Liest man sie noch, 166 Jahre nach ihrem Tod? Kennt man noch die Autorin des Gedichts? „Oh schaurig ist’s übers Moor zu gehen…O, schaurig, war’s in der Heide.“ Liest die junge Generation noch Gedichte?
Dass Annette von Droste-Hülshoff, eine der faszinierendsten deutschen Autorinnen des 19. Jahrhunderts, nicht vergessen wird, ist jetzt dem Zürcher Römerhof Verlag zu verdanken. Er legt eine vor 65 Jahren geschriebene, über 500 Seiten dicke Biografie neu auf. Offenbar erleben Gedichte eine Renaissance, und so liegt diese Neuauflage genau richtig.
Annette von Droste wurde auf Schloss Hülshoff, einer vom Wasser umspülten Burg in Westfalen, geboren. Sie starb mit 51 Jahren, gebrochen und einsam, in der Meersburg am Bodensee. Zweimal war sie bis über alle Ohren verliebt, und zweimal wurde sie sitzengelassen. Immer wieder litt sie an ihrem Leben. Und doch schrieb sie wunderbare Gedichte und stieg zur umschwärmten deutschen Nationaldichterin auf.
Wundersames Leben
Das komplizierte Leben des „Freifräuleins“ Droste zu Hülshoff ist hundertmal interpretiert worden. Immer anders. Die einen sehen den Grund für ihre tiefe Einsamkeit in der Zeit, in der sie lebte: einer Zeit, in der im stockkonservativen Westfalen Frauen gesellschaftlich zurückgebunden wurden. Andere sehen Einflüsse ihrer gütigen, aber doch sehr strengen Mutter. Und wieder andere vermuten Annettes Unvermögen, eine normale Frau-Mann-Beziehung einzugehen. Oder ist es ihr Freiheitsdrang oder der Druck (der Terror?) ihrer Familie oder die Furcht, sich zu binden oder der Wille, es den Männern gleichzutun?
Die neu aufgelegte Biografie von Marie Lavater-Sloman breitet das Leben der Droste Hülshoff derart detailliert aus, dass es jedem und jeder erlaubt ist, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Den Lesern wird nicht vorgeschrieben, wie sie dieses wundersame Leben interpretieren und werten sollen. Jeder kann das auf seine Weise tun. Das ist eine der Stärken dieser Lebensbeschreibung.
Stürmisches, exzentrisches Temperament
Die Eltern erwarten 1797 einen Knaben. Es kommt, zwei Monate zu früh, ein Mädchen. Annette entwickelt sich schnell zu einem lebenslustigen, wilden Geschöpf. Mit sieben Jahren schreibt das zierliche, blonde Mädchen ihr erstes Gedicht. Sie klettert in den Turm ihres Wasserschlosses, dort, wo sich ihre Brüder nicht hin getrauen. Weit oben entdeckt sie Fledermäuse, Käuzchen, Schwalben und Falken.
Sie liebt das Dämonische, das Okkulte. Sie träumt seltsame Träume. Die Bauern sagen, man habe das adlige Fräulein gesehen, über Wasser zu schreiten.
Annette dichtet nicht nur, sie komponiert auch und singt mit einer wunderbaren, tiefen Stimme.
Ihre strenge Mutter tut sich schwer mit ihrem stürmischen, exzentrischen Temperament. Annette ist kein Mädchen wie die andern. Sie hasst Handarbeit, sie will keine Frau am Herd sein, vor allem will sie nicht heiraten. Sie will frei bleiben. Wenn sie traurig ist, zieht sie hinaus in die Heide und aufs Moor.
Und weg ist sie
Ihre erste Freundin heisst Katharina Busch, genannt Kathinka. Sie, und vor allem ihr Sohn, werden ihr Leben prägen. Sie sieht in Kathinka eine Geistesverwandte und liebt sie mit all ihren Gefühlen. „Du hast es nie geahnt, nie gewusst, wie gross mein Lieben zu dir gewesen“, schreibt sie später. Doch Kathinka heiratet – und weg ist sie. Die Zurückgelassene wird krank, schwermütig.
