Vor wenigen Tagen schien das Unvorstellbare Realität zu werden: Die italienische Protestpartei „Cinque Stelle“ und die fremdenfeindliche rechtspopulistische „Lega“ begannen zu flirten. Das ungleiche Paar, das sich im Wahlkampf nichts schenkte, wollte gemeinsam die neue Regierung bilden.
Luigi di Maio, der 31-jährige Chef der „5 Sterne“, und Matteo Salvini, der Anführer der „Lega“ lächelten gemeinsam in die Kameras. Beppe Grillo, der Gründer der Cinque Stelle, sagte, auf Salvini sei Verlass, ihm könne man vertrauen. Bei der Wahl der Vorsitzenden der beiden italienischen Kammern unterstützten sich beide Parteien. Präsident der Abgeordnetenkammer wurde ein 5-Stelle-Mann und Präsidentin des Senats eine Vertreterin der Rechten.
Wer wird Regierungschef?
Doch das war’s dann, dann ging der Flirt abrupt zu Ende. Bevor die Verlobung besiegelt wurde, gab es Streit. Vor allem geht es um die Frage: Wer wird Ministerpräsident? Beide wollen, Di Maio, genannt „Giggi“, und Salvini.
Am kommenden Mittwoch und Donnerstag beginnt der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella mit den Sondierungen. Er muss dann einer Partei den Auftrag zur Regierungsbildung geben. Das könnte dauern.
Stärkste Partei oder stärkstes Bündnis?
Die 5 Sterne sind als stärkste Partei aus den Wahlen vom 4. März hervorgegangen. Elf Millionen Italienerinnen und Italiener stimmten für sie. Deshalb argumentiert Di Maio: „Wir sind die Stärksten, also stellen wir den Regierungschef.“
Die 5 Sterne erreichten 32,7 Prozent des Wähleranteils. Die Lega hingegen kam nur auf 17,3 Prozent. Trotzdem will Lega-Chef Salvini Ministerpräsident werden. Er argumentiert so: Die Lega war Teil des Rechtsbündnisses, dem neben der Lega auch Berlusconis „Forza Italia“ und die postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ angehören. Dieses Bündnis, also alle drei Parteien zusammen, gingen mit 37 Prozent als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, also über 4 Prozent mehr als die 5 Sterne. Da die Lega, die stärkste Partei innerhalb der Rechtsallianz sei, stehe es ihr zu, den Regierungschef zu stellen.
„Gefährlicher als die Kommunisten“
Beide, Di Maio und Salvini, geben sich zurzeit trotzig. Sie wollen sich am Dienstag unter vier Augen treffen. Salvini spricht bereits von möglichen Neuwahlen. Und Di Maio droht, bei einem Scheitern der Verhandlungen klopfe er eben bei der Linken an.
Neben der Frage des Ministerpräsidenten gibt es ein weiteres riesiges Hindernis: Was geschieht mit Berlusconi?
Salvini will nur eine Koalition mit den 5 Sternen eingehen, wenn auch sein Koalitionspartner Berlusconi dabei ist. Doch die Cinque Stelle wollen Berlusconi absolut nicht. Sie wollen nur eine Allianz allein mit der Lega.
Die Cinque Stelle hassen Berlusconi und Berlusconi hasst sie. Er nennt sie „gefährlicher als die Kommunisten“ und spottet über die Unerfahrenheit und die Naivität ihrer Mitglieder. Immer wieder sagt er, dass Di Maio Platzanweiser im Fussballstadion in Neapel war und sonst nichts geleistet habe. Das stimmt zwar nicht ganz, doch politisch sind tatsächlich viele Sterne recht ahnungslos.
Für und gegen Berlusconi
Salvini, ein Freund von Marine Le Pen, Geert Wilders und Heinz-Christian Strache, will Führer der gesamten Rechten werden. Deshalb will er auch Berlusconis Forza Italia im Boot haben. Wäre der vierfache Ministerpräsident nicht dabei, bestünde die Gefahr, dass die Rechte bald auseinanderbräche, was auch Salvinis Position beeinträchtigte.
Anderseits können die 5 Sterne keinen Pakt mit Berlusconi schliessen. In ihren Statuten steht, dass sie mit niemandem zusammenarbeiten, der verurteilt wurde. Berlusconi, ein Dauergast vor Gericht, wurde mehrmals bestraft und steht demnächst erneut vor den Richtern. Ein Grund für den Erfolg der Cinque Stelle war, dass sie sich ein Saubermann-Image geben. Würden sie mit dem Delinquenten Berlusconi zusammenarbeiten, würden sie einen Teil ihrer Wählerschaft verlieren. Allerdings könnte es auch mit Salvini Probleme geben. Das linksliberale Nachrichtenmagazin „L'Espresso“ berichtete an diesem Sonntag, der Lega-Chef habe „Dutzende Millionen“ am Fiskus vorbeigeschleust.
Keine „Steigbügelhalter“ à la SPD
Rechnerisch möglich wäre auch eine Regierung zwischen den 5 Sternen und dem bisher regierenden sozialdemokratischen „Partito Democratico“ (PD). Dieser hatte bei den Wahlen mit 18,7 Prozent einen eigentlichen Absturz erlitten.
