Genf hätte Grund, sich zu schämen. Die Stadt behandelte ihren „citoyen de Genève“ wie einen Schurken. Sie jagte ihn davon und verbrannte seine Bücher. Jetzt, zu seinem 300. Geburtstag, versucht sie die Wiedergutmachung.
Die kleine Rousseau-Insel am Ausfluss der Rhône aus dem Genfersee ist geschmackvoll umgestaltet. Pappeln sind gepflanzt. Sie sollen an das Inselchen in Ermenonville bei Paris erinnern – dort wurde Rousseau zuerst begraben. In Rousseaus Geburtshaus in der Genfer Altstadt ist eine ausgezeichnete audiovisuelle Show aufgebaut. Hier werden die Höhepunkte aus seinem Leben präsentiert.
Überall finden Vorträge statt, Konferenzen, Ausstellungen und Musikdarbietungen: Im Musée d’art et d’histoire, im Musée Rath, im Maison Tavel, in der Bibliothek, im Théâtre Cité bleue, im botanischen Garten, im Musée d’éthnographie, in der Ecole Internationale, in der Fondation Bodmer, im Musée Voltaire. Am Geburtstag selbst, Ende Juni, ist die Bevölkerung zu einem Republikanischen Bankett eingeladen. Rousseau partout, Rousseau überall.
Die Ayatollahs von Genf
Kann dieser Festkalender gut machen, was Genf dem oft verzweifelten Jean-Jacques angetan hat? Alles begann am 28. Juni 1712. Jean-Jacques wird in der Grand-Rue 44 in der Genfer Oberstadt geboren. Seite Mutter stirbt zehn Tage später im Kindbett.
Genf brüstet sich damals, eine unabhängige Republik zu sein. In Wirklichkeit liegt die Macht in den Händen weniger Familien. Genf ist im 18. Jahrhundert eine Oligarchie. Die Reichen schanzen sich die wichtigen politischen Posten zu. Und Genf ist damals auch das protestantische Rom. Die Sittenpolizei, eine Art protestantische Ayatollahs, nimmt der Bevölkerung jede Lebensfreude.
Rousseaus Vater wird verwarnt, weil er einigen Engländerinnen Tanzunterricht gibt. Die Mutter, Tochter eines Pfarrers, hatte in jungen Jahren ein geheimes Verhältnis zu Monsieur Vincent Sarasin, einem verheirateten Patrizier. Bestraft wird nicht er, sondern sie. Später wird sie von der Polizei „geächtet“ und „gemassregelt“, weil sie – als Mann verkleidet – auf der Place Molard einigen Gauklern zusieht.
Vergöttert wie ein Königskind
Die Zeiten, in die Rousseau hineingeboren wird, sind unruhig. Es gärt in der Stadt. Die arme Bevölkerung beginnt, sich gegen die Reichen aufzulehnen. Ein Anführer der Aufständischen wird hingerichtet. Viele haben den Glauben an die Zukunft verloren. Rousseaus Vater, ein Uhrmacher aus dem Mittelstand, kann sich die teure Bleibe in der Oberstadt nicht mehr leisten. Er zieht in das Kleinleute-Viertel St. Gérvais auf der andern Seite der Rhône.
Hier, in der rue de Coutence 28, quartiert er sich mit Jean-Jacques und dessen sieben Jahre älterem Bruder François ein. Heute ist das Haus längst abgerissen. An seiner Stelle steht ein riesiges Warenhaus. An dessen Eingang erinnert eine Schrift an die Rousseaus. Der ältere Bruder wird vernachlässigt. „Er riss mehrmals aus“, schreibt Rousseau, „ich sah ihn fast nie. Er flüchtete und verschwand. Einige Zeit später erfuhr man, dass er in Deutschland war. Er schrieb nicht ein einziges Mal.“
“Ich hielt mich für einen Griechen, einen Römer“
Der Vater vergöttert Jean-Jacques. „Königskinder“, schreibt Jean-Jacques in seinen „Bekenntnissen“, „können nicht mit grösserem Eifer behütet werden als ich es während meinen ersten Jahren wurde.“
Die Lesewut von Vater und Sohn ist legendär. Zuerst machen sie sich an die Bibliothek der verstorbenen Mutter heran. Als diese Bücher ausgelesen sind, geht es an die Büchersammlung von Jean-Jacques Grossvater. In frühen Jahren liest er „Die Geschichte des Kaiserreichs“ von Le Sueur, die „Lebensbeschreibungen berühmter Männer“ von Plutarch, die „Die Geschichte der Republik Venedig“, die „Metamorphosen" Ovids. Auch Molière und La Bruyère stehen auf dem Programm. „Ich hielt mich für einen Griechen oder einen Römer“, schreibt Rousseau später. Oft lesen Jean-Jacques und sein Vater zusammen bis in den Morgen. „Als wir die Schwalben hörten, sagte mein Vater beschämt: Gehen wir zu Bett.“
Jean-Jacques hat Zeit seines Lebens kaum eine Schule besucht. Nie sah er eine Universität von innen. Er, der einer der grössten Intellektuellen werden sollte, hat sich alles selbst angelesen.
