In den Zwanzigerjahren geriet der italienische Film in die Krise. Die Italiener hatten Mühe mit dem aufkommenden Tonfilm. Die Amerikaner und die Deutschen (Lang, Murnau, Pabst) dominierten die Szene und die Kinosäle.
Zwar gab es schon mehrere italienische Produktionsfirmen, unter anderem „La Cines“. Doch die Geschäfte liefen schlecht, und mitten in der Nacht des 26. September 1935 brannte das „Cines“-Studio nieder. Der italienische Film war endgültig am Boden.
„Das Kino ist die stärkste Waffe“
Eigentlich begann die Geschichte von „Cinecittà“ schon 1928. Der Mailänder Journalist Luigi Freddi, ein feuriger Faschist und Redaktor bei der von Mussolini gegründeten Zeitung „Il popolo d’Italia“, reiste durch die USA. Dort traf er den amerikanischen Hollywood-Regisseur David Wark Griffith, der später mit einem Ehren-Oscar ausgezeichnet wurde. Die beiden sprachen über Hollywood und die amerikanische Filmmaschinerie. Freddi war begeistert.
Später, in New York, sagte er sich: Weshalb nicht ein italienisches Filmstudio aufbauen? Zusammen mit seinem Chefredaktor präsentierte er die Idee einer italienischen Filmfabrik dem Duce.
Es war nicht die Liebe zur Filmkunst, die Mussolini bewog, sofort anzubeissen. Ihm wurde schnell bewusst, dass der Film ein wunderbares faschistisches Propaganda-Instrument war. Am 28. April 1937 war es so weit: Der Duce, begleitet von faschistischen Verbänden und Notabeln, eröffnete vor den Toren Roms seine Propaganda-Werkstatt, die in 15 Monaten aus dem Boden gestampft wurde. „Das Kino ist die stärkste Waffe“, hiess es auf einem Transparent. Darüber ein Bild Mussolinis hinter einer Kamera.
Prüde Cinecittà
In der Traumfabrik ging es nüchtern zu – im Gegensatz zu Hollywood. Dort herrschten frohmütige Verhältnisse. Jeder Produzent, Regisseur oder Geldgeber zeigte seine Geliebte, meist eine begehrte Filmdiva. Jane Russel war die Auserwählte von Howard Hughes, einem der reichsten und verrücktesten Menschen Amerikas. Katherine Hepburn, Bette Davis, Jean Harlow, Ginger Rogers, Lana Turner, Ava Gardner – sie alle zelebrierten ihre Liebes- und Bettgeschichten. Daryll Zanuck, der allmächtige Filmproduzent, angelte sich die wunderschöne Jennifer Jones. Und andere.
Im Gegensatz dazu war Cinecittà während des Faschismus fast schon prüde. Eine öffentliche Liebschaft hätte schnell eine Karriere beenden können. Das Römer Polizeipräsidium schickte Spitzel, Schnüffler und Lauscher nach Cinecittà. Sie prüften, ob alles in der Filmfabrik recht schön faschistisch zuging. Wer jemanden mobben wollte, prangerte ihn ganz einfach als anti-faschistisch an.
Für ein paar Lire
Tausende Menschen arbeiteten in Cinecittà. Neben Regisseuren, Schauspielern, Kameraleuten und Technikern waren es Bühnenbildner, Schneiderinnen, Kostüm- und Maskenbildner, Maschinisten, Beleuchter, Schreiner, Facharbeiter – und vor allem Komparsen und Statisten.
Die Studios an der via Tuscolano lagen nahe des Römer Quadraro-Quartiers – einer damals armen Gegend im Südwesten der Stadt. Jeden Morgen drängten sich Hunderte Quadrara-Bewohner vor den Studios. Für ein paar Lire wollten sie als Statisten in irgendeinem Film auftreten. Von allen, die Cinecittà betraten, verlangte die Direktion, dass sie Mitglied der Faschistischen Partei waren. Wer kein Parteibuch besass, wurde rausgeschmissen. So schrieben sich viele denn – wegen der paar Lire – als Faschisten ein.
Die Legionäre mit der Armbanduhr
Schon im ersten Jahr wurden in Cinecittà 19 Filme gedreht, unter anderem das dramatische Monumentalwerk „Scipione, l’Africano“ – eine Huldigung an das faschistische Italien.
Der 83-minütige Propagandafilm zeigte den glorreichen Kampf Publius Cornelius Scipio Africanus gegen Hannibal und wurde mit der „Coppa Mussolini“ ausgezeichnet. Die Geschichte spielt im 2. Jahrhundert vor Christus. Riesige römische Legionen traten in dem Film auf, Tausende Statisten wurden aufgeboten, sogar Armee-Einheiten wurden verpflichtet. Dumm nur: einige der Statisten trugen, gut sichtbar, eine Armbanduhr am Gelenk.
Schnell begannen die Regisseure Hollywood zu kopieren. Sie sassen auf den legendären Klappstühlen, auf denen der Name des Regisseurs stand. Und sie gaben die Befehle über Megafone – so wie in Hollywood.
Cinecittà, eine Haftanstalt
Dann kam der Krieg und Cinecittà spuckte Propagandastreifen um Propagandastreifen aus. Nach der Kapitulation der Italiener im September 1943 marschierten die Deutschen in Rom ein. Sie benutzten Cinecittà als Haftanstalt. In der „Operation Walfisch“ (Il rastrellamento del Quadraro) wurden viele Bewohner der umliegenden Quartiere festgenommen und hier interniert. Die Gegend rund um Cinecittà galt als Hochburg der Partisanen.
