Manche Wissenschafterinnen und Wissenschafter stehen politischem Aktivismus nahe oder beteiligen sich daran. Verraten sie damit das wissenschaftliche Ethos, das Distanz zur Politik verlangt? Oder sind sie mit ihrem Engagement schlicht auf der Höhe der Zeit?
Nun geht also die Wissenschaft auf die Strasse, und zwar nicht, um die Laien «aufzuklären». Die Umweltökonomin Julia Steinberger von der Uni Lausanne hat mit ihrer kleinen Protestaktion – Sitzblockade auf einem Autobahnzubringer in Bern – einer grossen Frage zu öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen: Wie politisch ist Wissenschaft; wie politisch kann und darf sie sein? Wenn sich jetzt bei vielen ein Unverständnis meldet, dann lässt sich dieses auf ein tiefsitzendes Selbstverständnis – oder eher Selbstmissverständnis – der neuzeitlichen Wissenschaft zurückführen. Ich sehe deshalb in Frau Steinbergers Aktion eine gute Gelegenheit, etwas weiter auszuholen.
Nicht in Politik einmischen
Erkenntnis der Sache, nicht Engagement für die Sache – das ist das Credo der modernen Wissenschaft. Im 17. Jahrhundert, im Statutenentwurf für die erste wissenschaftliche Institution der Neuzeit, die Royal Society in London, schreibt der Universalgelehrte Robert Hooke: «Gegenstand und Ziel der Royal Society ist es, die Kenntnisse von natürlichen Dingen, von allen möglichen nützlichen Künsten (...), Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern – ohne sich in (...) Politik einzumischen.»
Die Absicht entsprach nie der Wirklichkeit. Und eine Wissenschaftsideologie, das Narrativ des Elfenbeinturms, erhielt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Illusion aufrecht, Forschung sei eine unter Verschluss gehaltene Laboraktivität, deren Ergebnisse man «wenn’s beliebt» nutzen konnte – eine Dienstleistungswissenschaft.
Nun hat sich allerdings die Position der Wissenschaft in der Gesellschaft tiefgreifend gewandelt. Auf eine Kurzformel gebracht: Forscherinnen und Forscher mischen sich nicht ein, sie sind immer schon eingemischt. Und genau das bringt Julia Steinberger zum Ausdruck. Sie will als Umweltökonomin die «Kenntnisse der natürlichen Dinge verbessern», und sie will dies deshalb tun, weil die «natürlichen Dinge» ihre Lebenswelt betreffen. Diese gehört zur «Sache», die sie erforscht.
Expertentum neu definieren
Die traditionelle Antwort auf einen solchen Aktivismus ist natürlich das Bleib-bei-deinem-Leisten-Argument. Die Expertin hat Modelle und Evidenz zu liefern, die Regierenden machen Politik daraus. Zuerst die Fakten, dann die Politik.
Die Wissenschafterin, die die Demarkationslinie zwischen Expertentum und Aktion überschreitet, riskiert viel. Ihre Objektivität gerät in Zweifel, damit auch ihr Ruf, also ihre Existenzgrundlage. Und sie untergräbt die Autorität der Wissenschaft.
Ein Einstein auf dem Olymp der Wissenschaft konnte es sich leisten, in die öffentliche Debatte seiner Zeit einzugreifen. Die Wissenschaft war eine unangefochtene Autorität. Aber Autorität und Expertentum sind nicht ein für allemal definiert.
Statt also vorschnell den Stab über Frau Steinberger zu brechen, wäre es angebrachter zu fragen, ob man den Begriff der Expertin den neuen Problemsituationen anpassen müsste. Der Leisten hat sich verlängert, über das Labor hinaus. Vielleicht ist es nicht allzu übertrieben zu sagen, dass die Gesellschaft das Labor darstellt.
Von «matters of fact» zu «matters of concern»
Das heisst, die wichtigsten Forschungsobjekte heute sind nicht isolierte, unter Laborbedingungen studierbare Phänomene, sondern sozial und politisch «kontaminierte» Themen: erneuerbare Energien, genmodifizierte Organismen, Artensterben, Epidemien, Künstliche Intelligenz, Klima.
Nehmen wir das Thema, das Frau Steinberger beschäftigt: Wie bewahren wir unseren Lebensstandard unter der Bedingung verminderten Energieverbrauchs? Ein Thema, das zum Beispiel die technische Problematik der Wärmedämmung von Häusern mit der politischen Problematik der fehlenden Sanierungsmassnahmen verknüpft. Es geht hier, so hat es der Wissenschaftsforscher Bruno Latour einmal ausgedrückt, nicht bloss um Sachfragen – «matters of fact» –, sondern um Fragen, die uns angehen – «matters of concern».