Annette ist eine Einzelgängerin. Sie tanzt nicht, wie ihre Kolleginnen, sie interessiert sich nicht für Kleider und das Männer-Geschwätz ihrer Freundinnen. Sie lebt in ihren Gedichten.
Ohne ihre Mutter geht gar nichts. Im Rittergedicht „Walter“ lässt Annette einen Freiherrn Selbstmord begehen. Der dominanten Mutter gefällt das gar nicht. Ein Freiherr bringt sich nicht um. Annette muss den Text umschreiben. So erweckt sie nun den Freiherrn wieder zum Leben – und lässt ihn, standesgemäss, eines natürlichen Todes sterben.
„Der Rausch der Liebe“
Jetzt tritt ein Mann in ihr Leben: Heinrich Straube. Sie verlieben sich, sie merken, dass sie Geistesverwandte sind. Annette, die immer kränkliche junge Frau, blüht auf: leidenschaftliche Küsse, tiefverborgene Leidenschaft zwischen zwei gleichberechtigten Geistern. „Ich habe ihn so lieb, dass ich keinen Namen dafür habe“ sagt sie. „Es kommt der Tag“, schreibt die Biografin, „da er Annette in seine Arme reisst und sie lehrt, was der Rausch der Liebe ist“. Was das auch immer heissen mag. Doch heiraten will Annette nicht. Sie will ihn lieben, doch frei sein. Die Mädchenschar schreit: Du willst nicht heiraten, du willst deine Frauenpflichten meiden, du willst es den Männern an Unabhängigkeit gleichtun.
Dann ein Streit, ein Missverständnis – und weg ist er. Sie geisselt sich, sie sei tot, verdorrt, ein stehendes Gewässer, ein Stein. Sie wird hypochondrisch und stumpf. Später heisst es, sie besässe „kein Organ für die Liebe“.
Was ist aus dem geistreichen, lebenslustigen Mädchen geworden? Wochenlang kann sie nicht schreiben.
Magenkrämpfe, Erbrechen
Da erscheint plötzlich Kathinka wieder. Ihre Ehe ist ein Reinfall. Doch schon bald, mit 36 Jahren, stirbt ihre geliebte Freundin. Wieder wird Annette krank, Magenkrämpfe, Erbrechen. Kathinka hat einen Sohn. Er wird Annettes Leben verändern – und stark beschädigen.
Annettes Schwester Jenny heiratet einen viel älteren Mann und zieht zu ihm an den Bodensee, zuerst nach Eppishausen im Kanton Thurgau, dann in die Meersburg auf der deutschen Seite. Dort taucht jetzt Annette immer häufiger auf.
Die Schweiz mag sie nicht, ein Land, wo sie „keine Nachtigall und keine Liebe“ fand. Von den Schweizer Kutschern hält sie gar nichts. „Es gibt überhaupt nichts Elenderes als einen Schweizer Kutscher, grenzenlos ungeschickt, furchtsam wie alte Weiber und doch aus Habsucht das Unvernünftigste unternehmend. Sie verstehen die Kunst, dich auf der ebensten Chaussee auf die Seite zu legen“.
Liebesschwüre jagen sich
Levin Schücking heisst der Sohn ihrer verstorbenen Freundin Kathinka. Mit ihm verbringt sie die schönste Zeit ihres Lebens. Er ist 16 Jahre jünger als sie, doch die beiden lieben sich, klammern sich aneinander, gehen spazieren, schütten ihre Herzen aus, liebkosen sich, suchen sich in jeder freien Minute auf, schreiben sich herzzerreissende Briefe.