Doch die Sozialdemokraten sind gespalten. Viele, vor allem die Anhänger des früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi, wollen in die Opposition, um sich zu regenerieren. Sie wollen, wie sie sagen, nicht „schmählich kapitulieren“ wie die deutschen Sozialdemokraten und als Steigbügelhalter missbraucht werden. Doch eine andere, kleinere Gruppe innerhalb der Partei wäre wohl geneigt, mit den 5 Sternen eine Koalition zu bilden. Die Frage wäre dann, wie gross ist diese kleinere Gruppe. Möglicherweise käme sie zusammen mit den Cinque Stelle weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat auf die erforderliche absolute Mehrheit.
Rein theoretisch wäre auch ein Bündnis zwischen der Rechten und den Sozialdemokraten möglich. Doch es ist kaum wahrscheinlich, dass die Linke einer Allianz mit der fremdenfeindlichen Lega zustimmt.
„Die sich versprochenen Brautleute“
Obwohl sich Di Maio und Salvini streiten, scheint – im Moment – eine Stelle-Lega-Koalition am wahrscheinlichsten. Wie lange diese hält, ist dann eine andere Frage.
„I Promessi Sposi“ (Die Verlobten), heisst der Jahrhundertroman des italienischen Nationaldichters Alessandro Manzoni. Genaue deutsche Übersetzung: „Die sich versprochenen Brautleute“. Die Geschichte endet mit einem Happy End. Und die Geschichte der sich versprochenen, fast schon verlobten Brautleute Di Maio und Salvini? Ob sie mit einem Happy End ausgeht, ist mehr als fraglich.
Die italienischen Wirtschaftsvertreter, die stabile politische Verhältnisse bräuchten, sehen der Entwicklung im Land besorgt entgegen.
Lira statt Euro?
Im Moment wird vor allem über Personen gesprochen. Sprechen aber die 5 Sterne und die Lega über Inhalte, so läuft es manchen kalt über den Rücken.
Salvini droht immer wieder mit einem Austritt aus der EU. Den Euro wolle er wieder durch die Lira ersetzen. Auch die Sterne sind EU-skeptisch. Ihr Postulat für einen „Itexit“ haben sie erst im Wahlkampf, wohl aus taktischen Gründen, aufgegeben. Die Brüsseler Sparvorgaben wollen beide Parteien über Bord werfen.
„Prima gli Italiani“
Die Lega lockte die Wähler mit dem Versprechen, die Steuern drastisch zu senken. Sie will eine 15-Prozent-Flat-Tax. Davon würden vor allem die Reichen profitieren. Eine Flat Tax würde den Staat viele Milliarden kosten; woher dieses Geld käme, weiss niemand.
Salvini, der immer wieder mit arg rassistischen Ausfällen auffällt, will alle „Illegalen“ aus dem Land werfen. Den Begriff „Illegaler“ fasst er recht weit. Sein Slogan im Wahlkampf hiess „Prima gli Italiani“. Das Asylrecht sei „ein Fetzen Papier“.
Auch die 5 Sterne fordern eine härtere Gangart in der Migrationsfrage. Di Maio bezeichnete die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die im Mittelmeer Flüchtlinge retten, als „Komplizen der Schlepper“. Ihre Hilfsschiffe seien „Taxis für die Migranten“.
Putin-freundlich
Beide Parteien werden sehr autokratisch geführt. „Mehr Basisdemokratie“ ist zwar ein Schlagwort der 5 Sterne. Doch in Wirklichkeit werden ihre eignen Abgeordneten an die Leine genommen. Jeder Parlamentarier muss unterschreiben, dass er 100’000 Euro zahlt, wenn er die Fraktionsdisziplin verletzt. Sowohl die Lega als auch die Sterne wollen ein neues Wahlgesetz, das sie selbst noch stärker macht.
Aussenpolitisch fordern beide, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden. Beide haben für Putin freundliche Worte übrig. Im Blog von Beppe Grillo werden immer wieder, manchmal wörtlich, Artikel der russischen Propagandamedien RT und Sputnik übernommen.
Im Wahlkampf wurden zahlreiche andere Forderungen erhoben. Das Pensionsalter soll wieder heruntergesetzt werden. Und der Impfzwang soll fallen.
„Reality Test“?
Sollten die beiden Parteien wirklich an die Macht kommen, wird es sich zeigen, wieweit ihre Forderungen nur Wahlkampfmunition waren.
„Politische Positionen können sich plötzlich ändern, wenn eine Partei an der Macht ist“, erklärte Christine Lagarde, die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IMF). In einem Video-Interview mit der Römer Zeitung „La Repubblica“ sagte sie an die Adresse der 5 Sterne und der Lega: „Die regierenden Parteien merken plötzlich, dass sie nicht mehr ausgeben können, als sie haben, und dass die Stabilität wichtig ist.“ Sie erwarte, dass die neuen Machthaber einige ihrer Positionen revidieren und sie einem „Reality Test“ unterziehen.
Ob Di Maio und Salvini die Botschaft verstanden haben? Das Interview wurde auf Englisch geführt. Di Maio und Salvini sprechen kein Wort Englisch.