Die Deutschen bemächtigten sich dann auch gleich aller Kameras und technischer Einrichtungen und schleppten sie nach Deutschland. Nach der Befreiung Roms im Mai 1944 wurden in Cinecittà Flüchtlinge und Bedürftige einquartiert.
Ben Hur, Cleopatra, Quo vadis?
Die glorreiche Zeit des Filmstudios begann 1947. Jetzt kamen auch die Amerikaner und produzierten hier. Sie mussten in Rom weniger Steuern zahlen als in Hollywood. Zudem fanden sie in den umliegenden Quartieren billige Handwerker und Statisten. Selbst der Stuntman, der filmreif vom Pferd stürzte und sich im Staub wälzte, stammte aus Quadrara.
Grosse Filme entstanden jetzt hier: Ben Hur, Cleopatra, Quo vadis? Und grosse Regisseure waren hier tätig: Luchino Visconti, Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Ettore Scola, Sergio Leone, Roberto Benigni, Alberto Sordi, Vittorio De Sica. Sophia Loren ging hier ein und aus, ebenso Gina Lollobrigida und Claudia Cardinale, Charlton Heston, Audrey Hepburn und Anita Ekberg.
Fellinis zweites Zuhause
Vor allem aber war Cinecittà die Stadt von Federico Fellini. Alle seine grossen Filme entstanden hier: „La strada“ (1954), „La dolce vita“ (1960), „8 ½“ (1963), „Giulietta degli spiriti“ (1965), „Roma“ (1972), „Amarcord“ (1973), „Fellinis Casanova“ (1976), „La città delle donne“ (1980), „E la nave va“ (1984).
Fellini erzählte einst, wie glücklich er jeweils war, mit dem Züglein aus Rom hinaus in die römische Landschaft zu fahren, vorbei an Schafen und zerfallenen Aquädukten. In Cinecittà hatte er sein eigenes Studio und nannte es sein „zweites Zuhause“.
Die knapp 500‘000 Quadratmeter grosse „Fabbrica dei sogni“ besitzt 21 nummerierte Studios („Stages“), sogenannte „Theater“ (Teatri). Die Nummer 17 gibt es nicht, diese Zahl soll Unglück bringen. Es gibt in Cinecittà allein 300 Umziehkabinen und 21 Makeup-Studios. Fellini drehte im „Theater Nummer 5“, das mit 2‘873,04 Quadratmetern als grösstes Filmset in Europa gilt.
Selbst die Szenen mit den riesigen Passagierschiffen auf dem Meer in „Amarcord“ oder „E la nave va“ entstanden im Studio. „Im Film ist alles Fiktion“, sagte Fellini, er brauchte die Wirklichkeit nicht.
Pappe, Sperrholz, Gips
Ein Heer von Bühnenbildern war in der Filmstadt am Werk. In kurzer Zeit wurden fiktive Städte aufgebaut, Triumphbögen, das Kolosseum, Arenen, Strassenzüge im Wilden Westen oder Gangsterquartiere in New York.
1956 produzierte hier Dino De Laurentiis den Monumentalfilm „Krieg und Frieden“ mit Henry Fonda, Audrey Hepburn, Anita Ekberg und Vittoria Gassmann. In nur 40 Tagen und Nächten wurde Moskau aufgebaut – aus Pappe und Gips.
47 Oscars
Insgesamt wurden in Cinecittà über 3‘000 Filme gedreht. 90 wurden für einen Oscar nominiert und 47 davon gewannen die Trophäe. Mit dem Aufkommen des Fernsehens hat Cinecittà keineswegs an Bedeutung verloren. Doch noch immer werden hier grosse Filme gedreht. 1990 entstand „Il padrino, Teil 3“ von Francis Ford Coppola, 1996 „Der englische Patient“ von Anthony Minghella, 2002 „Gangs of New York“ von Martin Scorsese, 2004 „Die Christus Passion“ von Mel Gibson.
Eine der jüngsten Produktionen ist die Fernsehserie „The young Pope“ von Paolo Sorrentino. Keine der Szenen wurde im Vatikan gedreht. Alles, inklusive die Sixtinische Kapelle, ist in Cinecittà rekonstruiert worden.
Genau acht Jahre nachdem Mussolini seine „Stadt der Träume“ eingeweiht hatte, wurde er – am 28. April 1945 – zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci am Comersee erschossen. Die Leichen wurden geschändet und auf der Piazzale Loreto in Mailand an einer Tankstelle aufgehängt. Mehrere Filme nahmen das Thema auf. 1974 spielte Rod Steiger den Duce in dem Streifen „The last days of Mussolini“.
Der Film wurde in Cinecittà gedreht.
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Zur Cinecittà gelangt man in einer zehnminütigen Fahrt vom Römer Stadtzentrum mit der Metro A. Haltestelle: Cinecittà. Der Eintritt für die Ausstellung beträgt 10 Euro. Führungen durch die Studios (plus Besuch der Ausstellung) kosten 20 Euro. Die Führungen sind auf Italienisch, um 10.30 Uhr und 15.30 Uhr auch auf Englisch.