.
Die Türkei in Wartestellung
Die Türkei hält sich vorläufig bedeckt. Der Umstand dass der türkische Generalkonsul in Mosul und 47 weitere dort wirkende Türken von ISIS gefangen genommen worden sind, vermutlich als Geiseln, erlaubt es Ankara zu erklären, zunächst habe man sich um das Wohl seiner Bürger zu kümmern. Falls die Amerikaner etwas Konkretes gegen ISIS unternehmen sollten, dürfte Ankara jedenfalls bereit sein, seinerseits Hilfe zu leisten.