Zwei Tage nach ihrem Suizid veröffentlicht die argentinische Tageszeitung „La Nación“ dieses letzte Gedicht der rebellischen Tessiner Autorin und Feministin Alfonsina Storni. Vor 125 Jahren wird sie geboren. Sie selbst nannte sich eine „lebhaft flackernde Lampe“. Sie „schrieb, um nicht zu sterben“.
Elke Heidenreich sieht sie so: „Wir haben es ... mit einer äusserst leidenschaftlichen Frau zu tun, die seismografisch jede Stimmung um sich herum wahrnimmt, schmerzhaft und freudig, die jede Farbnuance sieht, die das Leiden und die Liebe unter der Haut der Menschen erahnt und starke Bilder dafür findet.“ *)
In Südamerika ein Star
Die bei Lugano geborene Alfonsina Storni, die mit 46 Jahren aus dem Leben ging, kennt man in Europa kaum. In Argentinien, wohin ihre Familie ausgewandert war, ist sie noch heute ein Star. Gibt es eine grössere Ehre, als von Mercedes Sosa, einer der grössten südamerikanischen Sängerinnen besungen zu werden? In Mar del Plata steht ein riesiges Denkmal für Alfonsina. Sie war befreundet mit Pablo Neruda, Gabriela Mistral und Federico García Lorca, für den sie ein Gedicht schrieb. Noch heute lernen südamerikanische Schülerinnen und Schüler ihre Gedichte auswendig. In Buenos Aires sind eine Strasse, eine Bibliothek und eine Schule nach ihr benannt. Es gibt eine Briefmarke mit ihrem Porträt.
Nur bei uns ist sie fast eine Unbekannte. Ihr 125. Geburtstag wird nicht zur Kenntnis genommen. Immerhin hatte die argentinische Botschaft in der Schweiz 1976 eine Gedenktafel an ihrem Geburtshaus angebracht. Und immerhin auch hat der Limmat Verlag 2013 erstmals ihre Prosatexte in deutscher Übersetzung vorgelegt. *)
„Eine Bombe voller haarsträubender Neuigkeiten“
Alfonsina Storni wird am 29. Mai 1892 in Sala Capriasca bei Lugano geboren. Ihr Vorname lehnt sich an jenen ihres Vaters Alfonso an. Als sie vier Jahre alt ist, wandert ihre Familie nach San Juan aus, eine Oase am Fusse der argentinischen Anden.
Mit sechs Jahren stiehlt sie ihr erstes Buch. „Mit acht, neun oder zehn Jahren lüge ich hemmungslos und erfinde Verbrechen, Feuerbrände, Überfälle, die nie in den Polizeimeldungen erscheinen“, erzählt sie in einer Rede in Uruguay. „Ich bin eine Bombe voller haarsträubender Neuigkeiten, in meine eigenen Lügengespinste verwickelt ... Mit 14 Jahren höre ich damit auf.“
Mit zwölf Jahren schreibt sie ihr erstes Gedicht. Es handelt von Friedhöfen und ihrem Tod. Der Vater, ein Alkoholiker, stirbt, als sie 13 ist. Die Mutter, eine Lehrerin, eröffnet eine kleine Privatschule und verdient Geld mit Näharbeiten.
Ledige Mutter
Mit einer fahrenden Theaterkompagnie reist Alfonsina durchs Land und tritt in Stücken wie Ibsens „Gespenster“ auf. Sie studiert, und mit 17 Jahren unternimmt sie einen ersten Suizid-Versuch. 1910 erwirbt sie das Lehrerdiplom und wird Lehrerin an einer Schule in Rosaria. Sie schreibt Gedichte und kriegt ein Kind vom verheirateten Politiker Carlos Tercero Arguimbau. Der will nichts mehr von ihr wissen. Sie bleibt eine ledige Mutter und zieht nach Buenos Aires, wo sie schnell Anschluss an Intellektuellenkreise findet.
1916 schreibt und finanziert sie ihren ersten Gedichtband „La inquietud del rosal“, „ein jämmerliches Buch“, sagt sie später.
Jetzt beginnt ihr Aufstieg. Mit 25 Jahren erhält sie den „Premio Anual del Consejo Nacional de Mujeres“ für ihren „Canto a los niños“. Nun wird sie Leiterin einer Internatsschule. Wieder leidet sie unter Depressionen. Vor allem in linken und feministischen Kreisen wird sie mehr und mehr verehrt. Sie sympathisiert mit dem Partido Socialista, dem sie aber nie beitritt. 1919 wird sie argentinische Staatsbürgerin.
