Die Matrix-Filme spiegeln ein Gefühl der Entfremdung, das sich kaum noch an einer sichtbaren Demonstration von Macht festmachen lässt. Eine solche Befindlichkeit kann sich gerade auch in der modernen Arbeitswelt einstellen. Und dennoch ist die legendäre Filmtrilogie der Wachowskis von der narrativen Anlage her anachronistisch. Sie spiegelt nämlich eine kulturelle Konfrontation, die in dieser Form die Gesellschaften des Westens allenfalls bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts umtrieb. Damals gab es einen einigermassen geschlossenen Block von Wertvorstellungen.
Innerhalb dieser «Matrix» von Normen und Werten hatte das Allgemeine Vorrang vor dem Besonderen, das Traditionelle rangierte vor dem Neuen und die Pflicht vor der Lust. Die Menschen wurden moralisch auf Konventionen, ökonomisch auf eine durchgängige Standardisierung verpflichtet und so in ihrer Individualität massiv beschnitten. Gegen diese Gleichschaltung traten nun – unter dem Banner der Modernität – unterschiedliche Gegenkulturen an, die alle auf die Befreiung des Individuellen setzten und den radikalen Bruch mit den Zwängen der Vergangenheit forderten.
Durch Authentizität zu neuer Offenheit
Die unterschiedlichen Gegenkulturen verstanden sich als Avantgarden, als Speerspitzen des Fortschritts, die auf Neuland vorpreschten und dabei all die Ängstlichen hinter sich liessen, die defensiv an den konventionellen Orientierungen festhielten. Es waren vor allem die Existenzialisten, die mit dem Konzept der Authentizität ein neues moralisches Gütesiegel erfanden. Echtes Menschsein gestanden sie nurmehr jenen zu, die den Mut zum Sprung aufbrachten. Vorhut sein, das Alte zurücklassen, aus herkömmlichen Bindungen ausscheren, all dies wurde im Rahmen der modernistischen Gegenkulturen zur neuen Pflicht.
Über der Achse zwischen Normalität und Überschreitung bildete sich also im klassischen Industriezeitalter ein eigentlicher Kulturkampf heraus. Zunächst betraf er nur die Eliten, doch in den Sechzigern begann er breitere Schichten zu bewegen. Dieser Kulturkampf hatte allerdings einen paradoxen Effekt: Auf der einen Seite stellte er überkommene Wertvorstellungen in Frage, doch im Gegenzug schuf er auch wieder eine einfache, allgemeine Orientierung. Er stellte jeden vor die Wahl, ob er drinbleiben oder aber die bürgerliche Komfortzone überschreiten wolle. Im Spannungsfeld, das so entstand, trieben die westlichen Gesellschaften unweigerlich in eine klare Richtung, nämlich auf grössere Offenheit zu.
Pluralität – Stillstand – Melancholie
Die rebellischen Gegenkulturen wiesen die Herrschaft des Allgemeinen zurück und ebenso alle damit verbundenen Ausschliessungen. Aber genau dadurch bedienten sie sich einer letzten allgemeinen Exklusion. Sie besteht im Tabu, das über alles Gestrige verhängt ist. Auf diese Weise erzeugten die Rebellen eine Strömung, welche die monolithische bürgerliche Werteordnung unterspülte und letztlich in sich zusammenfallen liess.
Danach ist alles anders: Die Matrix gibt es nicht mehr. An ihre Stelle tritt eine Pluralität von «Matrizen», von Werte-Welten, die sich gegenseitig als Projektionsflächen für das je eigene Konzept von Unfreiheit benutzen. In einem Spielfilm mit der entsprechenden Erzählanlage könnte Authentizität nicht mehr das einfache Gegenteil zur Verhaftung im Gewohnten bilden, weil sie eine Situation spiegeln müsste, in der eine Vielzahl von Wertsystemen konkurrieren, die je unterschiedliche Anpassungen fordern würden. Wogegen er sich auch auflehnt, der Held könnte sich nie sicher sein, ob er auch wirklich «draussen» ist. Darüber würde ihn wohl bald die Melancholie einholen – eine Befindlichkeit, die zuweilen ja auch unsere Gesellschaft heimsucht, weil ihr ein eindeutiger Zeitvektor abhandengekommen ist. Wenn sich nämlich das Fortschrittskonzept – die säkularisierte Endzeithoffnung – erst einmal pluralisiert hat, dann führt das zur gegenseitigen Blockierung, ja letztlich zum Stillstand im Status quo.
