Nach Kriegsende hielt er sich versteckt, und 1949 gelang es ihm, sich nach Argentinien abzusetzen. Dort lebte er mit seiner Familie unter dem Namen Ricardo Klement und arbeitete in einem Mercedes-Werk. An Bord der El Al-Maschine, mit der Eichmann im Widerspruch zu geltendem Völkerrecht nach Israel überführt wurde, befand sich die offizielle israelische Delegation, die von den Jubiläumsfeierlichkeiten zur Unabhängigkeit Argentiniens zurückkehrte.
Am 11. April 1961 begann vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts von Jerusalem der Strafprozess gegen Adolf Eichmann. Während Monaten befasste sich das Gericht mit der Fülle des vorgelegten Beweismaterials und mit den Aussagen der über hundert vorgeladenen Zeugen. Eichmann wurde in fünfzehn Punkten, die im wesentlichen seine Rolle bei der Verfolgung der Juden und seine Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisationen betrafen, angeklagt.
Er bekannte sich in allen Punkten als nicht schuldig im Sinne der Anklage, während das Gericht ihn in allen Punkten als schuldig erklärte. Im Dezember 1961 wurde er zum Tod verurteilt. Einer Berufung wurde nicht stattgegeben, das Gnadengesuch des Angeklagten wurde abgelehnt. In der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1962 wurde Eichmann durch den Strang hingerichtet, und seine Asche wurde ausserhalb der israelischen Küstengewässer dem Meer übergeben. Der Prozess stellte zum ersten Mal, über fünfzehn Jahre nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, den Holocaust ins Zentrum einer gerichtlichen Untersuchung; der israelische Ministerpräsident Ben Gurion nannte ihn das „Nürnberg des jüdischen Volkes“. Die Gerichtsverhandlungen wurden weltweit mit grösstem Interesse verfolgt.
Unter den Journalisten, die dem Prozess folgten, befand sich Hannah Arendt. Die Philosophin und Politologin wurde 1906 in Hanno-ver geboren, studierte Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers und emigrierte als Jüdin 1933 erst nach Paris und dann nach New York, wo sie sich als Publizistin und Lektorin durchschlug. Im Jahre 1963 wurde sie Professorin für Politologie an der Universität Chicago und nach 1967 lehrte sie an der New School for Social Re-search in New York. Im Jahre 1951 erschien ihr viel beachtetes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
Die Autorin befasst sich darin mit zwei Grundströmungen der modernen Diktaturen, dem Antisemitismus und dem Imperialismus. Dann wendet sie sich der Analyse von Bolschewismus und Nationalsozialismus zu, die einander weitgehend gleichgesetzt werden: Zwischen Klassen- und Rassenmord gibt es für Hannah Arendt keinen grundsätzlichen Unter-schied. Auch wenn Arendts Hauptwerk heute von den Fachhistorikern kritisch gesehen wird, gehört es doch zu den Pionierwerken der „Totalitarismusdiskussion“, welche Historiker und Politologen bis in die Gegenwart beschäftigt.
Hannah Arendt berichtete über den Eichmann-Prozess in einer fünfteiligen Artikelserie für den New Yorker, die 1963 in gesammel-ter und erweiterter Form in amerikanischer Sprache herauskam. Ein Jahr später erschien das Werk unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem – ein Bericht über die Banalität des Bösen“ auch auf Deutsch. Das Buch fand in verschiedenen Sprachen weite internationale Verbreitung, und ist, versehen mit einem eingehenden Vorwort des Historikers Hans Mommsen, noch immer erhältlich.
„Eichmann in Jerusalem“ wurde nicht nur zum Longseller; es stiess auch gleich nach seinem Erscheinen auf lebhaften Widerspruch; der Historiker Joachim Fest sprach „vom grössten Skandal, den ein Buch in Jahrzehnten hervorgerufen hat“. Bereits der Untertitel erregte die Gemüter. Lief es nicht auf eine Verharmlosung von Eichmanns Verbrechen hinaus, so fragten sich nicht nur die Überlebenden des Holocaust, wenn man von der „Banalität des Bösen“ sprach? Ohne Zweifel war es das unauffällige, kleinbürgerliche Erscheinungsbild des Angeklagten im von Polizisten flankierten Glaskäfig des Gerichtssaals, das die Berichterstatterin dazu verleitete, das Attribut „banal“ zu brauchen.
Eichmann erschien ihr als unbedeutender, subalterner Beamter, wie es ihn überall gibt, als folgsamer Empfänger von Weisungen, die er weiterleitete. Es schien Hannah Arendt wichtig, sich gegen eine Dämonisierung des Angeklagten zu wenden, sie sah in ihm keinen antisemitischen Fanatiker, sondern einen Bürokraten. Mit dieser Einschätzung übernahm sie auch einzelne Argumente, die Eichmann zu seiner Verteidigung anführte. Allerdings war Hannah Arendt weit davon entfernt, an Eichmanns Schuld zu zweifeln, und sie stimmte dem Todesurteil durchaus zu; aber ihr ging es darum zu zeigen, dass im Klima der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie das Verbrechen den Charakter einer Routinehandlung erhielt und moralische Überlegungen ausser Kraft gesetzt schienen. „Im Dritten Reich“, schreibt sie, „hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran.“
Widerspruch erregten auch einzelne Punkte der Kritik, die Han-nah Arendt an der Durchführung des Prozesses übte. Vor allem die Feststellung, der Eichmann-Prozess werde vom israelischen Staat in politischer Absicht als Mittel der Selbstdarstellung genutzt, stiess auf wenig Verständnis. Fatal war im besonderen, dass die Autorin von einem „Schauprozess“ und von einer Inszenierung sprach; damit legte sie die Analogie zu den stalinistischen Schauprozessen der späten dreissiger Jahre nahe, in denen angeblich dissidente Kommunisten gnadenlos abgeurteilt wurden.
