US-Präsident Donald Trump hat gegen das Reich der Mitte einen Handelskrieg „angezettelt“. Hohe Zölle hier und dort. Drohungen. Immerhin verhandeln beide Seiten. Trump mag mit seiner ruppigen, volatilen Diplomatie den aktuellen Konflikt unmittelbar verursacht haben, doch die Forderungen sind nicht neu. Die Präsidenten Clinton, Bush und Obama forderten Gleiches oder Ähnliches, freilich jeweils ohne den mindesten Erfolg. Vor 18 Jahren, als China nach langen, komplizierten Verhandlungen in die Uno-Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen worden war, keimten Hoffnungen. Es blieb bei Worten und Versprechungen.
Ruppig
Die ruppige Art des jetzigen amerikanischen Präsidenten beeindruckte wohl die chinesische Seite. Jedenfalls sitzen sie wieder am Verhandlungstisch. Die Welt schaut gebannt zu, denn es geht um nichts weniger als den Zustand der Weltwirtschaft, sind doch die grösste Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, und die Nummer zwei, China, für das Wohlergehen des Welthandels und der globalen Produktion entscheidend.
Pragmatismus
In der öffentlichen Wahrnehmung führte das über die letzten beiden Jahrzehnte zu einem von den Medien angefachten Gegensatz in Bezug auf das Reich der Mitte: Auf der einen Seite wurde China der baldige Crash prognostiziert. Auf der andern Seite galt China als unaufhaltbare, erfolgreiche Weltmacht des 21. Jahrhunderts, welche die USA und den Westen überrollen werde.
Wie die letzten vierzig Jahre allerdings zeigen, kämpfte sich China pragmatisch zu einem in der Geschichte einzigartigen Erfolg. Gewiss, es kam immer wieder auch zu Rückschlägen, doch im Schnitt resultierte ein jährliches Wachstum des Brutto-Inlandprodukts von neun Prozent. Mit andern Worten: Chinas Wirtschaftswunder ist ein steter Kampf der immensen Möglichkeiten, gleichzeitig auch der Versuch, sich neuen Herausforderungen und Gefahren anzupassen. China hat sich so seit dem Beginn der Reform und Öffnung nach aussen immer wieder gewandelt, angepasst, verändert.
Harte Fakten
Durch den von Trump entfachten Handelskrieg muss sich nun Peking nolens volens mit harten wirtschaftlichen Fakten auseinandersetzen. Mit leeren Versprechungen wie im diplomatischen Nahkampf mit den Administrationen Clinton, Bush und Obama ist es nicht mehr getan. Washington verlangt nicht nur eine Reduktion des Handelsbilanzdefizites, sondern vor allem Schutz des geistigen Eigentums und die Unterbindung des forcierten Technologietransfers. Ausländische Firmen in China sollen überdies von gleichwertigen Bedingungen profitieren wie chinesische Firmen bereits etwa in den USA, Europa oder anderswo auf der Welt.
Delikat
China befindet sich derzeit in einer delikaten wirtschaftlichen Position. Das Wachstum ist im vergangen Jahr wiederum zurückgegangen und wird nach chinesischen wie ausländischen Ökonomen weiter sinken auf eine Bandbreite von 6,4 bis 6 Prozent. Dieses Wachstum ist nötig, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Neue Arbeitsplätze wiederum sind ein wichtiger Bestandteil bei der Aufrechterhaltung der – Partei-Chinesisch gesprochen – „sozialen Stabilität“. Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping hat seit seinem Machtantritt Ende 2012 vieles gemacht, um seinen „chinesischen Traum der Verjüngung der Nation“ zu fördern. International ist er zur Freude eines grossen Teils der Bevölkerung selbstbewusster aufgetreten und hat dem Land global zu Respekt verholfen.
Strukturreformen
Allerdings hat Xi gezögert, dringend notwendige wirtschaftliche Strukturreformen durchzuführen. Warum, das bleibt im intransparenten politischen Gefüge Chinas unklar. Die Allokation von Kapital bleibt bei einem System, in dem die Staatsbanken vornehmlich den Staatsbetrieben billiges Geld leihen, ineffizient und ist der Steigerung der Produktivität abträglich. Der Privatsektor, wiewohl von Xi und der Partei immer wieder als wichtiger Teil der Wirtschaft bezeichnet, hat Mühe, sich Geld zu beschaffen, und stagniert auf hohem Niveau. Der lange, kontrollierende Arm der Partei erreicht jetzt auch den Privatsektor; neuerdings sind Parteizellen in Privatfirmen obligatorisch. Während viele Staatsbetriebe wenig effizient sind, steuert der Privatsektor 60 Prozent des Brutto-Inlandprodukts bei, schafft 80 Prozent der Arbeitsplätze und 50 Prozent der Steuern. Viel wichtiger noch: 70 Prozent aller Innovationen kommen von Privatunternehmen.
Schuldenberge
Weitere strukturelle Probleme warten auf Lösungen. Der Schuldenberg, nicht zuletzt in Provinzen und Kommunen, ist in den vergangenen zehn Jahren beträchtlich angestiegen. Waren es 2008, bei Ausbruch der westlichen Finanz- und Wirtschaftskrise, noch 150 Prozent des Brutto-Inlandprodukts, sind es 2018 bereits 250 Prozent. Korruption, tief im System mit Landnutzungsverkäufen der Provinzen und Kommunen sowie der allgemeinen Geschäftsgepflogenheiten verankert, ist trotz des von Xi Jinping mit Verve geführten Kampfes gegen hohe und niedrige Partei- und Regierungskader sowie Geschäftsleute – Partei-Chinesisch: Tiger und Fliegen – nach wie vor spürbar virulent.
Ungleichheit
China versucht, der viel beschworenen „Falle des mittleren Einkommens“ zu entgehen. Der Wechsel vom „Werkplatz der Welt“ zu einer Konsum-orientierten Dienstleistungs-Ökonomie jedoch bedarf dringend weiterer Strukturreformen. Die wachsende Mittelklasse – je nach Definition zwischen dreihundert und sechshundert Millionen stark – ist beunruhigt und auch bedroht von wachsender Ungleichheit. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Milliardäre wie in China. Mittlerweile ist China ungleicher als Amerika oder die Schweiz.
Innovation
Trotz der in westlichen Medien verbreiteten Geschichten über bahnbrechende wissenschaftliche Fortschritte insbesondere auf dem Gebiet der künstlichen – oder besser: maschinellen – Intelligenz sind in puncto Innovation Amerika, Japan oder Europa noch immer führend. Nicht von ungefähr betrifft ein wichtiger Teil des sino-amerikanischen Handelskonflikts eben forcierten Technologietransfer und Schutz des geistigen Eigentums.
Gradmesser
Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Peking und Washington im Handelsstreit wird zeigen, in welcher Richtung sich Chinas wirtschaftliche und soziale Zukunft bewegen wird. Trumps Haudegen-Diplomatie mag so schliesslich für China und die Welt positiv enden. Doch man sollte realistisch bleiben. Die allmächtige Kommunistische Partei Chinas wird sich nicht äusserem Druck beugen, sondern eigenständig ihre Entscheidungen fällen. Wenn die letzten vierzig erfolgreichen Jahre ein Gradmesser sind, dann wird Pragmatismus, das bedeutet weitere Strukturreformen, die Oberhand gewinnen.