Doch nun schnappt die EU nach Luft, während Indien wieder einmal kurz und tief durchatmet und sich ohne Bange in ein neues föderalistisches Abenteuer stürzt – eine Neuverteilung der Bundesstaaten. Aus Maharashtra, Andhra Pradesh und Uttar Pradesh könnten bald einmal acht neue Bundesstaaten entstehen.
Beide Subkontinente, Indien und Europa, haben in den letzten sechzig Jahren ihre zivilisatorische Verwandtschaft genutzt, um die zahlreichen ethnischen und historischen Bruchstellen zu reparieren: den deutsch-französischen Gegensatz innerhalb Europas und den Hindu/Muslim-Graben in Indien. Europa hatte dank herausragender Persönlichkeiten nach der bitteren Erfahrung zweier Weltkriege die Nase vorn. Indien schien auf verlorenem Posten: Bereits bei seiner Geburt spalteten sich die Provinzen mit einer muslimischen Mehrheit ab und schufen Pakistan.
Kulturelles und wirtschaftliches Zusammenspiel
Doch dank dem Bekenntnis zu einer säkularen Demokratie hielt die multireligiöse Einheit Indiens. Sie bildete die einigende Klammer, innerhalb der die wirtschaftliche Entwicklung und Integration einsetzen konnten. Europa tat dasselbe - aber in umgekehrter Reihenfolge. Es begann mit der wirtschaftlichen Integration, die in einer politischen Vereinigung gipfeln sollte. War es eine Fehlkalkulation?
Wie immer man die heutige Krise einschätzt, sie zeigt, dass die wirtschaftliche Integration die nationalen politischen Kulturen Europas nicht einfach zum Verschwinden bringen konnte. Ein demokratisch geeintes Indien dagegen erwies sich als stark genug, um das enorme wirtschaftliche Gefälle durch die Schaffung eines riesigen Binnenmarkts allmählich auszugleichen.
Es war weiss Gott kein linearer Prozess. Immer wieder tönt mir der Titel von Naipauls Indien-Buch in den Ohren – „One Million Mutinies - Now“; und die wirtschaftliche Integration wurde um den Preis eines denkbar tiefen gemeinsamen Nenners auf der Armutsskala erkauft. Staatlicher Interventionsimus und freier Markt, durch die Demokratie verkuppelt, sind frigide Bettgenossen. Dennoch haben die Toleranz innerhalb der sozialen Kluften und die Existenz demokratischer Ventile bewirkt, dass dem Land schwere Sozialkonflikte erspart geblieben sind. Sie flammen zwar immer wieder auf – die Naxaliten sind ein Beispiel – , aber sie werden durch die schiere Grösse der Nation abgefedert, und sie konnten den nationalen Grundkonsens bisher nicht erschüttern.
Regionale Sensibilitäten
Ein weiterer Ausgleichsmechanismus ist der Föderalismus: Er anerkennt regionale Sensibilitäten, aber weil jeder Bundesstaat fest im nationalen Gefüge eingebunden ist, sind seine geografischen Demarkationslinien nicht sakrosankt. Bereits in den fünfziger Jahren wurden die Provinzgrenzen neu gezogen, um die kolonialen Grossräume in ethnisch-linguistische Einheiten umzuwandeln. Es bedurfte schon damals eines rituellen Selbstmords, um Delhi zu diesem Schritt zu zwingen. Aber nach der Verbrennung von Potti Sriramulu in Hyderabad im Jahr 1956 setzte Premierminister Nehru rasch eine ‚States Reorganisation Commission‘ ein. Sie liess die riesige ‚Madras Presidency‘ in die Staaten Tamil Nadu, Karnataka und Andhra Pradesh aufgehen, und aus der ‚Bombay Presidency‘ wurden Maharashtra und Gujerat.
Damals war die politische Antriebskraft für die neuen Grenzziehungen eine ethnische: Die Telugu-Sprecher wollten sich vom Diktat der Tamilen befreien und als ‚Andhras‘ eine eigene politische Identität bilden; desgleichen die ‘Kannadigas’ des ehemaligen Königreichs Mysore, die sich im neuen Bundesstaat Karnataka zusammenfanden. Im westlichen Indien waren die Gujeratis und Mahratten nur deshalb so lange zusammengeblieben, weil sie sich um das Kronjuwel Bombay stritten.
