In den 1980er Jahren wurden westliche China-Korrespondenten nicht müde, das reformeifrige Land über den grünen Klee zu loben. Die vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping 1978 eingeleitete Erneuerung stellte die sozialistische Planwirtschaft vom Kopf auf die Füsse einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“. In Japan, Europa, Amerika und Australien stand beim Thema „Wandel durch Handel“ China zuoberst auf der Prioritätenliste. Dank dieser Konvergenztheorie, so die Annahme, werde im Reich der Mitte früher oder später automatisch Demokratie Einzug halten.
Dengs Warnung
Doch bereits bei den ersten Studentenunruhen in Hefei (Provinz Anhui) 1986/87 machte Deng Xiaoping klar, dass die Kommunistische Partei keinerlei Widerspruch dulden werde. Der damalige Parteichef Hu Yaobang musste zurücktreten. Trotz Dengs Warnung glaubten China-Experten und China-Korrespondenten sowie vor allem die westliche Wirtschaft weiter daran, dass Marktwirtschaft und Öffnung nach aussen zur (westlichen) Demokratie führen werde. Grausam wurden sie 1989 enttäuscht, als die Volksbefreiungs-Armee auf Befehl Dengs die Arbeiter- und Studentenunruhen auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen gewaltsam zum Schweigen brachte.
1992 brachte Deng mit seiner Reise in die Südprovinz Guangdong die Reform wieder auf Kurs. Die „sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung“ entwickelte sich in einem rasanten Tempo. Einerseits konnten so Armut und Hunger von Hunderten von Millionen Chinesinnen und Chinesen besiegt werden. Andrerseits allerdings wuchs im Laufe der positiven wirtschaftlichen Entwicklung auch die Kluft zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land. Die allmächtige KP Chinas – bedacht auf Machterhalt – kann sich diktatorische Allüren gar nicht erlauben. Der marktwirtschaftliche Staatskapitalismus hat zu einem erheblichen sozialen Wandel geführt.
Begrenzte Meinungsverschiedenheiten in der Partei
Die KP ist zwar nach aussen intransparent, doch gibt es nach glaubwürdigen Quellen innerhalb der Partei bis zu einem gewissen Punkt Diskussionen um Meinungsverschiedenheiten. Nach einem einmal gefällten Entscheid allerdings ist die Diskussion beendet. Seit den 1990er Jahren gibt es zudem auf unterster staatlicher Ebene – in den über eine Million Dörfern – ein gewisses Mass an Demokratie in Form von Wahlen. Nach dem Gesetz über Dorfausschüsse finden in den Kommunen alle drei Jahre Wahlen statt. Dabei wurde in den letzten zwanzig Jahren auch nach Ansicht westlicher Beobachter der Wettbewerb immer grösser.
Allerdings hat hier der Volksentscheid ungleich dem liberalen Demokratieverständnis seine Grenzen. Das zeigt beispielhaft das Dorf Wukan in der prosperierenden Südprovinz Guangdong. Dort kam es 2011 zu Protesten gegen lokale Kader, die enteignetes Land verkauften, ohne die Anwohner ausreichend zu entschädigen – ein weitverbreitetes Problem im ganzen Land. Wukans Bürger durften danach einen eigenen Bürgermeister wählen. Der neugewählte Lin Zuluan wurde allerdings später wegen angeblicher Korruption verhaftet und zu 37 Monaten Gefängnis verurteilt. Wukans Stimmbürger waren empört, sprachen von politisch motivierten Korruptionsvorwürfen gegen Bürgermeister Lin und gingen erneut auf die Strasse. Die Sicherheitskräfte machten kurzen Prozess, verhafteten 13 Demonstranten und beendeten den Protest. Die zentrale administrative Kontrolle in Peking und Guangzhou sahen offenbar landesweite Interessen bedroht.
In der 3500 Jahre alten Geschichte Chinas ist bis auf den heutigen Tag politisch wie sozial wenig Vergleichbares mit dem Westen zu erkennen. Bis vor kurzem definierten sich Chinesinnen und Chinesen eher über die Gruppe (Familie, Clan oder Arbeitsplatz) als über das Individuum. Das zeigte sich etwa 1989 bei den Demonstrationen auf dem Tiananmenplatz in Peking. Demonstranten traten in Gruppen auf, etwa hinter dem Banner einer Universität, einer Fabrik, einer Zeitung, eines Ministeriums. Sie definierten sich also eher über eine Gruppe als über das Individuum. Gedacht und gehandelt wird noch heute eher in der Kategorie „Sowohl als auch“ – ungleich dem westlichen „Entweder-Oder“.
Nicht durch, sondern für das Volk
Bei der Vereinigung Chinas vor etwas mehr als 2200 Jahren war der legistische Philosoph Han Fei massgebend für die erste Dynastie der Qin. „Es gibt nur zwei Handhabungen der Macht“, so Han Fei, „mit deren Hilfe der kluge Herrscher die Beamten unter Kontrolle hält, und zwar Strafe und Güte. Was bedeutet Strafe und Güte? Unter Bestrafung versteht man Töten und Hinrichten, unter Güte das Belohnen und Auszeichnen.“ Heute im Zeitalter des „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten für eine neue Ära“ („Gedanken Xi Jinpings“) ist allerdings wie schon zur Zeit der Han-Dynastie (2. Jh. vor bis 2. Jh. nach unserer Zeitrechnung) Konfuzius wieder massgebend, also Meritokratie: „Konfuzius sprach: Um die Ausübung eines Amtes kümmere sich nur, wer dafür kompetent ist.“
Das Idealbild von Meister Kong: Politik nicht durch das Volk, sondern für das Volk. Nicht die Freiheit des Individuums, nicht Wahlen oder Gewaltenteilung werden also von Konfuzius unterstützt. Vielmehr wird die Schutzfunktion der Herrschenden als tugendhafte Politiker in den Vordergrund gestellt. Ähnlich also wie es in den letzten vierzig Reformjahren bis hin zu Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping der Fall ist. Menzius, der geistige Nachfolger von Konfuzius, machte jedoch eine wichtige Einschränkung geltend: Wenn ein inkompetenter Herrscher das Zepter in die Hand bekommt, könne dieser von den Untertanen beseitig werden.
„Demokratie ganz unten“
Vor solchem Aufruhr fürchtet sich auch die allmächtige Kommunistische Partei. Deshalb Wahlen auf unterster Ebene, deshalb streng gehandhabte innerparteiliche Demokratie, deshalb auch Bürgerversammlungen zu sensiblen Themen – Preiserhöhung für Wasser oder Elektrizität etwa – und regelmässige repräsentative Untersuchungen zur Meinung der Bürger und Bürgerinnen. Der amerikanische Politikwissenschafter Daniel A. Bell brachte dieses Verständnis auf die Formel „Demokratie ganz unten – Meritokratie ganz oben“.
Westliche Experten, Korrespondenten, selbst Sinologen tun sich noch immer wegen der nach wie vor eurozentrischen Sichtweise schwer damit, dass weder Demokratie noch Sozialismus in westlicher Tradition von China akzeptiert wird. Die schrille Berichterstattung und Kommentierung der am letzten Parteitag beschlossenen Amtszeitverlängerung für Xi Jinping – „der neue Mao“ – oder das wenig kenntnisreiche Hyperventilieren und Schwadronieren zum neuen chinesischen Social-Credit-System zeigen das deutlich. Die konfuzianisch geprägten roten kommunistischen Kaiser haben also – summa summarum – weder die Diktatur noch die Demokratie neu erfunden. Sie halten sich an Meister Kong und, wer weiss, eines Tages vielleicht sogar an Mencius.