Eines Tages hat der Vater Streit mit einem Hauptmann der französischen Armee. Er soll ihn verletzt haben. Der Vater flüchtet nach Nyon am Genfersee. Jean-Jacques macht eine Lehre als Kunststecher. Während der Arbeit liest er. Sein brutaler Meister wirft die Bücher zum Fenster hinaus oder verbrennt sie.
“Politiker und Gelehrte – diese Phrasendrescher“
Jean-Jacques ist noch nicht 16, als er Genf verlässt. Jetzt zieht er nach Savoyen, tritt in Turin zum Katholizismus über und landet schliesslich in Paris. Er ist schon 38 Jahre alt, als seine schriftstellerische und philosophische Tätigkeit beginnt.
Er schreibt seine zwei „Discours“, in denen er den Mächtigen und den Reichen in die Parade fährt. Doch auch Politiker, Schriftsteller und Gelehrte, „diese Phrasendrescher“, kriegen ihr Fell ab. Rousseau wettert gegen Luxus und Zügellosigkeit. Hier postuliert er sein „Zurück zur Natur“. Der Mensch solle wieder ursprünglich leben, „wie die Wilden“. Die Obrigkeit in Paris spitzt zwar die Ohren, doch man lässt ihn noch gewähren.
Rousseau hat Genf nicht vergessen. Mit 42 Jahren kehrt er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse in seine Heimatstadt zurück. Jetzt will er immer da bleiben. „Die Stadt erscheint mir als eine der anmutigsten der Welt. Ihre Bürger sind die weisesten und glücklichsten Menschen, die ich kenne.“ Mit Thérèse unternimmt er eine Bootsfahrt und spaziert am See. Nun tritt er auch wieder zum Protestantismus über. Die Katholiken hatte er eigentlich nie gemocht. Er wird wieder eingebürgert und zahlt dafür 18 Gulden.
“Ich hasse Sie“
Doch nach vier Monaten ist er schon wieder in Paris. Das hat zwei Gründe. Erstens sind seine beiden „Discours“ von den Genfer Behörden und ihren reichen Vertretern kalt aufgenommen worden. Zweitens hat da jemand die Stadt betreten, den Rousseau gar nicht mag. Und dieser jemand ist nicht irgendwer.
Voltaire, der geniale Aufklärer, hat nur Häme für Rousseau und seine „Discours“ übrig. „Noch nie hat jemand so viel Geist verschwendet wie Sie, in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen“, schreibt Voltaire in einem Brief an seinen ewigen Gegenspieler. „Man bekommt wieder richtig Lust auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Doch ich habe diese Gewohnheit schon seit 60 Jahren aufgegeben.“ Rousseau antwortet später: „Ich hasse Sie.“
Voltaire, der mit seinen frechen und sarkastischen Schriften die Obrigkeit in Paris provoziert, ist ständig auf der Flucht. Deshalb hat er im Dörfchen Ferney vor den Toren von Genf (heute: Ferney-Voltaire) ein Schloss gekauft. So könnte er – sollten die Häscher des Königs kommen – schnell ins unabhängige Genf flüchten. Nicht genug: Voltaire kauft auch in Genf selbst eine Villa: „Les délices“. Dort ist heute das Musée Voltaire eingerichtet.
“Er ist wahnsinnig“
Rousseau und Voltaire könnten verschiedener nicht sein. Auf der einen Seite Rousseau, der schüchterne, unbeholfene, stets kränkelnde Genfer. Auf der andern Seite der reiche Pariser, der zynische Lebemann, der nur in den besten Salons verkehrt, ein rhetorisches Genie, mit allen Wassern gewaschen.
Rousseau postuliert: Verzichtet auf Eigentum und Luxus, findet zurück zur Natur, vergesst die Wissenschaften und hört auf zu lesen. Voltaire hingegen ist überzeugt, dass Bildung und Erziehung die Menschheit weiterentwickeln werden.