Streit um Hyderabad
Es ist interessant, dass ausgerechnet zwei dieser ‚neuen‘ Bundesstaaten nun wiederum einer Teilung entgegengehen. In Andhra Pradesh hat sich in den letzten Monaten die langjährige Forderung nach einer Abtrennung von ‚Telengana‘ von der Küstenregion zugespitzt. Während Wochen waren die öffentlichen Dienste durch Streiks lahmgelegt, und es kam zu teilweise schweren Zusammenstössen, mit vielen Toten. Falls der Streit nun zu einer neuen ‚States Reorganisation Commission‘ führt, dürfte Telangana Tatsache werden, vielleicht mit einer gemeinsamen Hauptstadt Hyderabad. Auch der Ruf nach einem neuen Bundesland ‚Vidarbha‘ im Landesinnern von Maharashtra hat gute Chancen, Realität zu werden.
In beiden Fällen sind es diesmal aber nicht ethnisch-sprachliche Forderungen, die die Antriebsfeder sind, sondern wirtschaftliche Ressentiments. ‘Telengana’ umfasst die alten Stammlande des Königreichs Hyderabad, das die Bauern in feudaler Abhängigkeit hielt und wenig in Infrastruktur und Modernisierung investiert hatte. Die Küstenregion dagegen hatte die Flusswasser aus dem Innern in Bewässerungskanäle abgezweigt und die Kasten der Zuckerrohr- und Reisbauern reich gemacht; und der Seehandel garantierte Offenheit für Modernisierung und Industrie. Bei der ersten Neuziehung der Gliedstaat-Grenzen hatten die Politiker verkündet, die Demokratie werde dieses wirtschaftliche Gefälle allmählich zum Verschwinden bringen.
Doch in Andhra Pradesh investierten die Reddy-Bauern zwar in der Telengana-Region – aber hier nur in der Hauptstadt Hyderabad; das grosse Hinterland blieb rückständig. Heute ist Hyderabad fest in den Händen der Unternehmer aus dem Delta, während die umliegende Region den Rekord in Bauern-Selbstmorden hält. Wie damals im Fall von Bombay ist es hier der Streit um Hyderabad, der den Trennungsprozess bisher blockiert hat. Beide Regionen beanspruchen dieses Juwel mit seiner IT-Industrie.
Erstaunliche Flexibilität
Das Gegenteil spielt sich in Maharashtra ab. Dort wollen die Vidarbha-Anhänger nichts mehr mit Bombay zu tun haben. Obwohl sich Bombay und Nagpur – die neue Haupstadt von Vidarbha – formell bereits heute in die Haupstadtrolle teilen (die Wintersession des Landtags findet jeweils in Nagpur statt), ist Bombay das kommerzielle, industrielle und politische Herz des Staats. Und Bombay, so der Vorwurf der Vidarbha-Anhänger, sorgt dafür, dass die Entwicklungsgelder in seine Umgebung fliessen statt ins Hinterland.
Ganz anders sieht es in Uttar Pradesh aus. Auch hier sind zwar ökonomische Gründe für die geplante Teilung verantwortlich. Aber nicht das Gefälle zwischen reich und arm sorgt für Spannung. Mit Ausnahme eines kleinen Streifens am Westrand – im Einzugsgebiet von Delhi – ist der ganze Staat bitterarm; er ist riesig und dicht bevölkert. Wäre es ein unabhängiger Staat, wäre Uttar Pradesh das Land mit der viertgrössten Bevölkerung der Welt (rd.200 Millionen). Ein solches Gebilde lässt sich nur schwer regieren. Deshalb war es die UP-Regierungschefin Mayawati selbst, die kürzlich vorschlug, den Staat in vier zu teilen. (Eine erste Abspaltung war bereits vor elf Jahren erfolgt, als die Himalayaregion mit ‚Uttaranchal‘ eine eigene Identität erhielt).
Ob von oben verordnet oder von unten erkämpft – es erstaunt die Flexibilität des Landes, wenn es darum geht, ethnische und wirtschaftliche Regionalkonflikte aufzufangen. In den 65 Jahren seiner Unabhängigkeit ist es Indien gelungen, auf der Basis einer vagen zivilisatorischen und geografischen Zusammengehörigkeit einen übergreifenden Konsens zu schaffen, der auch harte soziale, politische und wirtschaftliche Spannungen auszuhalten weiss. Es ist eine Leistung, die gerade in diesen Tagen an Kontur gewinnt, wenn man sieht, wie mühsam sich der Wirtschaftskoloss der EU auf seinen immer noch tönernen politischen Beinen hält.