Das Verflixte an den «matters of concern» ist ihre Komplexität. Das hat die Coronaepidemie lehrbuchhaft gezeigt. Wir haben es mit einem Problemknäuel zu tun, der sich nicht mehr in schön disziplinäre Fragen aufdröseln lässt: in virologische, medizinische, pharmakologische, epidemiologische, soziale, politische.
Immer öfter verhält es sich so, dass die Dispute wertegeladen, die Risiken hoch und die Entscheide dringend sind. Unterschied man herkömmlich zwischen «harten» objektiven Tatsachen und «weichen» subjektiven Werturteilen, kehrt sich die Differenz jetzt oft um: Harte politische Massnahmen sollten ergriffen werden und die dazu nötige Evidenzbasis ist weich.
Abwarten und Abschätzen
Im Film «Don’t Look Up» (2021) entdeckt ein Team von Astrophysikerinnen und -physikern einen Asteroiden, der Kurs auf die Erde hält. Das Team entschliesst sich, nicht die Öffentlichkeit vor der drohenden Apokalypse zu warnen, sondern direkt bei der US-Präsidentin vorzusprechen. Aber man nimmt die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nicht ernst, empfiehlt ihnen vielmehr, «abzuwarten und abzuschätzen».
Der Geochemiker Rich Pancost von der University of Bristol vergleicht diese Filmszene mit der rezenten Geschichte der Klimaforschung: «Diese einzige Szene bringt die Überschneidung von Wissenschaft und Politik in den letzten dreissig Jahren auf den Punkt – Zehntausende von Publikationen, sechs grosse IPCC-Berichte, eine Vielzahl von kleineren Risikoabschätzungen der UNO und anderer internationaler Organisationen. Ein Abwarten und Abschätzen historischer Grössenordnung.» [i]
«Als ob der Mensch eine Rolle spielte»
Nun wäre es gewiss unfair, die Anstrengungen der letzten Dekaden als nutz- und wirkungslos abzuqualifizieren. Es ist beeindruckend, wie das Wissen über den Klimawandel und seine Folgen wächst und wächst, dank globaler Netzwerke von Forschern. Aber das IPPC und andere Organisationen mögen noch so viel Wissen sammeln: Etwas fehlt, nämlich das Wissen, wie man mit diesem Wissen umgehen soll. Und genau dies ist ein grosses Defizit der Klimawissenschaft.
Die Ozeanographin Regina Rodrigues und der Klimawissenschafter Ted Sheperd haben das Defizit kürzlich auf eine einprägsame ironische Formel gebracht: Wir brauchen eine Klimawissenschaft «als ob der Mensch eine Rolle spielte».
Die Ironie liegt darin, dass die Klimawissenschaft tatsächlich das Klima studiert und nicht den Menschen im Klima. Viel Wissen liegt brach. Wir kennen die Ursachen der globalen Klimadynamik ausreichend, auf wissenschaftlicher Top-Ebene. Was wir weniger kennen, sind die Auswirkungen auf lokaler, auf Bottom-Ebene. Wir brauchen deshalb einen Ansatz, der die Menschen in lokalen Situationen berücksichtigt. Der Klimawandel betrifft Bewohner der Fidschi-Inseln anders als die Bewohner von Ostermundigen.
«Think local» ist mehr denn je die Devise. Gerade die Menschen vor Ort bringen oft ein Wissen mit sich, wie man sich mit den Unwägbarkeiten und Ungewissheiten ihrer konkreten Umwelt herumschlägt. Sie sind die eigentlichen Experten. Und das erkennen die Klimaforscher durchaus. Nicht wenige sehen hier die Erweiterung des Expertentums: Die Wissensproduktion wird «partizipatorischer» und «inklusiver».
Die Wissenschafterin als Proaktivistin
Vielleicht habe ich ein bisschen zu weit ausgeholt. Meiner Meinung nach lassen sich allerdings Störaktionen wie jene von Frau Steinberger erst in einem solchen Horizont angemessen einordnen. «Getting into good trouble» nennt sie sie. Man mag bezweifeln, ob die Aktion ihrem Anliegen dient. Frau Steinberger ist freilich keine Aktivistin. Sie weiss genau, was sie tut. Sie ist eine Proaktivistin. Sie sieht sich nicht bloss im Dienst der Sache, sondern der guten Sache.
Julia Steinberger hält nach wie vor Objektivität hoch, sie kennt den Unterschied zwischen der unpersönlichen disziplinären und der «undisziplinierten» persönlichen Perspektive, sie liefert Fakten, arbeitet gemäss dem aktuellen methodischen und erkenntnistheoretischen Kanon ihres Fachs. Aber dieser Kanon schliesst ihr Engagement nicht aus, sondern ein. Sie verkörpert einen neuen Typus von Wissenschafterin, den anwaltschaftlichen. Davon braucht es mehr. Viel mehr.