Die heftigste Kritik erregte die im Tonfall des Vorwurfs gehaltene Feststellung Hannah Arendts, die Juden hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen, und die Judenräte, die zwischen den Tätern und den Opfern standen, hätten mit den Nazis kollaboriert. „Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung des eigenen Volkes“, schreibt Arendt, „ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte.“ Dazu schreibt Hans Mommsen in seinem Vorwort: „Mit der lapidaren Feststellung dass ohne die Kooperation der jüdischen Funktionäre die ‚Endlösungs‘-Politik nicht in dem tatsächlichen Umfange hätte realisiert werden können, rührte Hannah Arendt an eine Tabu-Zone, die auch bis heute nicht voll aufgehellt und deren Erörterung von denjenigen, die die Katastrophe überlebt hatten, verständlicherweise als gefühllos und anmassend betrachtet worden ist.“
Wir wissen heute auf Grund sozialpsychologischer Untersuchungen besser, als es damals Hannah Arendt wissen konnte, dass unter den furchtbaren Extrembedingungen menschlicher Existenz Vollstrecker und Opfer der Konzentrationslager in der Tat mental zusammenrückten. Und wir wissen, dass die Judenräte, wie es einer der besten Kenner, Raoul Hilberg, formuliert hat, ebenfalls in der Falle sassen und nicht selten im Selbstmord die einzige Möglichkeit sahen, dem grausamen Dilemma, in dem sie sich befanden, zu ent-kommen. Liest man die von unterkühlter Sachlichkeit geprägten Erör-terungen von Hannah Arnedt heute wieder, kann man nachvollziehen, dass einer ihrer Freunde, der Religionshistoriker Gerschom Scholem, der Autorin vorwarf, sie habe es an „Liebe zu den Juden“ fehlen lassen. In seiner Rezension von „Eichmann in Jerusalem“ liess der Historiker Golo Mann seiner Empörung freien Lauf. „Noch einen Schritt,“ schrieb er, „und die Juden haben sich selbst verfolgt und selber ausgemordet und nur zufällig waren noch ein paar Nazis mit dabei. Vielleicht werden wir dies demnächst in Deutschland zu hören bekommen.“
Man wird Hannah Arendt den Vorwurf nicht ersparen können, sie habe in ihrem Buch ein überaus heikles Thema mit einer zuweilen an Arroganz grenzenden Saloppheit abgehandelt, so etwa, wenn sie in Eichmann wenig mehr als eine lächerliche Figur und einen „Hanswurst“ sieht. Zur Entlastung der Autorin wird man gleichzeitig sagen dürfen, dass auf Grund der damals vorliegenden Quellen Hannah Arendts zwar nicht eingestandener, aber spürbarer Vorsatz, die Prozessberichterstattung mit einer Anlayse des Holocaust zu verbinden, schwer zu verwirklichen war.
Das Erscheinen des Buches markierte eine Zäsur im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In Israel waren es die herzbewegenden Zeugenaussagen, die dazu führten, dass weite Teile der Bevölkerung sich des Holocausts als eines entscheidenden Teils ihrer Geschichte bewusst wurden. In Deutschland war bis zum Ende der fünfziger Jahre in der Öffentlichkeit vom Holocaust kaum je die Rede gewesen.
Die Generation der ehemaligen Nazis und Mitläufer verschwieg, verharmloste und verdrängte im Gegenteil die Verbrechen des Dritten Reiches, und die Wiedergutmachungszahlungen an Israel oder die Massnahmen gegen ein erneutes Aufflammen rechtsextremer Tendenzen waren wenig populär. Nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und dem riesigen Medienecho, welches Hannah Arendts Buch auslöste, trat ein Wandel ein, der durch den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1965 noch beschleunigt wurde. Dabei spielte auch der Generationenwechsel eine zunehmend wichtige Rolle.
Die Vertreter der jüngeren Generation begannen, ihre Eltern mit unbequemen Fragen zu konfrontieren und deren Lebensgeschichte zur Diskussion zu stellen. Die Geschichtswissenschaft begann, sich mit dem Nationalsozialismus intensiv auseinanderzusetzen, die Gerichtsverfahren gegen kriminelle Nationalsozialisten verliefen weniger schleppend, an Volksschulen und Universitäten wurde dem unerfreulichen Thema nicht mehr ausgewichen. Auch wenn Hannah Arendts Buch nicht ohne Mängel ist, hat es doch dazu beigetragen, den Umgang der Deutschen mit ihrer jüngsten Vergangenheit zu entkrampfen, den komplexen Sacherverhalt der „Vergangen-heitsbewältigung“ kritisch zu reflektieren und das Demokratiever-ständnis der jungen Bundesrepublik zu stärken.