Ausgerechnet dieser Voltaire lässt sich jetzt in Genf nieder. Rousseau fürchtet, ihm zu begegnen. Er hat Angst, einem rhetorischen Schlagabtausch nicht gewachsen zu sein. Rousseau selbst charakterisiert sich einmal so: „Eine vorübersummende Fliege macht mir Angst. Wenn es zu handeln gilt, weiss ich nicht, was tun. Wenn ich reden muss, weiss ich nicht was. Wenn man mich anblickt, verliere ich die Fassung.“
Als Voltaire in Genf auch noch ein Theater einrichten will, geht das dem sittenstrengen Rousseau zu weit. Er, der zwar selber Theaterstücke schrieb, kämpft gegen oberflächliche weltliche Lustbarkeiten. Voltaires Urteil ist knapp: „Er ist völlig wahnsinnig.“
“Die Monarchie wird stürzen, das Volk wird herrschen“
Um Voltaire zu entgehen, kehrt Rousseau nach Paris zurück. Jetzt schreibt er den Erziehungsroman „Emile“, in dem er die Kirche attackiert. Sie solle sich gefälligst aus der Erziehung heraushalten. Noch schlimmer: In seinem „Contract social“ plädiert er für die Abschaffung von Monarchie und Aristokratie. Das Volk müsse die Macht ausüben. „Die Monarchie wird stürzen, das Volk wird herrschen“.
Das lässt man sich am Hof und in der feinen Gesellschaft nicht bieten. Rousseaus Bücher werden in Paris verbrannt. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben. Ein Parlamentarier sagt: „Es genügt nicht, die Bücher zu verbrennen, man muss den Autor verbrennen.“ Rousseau flüchtet, doch nach Genf kann er nicht.
Verfolgt in Paris, Genf und Bern
Auch in seiner Heimatstadt werden seine Bücher verbrannt. Aufgewiegelt von den Franzosen, drohen ihm die Genfer Behörden mit Verhaftung. „Ich war in Genf ein Gottloser, Atheist, ein Verrückter, ein Rasender, ein wildes Tier, ein Wolf.“ Auch die Berner verfolgen ihn. Rousseau flüchtet ins preussische Fürstentum Neuenburg und auf die Petersinsel.
Wutentbrannt schreibt er jetzt dem Genfer Bürgermeister. Er lehnt für immer sein Genfer Bürgerrecht ab. Er habe sich bemüht, dem Genfer Namen Ehre zu machen. Die Haltung der Regierung sei verfassungswidrig, ebenso das Verbrennen seiner Bücher.
„Genfer, wenn das eure Freiheit ist, dann weine ich ihr wenig nach“, schreibt er am 22. Juni 1762. "Aber ich werde unsere Mitbürger immer lieben, auch wenn sie undankbar sind." Und: "Obwohl mein Vaterland mir nun fremd wird, bleibe ich ihm durch ein zärtliches Andenken verbunden und werde seine Schmähungen vergessen." Später schreibt er. „Ich will nicht mehr von Genf und von dem, was dort geschieht, reden hören.“
Nach Genf ist das „enfant du pays“ nie mehr zurückgekehrt. Rousseau stirbt 66-jährig. Ein Trost bleibt ihm. Er überlebt seinen Widersacher Voltaire um 33 Tage. Beide sterben zur gleichen Zeit, morgens um elf.
Die Revolutionäre der Französischen Revolution haben die Särge ihrer beiden Idole ins Pantheon überführt. Und, ziemlich geschmacklos: Die Sarkophage der beiden Verfeindeten wurden direkt nebeneinander aufgestellt – als ob sie so versöhnt würden.
Leere Gräber?
Da gibt es noch eine wüste Geschichte. Ob sie stimmt, ist unklar. In einer Mai-Nacht im Jahr 1814 sollen ultrakonservative Monarchisten ins Pantheon eingedrungen sein. Sie sollen die Sarkophage geöffnet und die Gebeine von Rousseau und Voltaire gestohlen und an unbekanntem Ort vergraben haben. Seither seien sie verschwunden und die Sarkophage leer.
Wurden diese Gerüchte von den Behörden gezielt gestreut, um während der Restaurationszeit feurige Rousseau- und Voltaire-Anhänger vom Besuch der Gräber abzuhalten? Jedenfalls wurden die Särge am 18. Dezember 1897 geöffnet. Der Chemiker Bertholet stellte klipp und klar fest: "Die Überreste der beiden sind vorhanden." Rousseaus sei gut erhalten, sogar mit seinen Haaren. Doch die Zweifel blieben bis heute bestehen.
Nicht nur die Revolutionäre waren geschmacklos, als sie die Sarkophage der beiden nebeneinander aufstellten.
Auch in Genf hat man nicht immer eine glückliche Hand. Mit der Organisation des Rousseau-Jubeljahres wurde – ausgerechnet – der Direktor des Musée Voltaire betraut. Ein Voltaire-Spezialist huldigt dem von Voltaire verhöhnten Genfer.
Was würden Rousseau und Voltaire zu dieser Zwangsversöhnung sagen? Sie würden sich schütteln vor Wut. Sie würden sich in ihren Sarkophagen umdrehen. Sofern sie dort sind.
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