Annettes Schaffenskraft war nie so gross wie jetzt. Fast 50 Gedichte schreibt sie in diesem Jahr. Liebesschwüre jagen sich. Levin kriegt auf der Meersburg eine Anstellung als Bibliothekar beim Mann ihrer Schwester.
Dann plötzlich geht Levin fort. Warum? Ist er vor Annettes überschwänglicher Liebe geflohen? Ist er gegangen, weil er als Mann „auf die Erfüllung der Liebe gedrungen“ hatte, doch eine intime Beziehung war ihr fremd? Die Biografin hält das für unwahrscheinlich.
Annette bricht zusammen. Sie wird schwer krank, Nervenkrämpfe immer wieder, Fieber, Übelkeit.
Schäbiger Levin
Es kommt noch schlimmer: Levin knüpft eine Beziehung zu Luise von Gall, einer jungen, schönen, hochnäsigen Schriftstellerin. Er setzt sich in den Kopf, sie zu heiraten, obwohl er sie nie gesehen hat. Lange korrespondieren die beiden und Levin verliert mehr und mehr den Kopf. Schliesslich treffen sie sich, verloben sich. Levin wirft sich blindlings in die Ehe.
Annette ist am Ende. Levin sagt seiner jungen Frau: „Die Droste war eine Freundin meiner Mutter, ich habe eine Mutter an ihr wiedergefunden“.
Annette hofft noch auf ein wenig Freundschaft. Einmal besucht das junge Paar die Meersburg. Doch es kommt schlecht. Die junge Frau tut alles, um das letzte Gemeinsame zwischen Annette und Levin zu zerstören.
Levin verhält sich schäbig. Er veröffentlicht Anekdoten der Familie Droste-Hülshoff, die ihm Annette im Vertrauen erzählte, und die die Adelsfamilie der Lächerlichkeit preisgeben. Auch in einem Lexikon zieht er über Annette her.
Verlage reissen sich um sie
Sie ist tief verletzt und zerbricht. Sie wird sich in den letzten Jahren ihres Lebens nicht mehr erholen.
Und gerade jetzt steigt sie zu einer der wichtigsten und verehrtesten Dichterinnen Deutschlands auf. Verlage und Zeitungen reissen sich um sie. Die Kritiken sind hervorragend. Doch von Kritiken hält sie wenig, weder von guten noch von schlechten.
Das Dichten fällt ihr immer schwerer, sie zieht sich zurück, sie vereinsamt. Über Meersburg hat sie in einem Weinberg ein Häuschen gekauft. Dort sitzt die Eremitin jetzt und blickt auf den spiegelnden See hinunter.
1848 ist ein stürmisches Jahr. In Europa brechen Revolutionen aus. In der gegenüberliegenden Schweiz bekämpfen sich Katholiken und Protestanten. Annette erfährt vom Sonderbundkrieg und fiebert mit den kleinen katholischen Kantonen. Sonst hat sie kaum mehr Interessen.
Kurz vor dem Tod übergibt sie ihrer Schwester ein Gedicht, ihr letztes. „Geliebte, wenn mein Geist geschieden, so weine mir keine Träne nach, denn wo ich weile, dort ist Frieden, dort leuchtet mir ein ewiger Tag“.
Sie beginnt Blut zu husten. Am 24. Mai 1848 stirbt sie in ihrem Zimmer in der Meersburg.
Auch das hat seinen Charme
Die Biografie von Mary Lavater-Sloman wurde 1950 erstmals veröffentlicht. Sie ist – sprachlich – ein Produkt jener Zeit. Für heutige Leser wirkt sie oft etwas allzu pathetisch, schwülstig und langfädig. Mary Lavater hat sich so in die Dichterin hineingelebt, dass ihr ab und zu die Distanz verlorengeht. Doch auch das hat seinen Charme.
Mary Lavater-Sloman
Annette von Droste-Hülshoff
Einsamkei
Römerhof Verlag, Zürich
Erste Auflage 2014
ISBN 978-3-905894-26-4