Es ist nass und kalt in diesem Sommer. Stürme fegen über den Genfersee. Immer wieder gehen Gewitter nieder. Kein Wetter für Spaziergänge.
In der Villa Diodati im Genfer Vorort Cologny sitzen mehrere Engländer um ein Feuer. Sie wärmen und langweilen sich. Sie erzählen sich Geschichten und philosophieren. Man fantasiert über die Wiederbelebung Toter, über Galvanismus, über Naturphilosophie.
Paparazzi belagern die Gäste mit Fernrohren. Die Engländer, die sich hier in der vornehmen Vorstadtvilla verkriechen, sind nicht irgendwer.
Freie Liebe und so
Da ist Lord Byron, der Star-Autor. Er wird von seinem Leibarzt, dem Schriftsteller John Polidori begleitet. Völlig unerwartet trifft Byron hier auf Claire Clairmont, die er in London geschwängert hatte. Claire wollte den Vater ihres Kindes wiedersehen und ihm den Sohn zeigen. Sie war es gewesen, die das Genfer Treffen organisiert hatte.
Zur Gästeschar gehören auch Claire Clairmonts Stiefschwester, die 19-jährige Mary Godwin und ihr späterer Mann, der jetzt noch verheiratete Percy Shelley. Beide pflegen einen unkonventionellen Lebensstil, predigen die freie Liebe und werden von der Gesellschaft mit Missmut betrachtet. Mit 17 war Mary schwanger und unverheiratet. Ihr Vater ist ein politischer Anarchist und Sozialphilosoph, die Mutter eine Schriftstellerin und feurige Feministin.
Experiment mit einem Toten
Mary Godwin, die bald Percy Shelley heiratet, berichtet später, dass sich die Gäste immer wieder Schauergeschichten vorlasen oder erzählten. Da schlug Lord Byron vor, alle sollten eine eigene solche Schreckensgeschichte verfassen und dann vorlesen.
So erweckt denn die 20-jährige Mary Shelley ein Monster zum Leben, das in die Literaturgeschichte eingeht. Dr. Victor Frankenstein experimentiert mit einem Toten und haucht ihm Leben ein.
Anonym erschienen
Vor genau 200 Jahren, am 1. Januar 1818, gelangt der Roman „Frankenstein oder Der Moderne Prometheus“ in die Londoner Buchhandlungen. Die Auflage beträgt knapp 500 Exemplare. Das Buch ist kein Erfolg und erscheint anonym. Kein Verlag wollte die Urheberschaft einer solchen Horrorgeschichte einer jungen Frau zuschreiben. Percy Shelley schrieb das Vorwort.
Viel später erzählt Mary Shelley, ein Traum habe sie zu der Geschichte inspiriert. Im Schlaf habe sie gesehen, wie ein Leichnam zum Leben erweckt wurde. Literaturkritiker äussern Zweifel an dieser Darstellung. Es handle sich bei dieser Traum-Geschichte wohl eher um eine verkaufsfördernde „Se-non-è-vero-Story“.
Kritik an der Wissenschaft
Literaturexperten haben den Frankenstein-Plot verschieden interpretiert. Einige sehen darin ein Plädoyer für rationales Handeln. Dr. Frankenstein übt unverantwortlich Macht aus und führt sich und die Gesellschaft ins Chaos. Andere interpretieren die Geschichte als Kritik an der Wissenschaft, die die Menschheit letztendlich ins Verderben führt. Der Mensch wird dem Geist, den er aus der Flasche lässt, nicht mehr Herr. Anderseits zeigt der Roman, wie gering ein Einzelner auf den Verlauf der Geschichte Einfluss nehmen kann.
Das Thema ist später in verschiedensten Formen behandelt und variiert worden. Richtig berühmt wurde das Monster aber erst 1931 mit dem Film „Frankenstein“, in dem Boris Karloff das Monster spielt. Da bastelt ein Henry Frankenstein aus Leichenteilen einen Körper zusammen und erweckt ihn mit einem Blitz zu leben. Doch Frankensteins Assistent hat gepfuscht und alles gerät ausser Kontrolle. Auch wenn der Film Ähnliches ausdrücken will wie Mary Shelley, so hat er doch wenig mit dem Roman zu tun.
Produktive Schriftstellerin
Den Ruhm, den Mary Shelley mit „Frankenstein“ erreicht, deckt zu, dass sie als Schriftstellerin sehr produktiv war. Nachdem ihr Mann Percy Shelley bei einem Bootsausflug in der Bucht von La Spezia ertrunken war, zieht sie sich zurück und widmet sich ganz der Schriftstellerei. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Reiseberichte.
Ihr Leben ist jetzt auch verfilmt worden. Die saudiarabische Filmerin Haifaa Al Mansour präsentierte im vergangenen September am Filmfestival von Toronto einen Film über sie. Doch Mary Shelley hätte Besseres verdient. Filmkritiker bezeichnen das Werk als „überflüssiges, wirres, schlecht konzipiertes Melodrama“.
Noch ein Ungeheuer
Doch nicht nur das Frankenstein-Monster ist damals in der Villa Diodati am Genfersee zu Leben erweckt worden. Lord Byron schreibt ein Fragment, das von einem blutsaugenden Wesen handelt. Byrons Leibarzt und Schriftsteller John Polidori spinnt dann die Geschichte weiter. Er nennt sein Werk „Der Vampyr“. Es ist die erste Vampir-Erzählung der Weltliteratur und löst ein eigentliches Blutsauger-Fieber aus. „Der Vampyr“ wird zur Vorlage für Bram Stokers Dracula.
Genf ist also Geburtsort gleich zweier eher unappetitlicher Herren.