Linke, Neoliberale und Populisten
Bei einem Überblick über die Diskurslandschaft der alten Industrieländer zeigen sich drei derzeit leitende Formationen, von denen sich jede durch spezifische Abgrenzungen kennzeichnen lässt. Da ist einmal das linksalternative Diskursfeld. Es steht in der direkten Tradition der existenzialistischen Gegenkulturen und führt deren Kampf gegen die Instanzen des Allgemeinen fort. Hier gilt nach wie vor das Ganze als das Unwahre (Adorno), verpflichtende Identität als inhuman und die liberale Wirtschaftsordnung als Irrweg.
Dieser Matrize steht die neoliberale Diskursfamilie gegenüber, die ebenfalls gegen das Alte ankämpft, dieses aber gerade in einer Institution verkörpert sieht, die den Linken heilig ist: nämlich im Sozialstaat, der die Konkurrenz mildern und für die Schwächeren Ausgleich schaffen soll.
Zuletzt dann die laute Fraktion der Populisten, die sich selbst rebellisch aufputzt und gegen die Intoleranz des liberalen Konsenses wettert. Für den Wutbürger stellen Political Correctness bzw. generell die Werte einer offenen Gesellschaft die zu bekämpfende Matrix dar. Hinter der etablierten Politik oder in den Medien vermutet er deren Agenten am Werk.
Diese drei Diskursfamilien sind aber nicht nur untereinander heillos zerstritten, sondern auch im Innern alles andere als harmonisch, was zusätzlich die Schwierigkeit erhöht, in der Politik tragfähige Kompromisse zu finden.
Spiegelkabinett wechselseitiger Feindbilder
Alle drei Matrizen stehen letztlich in der Erblinie des modernen Umbruchs. Deshalb kultivieren sie auch gemeinsam das Muster der Überschreitung. Die Richtungen allerdings, in denen sie die Zukunft sehen, unterscheiden sich diametral. Dabei bilden diese Matrizen insofern ein Spiegelkabinett, als sie sich gegenseitig die Rolle des falschen Allgemeinen zusprechen, das die Menschen versklavt. Aus der Perspektive einer jeden dieser Diskursfamilien erscheint jede andere als die Matrix, die es zu überwinden gilt.
Die Linksalternativen machen Unfreiheit primär an der Wirtschaftsordnung fest und sekundär am Ordnungsstaat, soweit dieser die ökonomischen Verhältnisse stützt. Was die Menschen in Unfreiheit hält, das sind ihre spiessigen Ängste sowie der verstockte Eigennutz, mit dem sie sich an ihre Privilegien klammern. Könnten sie sich davon lösen, so winkte die grosse Freiheit.
Im Gegensatz dazu verorten die Neoliberalen die Matrix im Sozialstaat mit seinen Regulierungen und Kontrollinstanzen, welche die unternehmerische Initiative abwürgen. Hemmend wirkt sich aus dieser Sicht zudem eine in der Bevölkerung verbreitete Befindlichkeit aus: eine ängstliche Rückwärtsorientierung, die auf Sicherheit bedacht ist und neuen Herausforderungen auszuweichen versucht. Wären die Menschen erst bereit, den freien Wettbewerb anzunehmen, dann ginge die Post ab.
Beide Diskursformationen, die linksalternative und die neoliberale, tragen insofern eine modernistisch-progressive Tönung, als sie das Alte hinter sich lassen und zu einem offenen Horizont aufbrechen wollen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich denn auch klar von den populistischen Bewegungen, die zwar auch zum Aufbruch rufen, als Ziel dabei aber das Altbekannte, letztlich eine vergangene Welt im Auge haben. Auch sie kommen allerdings nicht ohne das Bild der grossen Gefangenschaft aus, der sie sich mit demonstrativ rebellischer Geste widersetzen. In der Perspektive der Populisten besteht die Matrix im Öffnungsdiktat, mit dem die Eliten die freie Zirkulation von Waren, Geld und Menschen erzwungen haben – letztlich zum Schaden der sozial Schwächeren. Gefangen in dieser Matrix sind die Menschen durch schiere Manipulation, einmal seitens der etablierten Politik, die sich vom Bürger entfernt hat, dann seitens der Medien, welche eine volksferne Ideologie verbreiten. Von dieser Voraussetzung her kann der Bruch mit jedem politischen Anstand oder das Bekenntnis zum Postfaktischen als Zeichen gelten, dass einer den Durchblick hat und sich nicht länger von allerlei Agenten gängeln lässt.