„Fackelträgerin der modernen Frau“
Die 1920 publizierte Gedichtesammlung „Languidez“ wird ein riesiger Erfolg und mit zwei Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit 30 Jahren wird ihr die Krone aufgesetzt, sie erhält den „Premio Nacional“, den Argentinischen Staatspreis für Literatur. Es folgen Auftritte, neue Publikationen, neue Ehrungen. Nur ein Theaterstück, „El amo del mundo“, in dem sie die Männer hart kritisiert, wird frühzeitig abgesetzt, angeblich wegen Erfolglosigkeit.
Ihre Gedichte, Prosatexte und Theaterstücke machen sie zur führenden und bekannten Autorin des „Postmodernismo“. Sie gilt als Wegbereiterin der modernen argentinischen Frauenliteratur und wird zur „Fackelträgerin der modernen Frau“, schreibt ihre Biografin und Übersetzerin, die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Hildegard Elisabeth Keller. *)
„Lammfromm und rotzfrech“
Bekannt wird sie vor allem als Lyrikerin. Sie schreibt wunderschöne, feinfühlige Liebesgedichte. Doch sie ist mehr: Unter dem Pseudonym Tao Lao ist sie rasende Reporterin für die grosse Zeitung „La Nación“. Sie ist Theater-Regisseurin, Schauspieldozentin, Feuilletonistin, Essayistin. Sie hat ein „unheimliches Gespür für die Grossstadt ... für die Menschen im Grossstadtdschungel“, schreibt Keller. Sie könne „mit lammfrommer Miene rotzfrech sein“.
Sie ist nicht die plumpe Feministin. Mit viel Witz und Sarkasmus kämpft sie gegen patriarchale Gesellschaftsstrukturen und nimmt die Männer immer wieder auf den Arm.
„Fossile Männer“
Zu ihren wunderbarsten Texten gehört die Kolumne „Fossile Männer“. Das seien Männer, „deren Gedankenwelt fast versteinert ist und die noch in geistigen Schichten des Mittelalters zu leben scheinen“. Aber: „Glaubt nicht, ich Arme sei eine erklärte Feindin des sympathischen männlichen Geschlechts. Ganz im Gegenteil: Ich bewundere und verehre es ... Dem fossilen Mann haftet übrigens noch ein Rest arttypische Grausamkeit und eine absolute Unkenntnis der Kausalität an. Er macht sich selbst blind, indem er verlangt, ein junges Mädchen solle von nichts eine Ahnung haben ...“ Dann fordert sie die „lieblichen Mädchen“ auf, endlich aufzustehen. „Na, reisst ihr euren Mut zusammen?“
1930 unternimmt Storni eine Europareise. Sie wird in Spanien bejubelt und taucht kurz an ihrem Geburtsort bei Lugano auf. 1935 erkrankt sie an Brustkrebs, die Chemotherapie verträgt sie nicht, zwei ihrer besten Freunde begehen Selbstmord.
Am 25. Oktober 1938 bezieht sie eine Herberge im Badeort Mar del Plata. Dort schreibt sie ihr letztes Gedicht. Kurz darauf findet man sie im Meer.
***
Der argentinische Historiker, Anwalt und Schriftsteller Félix Luna schrieb für sie das Gedicht „Alfonsina y el Mar“. Vertont wurde es vom argentinischen Komponisten Ariel Ramírez. Es gehört zu den bekanntesten Liedern in Lateinamerika. Gesungen und berühmt wurde es unter anderem von Mercedes Sosa (1935–2009).
Mercedes Sosa singt: Alfonsina y el Mar
*) „Meine Seele hat kein Geschlecht“: Erzählungen, Kolumnen, Provokationen. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Hildegard Elisabeth Keller. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Zürich: Limmat Verlag, 2013. ISBN 978-3-85791-717-2
„Alfonsina y el Mar“
Por la blanda arena
que lame el mar
su pequeña huella
no vuelve más
un sendero solo
de pena y silencio llegó
hasta el agua profunda
un sendero solo
de penas mudas llegó
hasta la espuma.
Sabe dios qué angustia
te acompañó
qué dolores viejos
calló tu voz
para recostarte
arrullada en el canto
de las caracolas marinas
la canción que canta
en el fondo oscuro del mar
la caracola.
Te vas alfonsina
con tu soledad
¿qué poemas nuevos
fuíste a buscar?
una voz antigüa
de viento y de sal
te requiebra el alma
y la está llevando
y te vas hacia allá
como en sueños dormida,
alfonsina vestida de mar.
Cinco sirenitas
te llevarán
por caminos de algas
y de coral
y fosforescentes
caballos marinos harán
una ronda a tu lado
y los habitantes
del agua van a jugar
pronto a tu lado.
Bájame la lámpara
un poco más
déjame que duerma
nodriza, en paz
y si llama él
no le digas nunca que estoy
di que me he ido.
Te vas alfonsina
con tu soledad
¿qué poemas nuevos
fueste a buscar?
una voz antigüa
de viento y de sal
te requiebra el alma
y la está llevando
y te vas hacia allá
como en sueños dormida,
alfonsina vestida de mar.