Zersplitterung der adventistischen Gemeinde
Die klassischen Gegenkulturen bewegten sich in einem eschatologischen Horizont: Durch Überschreitung des Bestehenden hofften sie die Ankunft – den Advent – einer besseren Welt herbeizuführen. Solange das Bestehende leidlich homogen war, erzeugte diese Erwartung einen gerichteten Veränderungsdruck, unter dem sich der Spielraum für die Einzelnen laufend vergrösserte. Doch mit der Zersplitterung der monolithischen Matrix spaltete sich auch die adventistische Gemeinde. Die verschiedenen Fraktionen machen sich zwar weiterhin auf grosse Fahrt, doch jede mit ihrem eigenen Kompass; und so tritt man in der Summe an Ort.
Aber das ist noch nicht alles: Die Gegenkulturen setzten den Teil vor das Ganze, den Einzelnen vor die Gemeinschaft. In der aktuellen Fortsetzung dieser Wertung kommt es auch innerhalb der Diskursfamilien zu immer schärfer akzentuierten Differenzen. Authentizität lässt sich nur in der Distanzierung gewinnen. Unter dieser Vorgabe bedeutet selbst der partielle Mainstream ein Zuviel des Zwangs. In der Folge grenzen sich laufend Unterströmungen, Milieus und Szenen von den Hauptlinien ab, um schliesslich tribalistisch um ihre eigenen bornierten Fetische zu kreisen. So sind die grossen Diskursgemeinden nicht nur nach aussen untereinander verkracht, sondern auch im Innern mit sich zerfallen und dadurch bloss noch sehr bedingt handlungsfähig.
Die moderne Gegenkultur trat an gegen Konventionalität und Anpassung, das heisst gegen einen Kollektivnarzissmus, dem die Individuen ihre Besonderheit zu opfern hatten. Doch der Narzissmus ist heute keineswegs aus der Welt, er hat nur eine andere, eine quasi-regionale Gestalt angenommen. Alle sind wir betont anders, doch das Andere, das anders ist, soll draussen bleiben. Eine endemische Selbstbezüglichkeit von Individuen wie von Gruppen erschwert den Dialog und verbaut den Weg zu einem halbwegs haltbaren politischen Konsens. Im Mythos von der heilbringenden Überschreitung finden wir einen letzten gemeinsamen Nenner. Aber statt einen verbindenden Bezugspunkt zu bilden, verschärft er nur die Spaltungsdynamik, die im ökonomischen Auseinanderdriften der Schichten ohnehin angelegt ist.
Der gekaperte «homme en révolte»
Sie mag einst eine wahre Geschichte gewesen sein, die Erzählung vom gesellschaftlichen Moloch, der die Individuen einem brutalen Diktat des Allgemeinen unterwirft. Aber ein gutes halbes Jahrhundert später stehen nicht einfach gute Rebellen einer repressiven Matrix gegenüber; die Dinge sind unendlich viel komplexer geworden. Die spontan-aufmüpfige Geste kann zwar weiterhin einen punktuellen Flash auslösen, ein kurzes persönliches Freiheitsgefühl. Unter dem Gesichtspunkt des Ganzen jedoch bringt sie kaum langfristige Handlungsperspektiven. Die individuelle Revolte, die einmal ein wirkmächtiger Gegenwurf zur gesellschaftlichen Wirklichkeit war, hat unter den derzeitigen Umständen ihre politische Dimension weitgehend eingebüsst.
Es sieht aus, als hätte die Matrix das Freiheitskonzept gekapert, es quasi ins Set der eigenen Programmroutinen übernommen – und damit als Ausweg nachhaltig illusorisch gemacht. Die Melancholie der Jetztzeit mag daher rühren, dass uns die aktuelle Form der Macht in der Tat wie eine Gebärmutter – eine Matrix – umschliesst, uns nährt und wärmt. So viel wir auch zappeln, wir kommen nicht raus.
Dies ist der dritte Beitrag in einer vierteiligen Reihe.
Teil 1: «Verschleierte Zwänge»
Teil 2: «Existenzialismus reloaded»
Teil 4: «Existenzialistisches Ethos heute»