Die englischsprachige Wendung Mending Fences bedeutet soviel wie ‚Streitschlichten’, ‚Wiederherstellung guter Nachbarschaft’. Genau dies taten letzte Woche die beiden indischen Parlamentskammern, als sie die 119. Änderung ihres Grundgesetzes beschlossen. Es ging um eine Grenzbereinigung mit Bangladesch, und sie taten es in seltener Einmütigkeit, als wären sie dies ihrem Nachbarn schuldig.
Das waren sie in der Tat, denn sie holten etwas nach, was Bangladesch bereits vor vierzig Jahren getan hatte, als es ein Abkommen zwischen Indira Gandhi und Premierminister Sheikh Mujibur Rahman im Parlament ratifiziert hatte. Wie so oft war es Indiens Demokratie und streitsüchtige Politik – und die quasi angeborene Neigung zu vagen Grenzziehungen – gewesen, die den Schritt so lange verzögert hatten.
200 Krümel
Man muss gestehen: Hier geht es um eine Grenzkorrektur, die in ihrer Komplexität weltweit ihresgleichen sucht. Nicht nur, weil die beiden Länder eine gemeinsame Grenze von 4100 Kilometern miteinander teilen. Im Norden von Westbengalen, dem Gebiet des früheren Kleinkönigreichs von Cooch Behar, ist das Grenzgebiet zudem übersät von über 200 Enklaven – 111 indische Landstriche in Bangladesch, 92 bangalische auf indischem Boden.
‚Landstriche’ ist ein grosses Wort. Genauer wäre der bengalische Ausdruck Chhit Mahal: ‚Tropfen’, ‚Krümel’, ‚Fetzen’. Denn viele dieser Enklaven sind nicht viel grösser als ein Acker – die kleinste weist eine Grösse von 53 Quadratmetern auf. Insgesamt handelt es sich um weniger als einhundert Quadratkilometer Territorium. Nur die grösste, das bangalische Dohogram, ist ein ganzes Dorf mit Feldern, Teichen und Strassen.
Eine Woche Kampf um 1/3 Hektar
Dohogram zeigt auch, was für die rund 50'000 Bewohner dieses Enklaven-Leben in den letzten sechzig Jahre bedeutet hat: Das vollständige Fehlen staatlicher Leistungen und Schutzes. Die bangalischen Exklaven waren nicht an Indiens Verkehrs- und schon gar nicht an sein Stromnetz angeschlossen; es gab keinen Handel, es sei denn, man zähle den massiven Kuhschmuggel nach Bangladesch dazu. Damit eine Polizeipatrouille eines der abgeschotteten Dörfer besuchen konnte, brauchte es langwierige Bewilligungsverfahren beim anderen Staat, via Dhaka, oder Kolkata und Delhi.
Im Fall von Dohogram ist diese Trennung besonders pikant, weil der nächstliegende Punkt nur 85 Meter vom ‚Festland’ getrennt ist. Der indische Korridor verhindert dies. Er beträgt im lokalen Flächenmass drei Bighas, etwa ein Drittel Hektar. Jedem indischen Dreikäsehoch ist Tin Bigha ein Begriff, denn um diesen ‚Fetzen’ Land balgten sich im Jahr 1965 indische und pakistanische Truppen eine ganze Woche lang. Man schrieb den zweiten indo-pakistanischen Krieg, das spätere Bangladesch hiess noch Ost-Pakistan, und dieses fürchtete, dass Indien Dohogram einnehmen wollte.
Enklave in der Enklave in der Enklave
Wem diese geopolitischen Erdkrümel diesseits und jenseits der Grenze noch nicht kompliziert genug sind – es kommt noch besser. Eine Reihe von Enklaven sind nämlich ‚Enklaven-hoch-zwei’ – eine Enklave, die eine weitere Enklave enthält. Und wer bei Wikipedia unter ‚Dahala Khagrabari Nr. 51’ nachschlägt, findet sogar die dritte Potenz: Die Nr. 51, ein Acker, ist indisches Territorium auf dem Boden des bangalischen Dorfs Upanchowki, das wiederum auf dem Gebiet von Balagora liegt, einer indischen Exklave der Provinz Rangpur in Nord-Bangladesch.
Experten rätseln über den Ursprung dieses Flickenteppichs. Tatsache ist, dass die meisten Chhits einmal dem früheren Kleinkönigreich Cooch Behar gehörten. Es war vom Mogulreich vereinnahmt worden war, lebte aber in einem feudalen Lehensverhältnis weiter. Die separaten Ländereien waren wohl zu unterschiedlichen Zeiten einverleibt worden, und sie fristeten ihre separate bodenrechtliche Existenz innerhalb des Grossreichs weiter. Dasselbe geschah, als Grossbritannien den Grossmogul vom Pfauenthron stiess.
Bangladesch – Exklave auf indischem Boden
Erst als sich mit der Entkolonisierung des Landes die Existenz zweier Staaten abzeichnete, wurde daraus ein Problem. Die Hast, mit der sich Grossbritannien damals aus dem Staub machte, komplizierte es zusätzlich. Denn die Grenzziehungskommission von Sir Michael Radcliffe zog damals in grösster Eile eine Grenze zwischen Indien und Ost/Westpakistan, deren einziges Grobraster die Religionszugehörigkeit war: Hatte ein Bezirk in den Provinzen Sindh, Panjab und Bengalen eine Muslim-Mehrheit, ging er an Pakistan, sonst blieb er in Indien. Für die Zuteilung der 200 Enklaven fehlte die Zeit; sie fielen links und rechts der neuen Grenze unter den Tisch des einen oder andern Staats. Sie waren so klein und unbedeutend, und ihre Bewohner so arm, dass sie im grossräumigen Diskurs bald vergessen gingen. Selbst die Kriegsoperette von Tin Bigha änderte nichts daran.
Und als sie aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wurden, war es nicht aus Sorge um die Staatenlosigkeit und Vernachlässigung ihrer Bewohner. Die Chhits wurden in Indien zu einem Politikum wegen des steigenden Migrationsdrucks des dichtbevölkerten Bangladesch (Indien zählt zwischen sechzehn und sechzig Millionen illegale bangalische Wirtschaftsflüchtlinge- die weite Spanne zeigt, wie schwierig es ist, sie im indischen Melting Pot zu identifizieren). Und da ganz Bangladesch quasi eine Exklave auf indischem Boden darstellt, wurden die 4100 Kilometer Nachbarschaft bald zu einer heissen Grenze, und die Krümel zu kleinen Zeitbomben.
Der längste Grenzzaun der Welt
Im Jahr 1989 begann Delhi mit dem Bau eines mehrfach gestaffelten Stacheldrahtverhaus. Obwohl erst gut zwei Drittel des Zauns vollendet sind, ist er bereits heute der weitaus längste physische Grenzzaun der Welt; vollendet, wird er dreimal so lang sein wie es der Eiserne Vorhang zwischen den beiden deutschen Staaten war.
Die heutige Regierungspartei BJP war eine lautstarke Befürworterin des Stacheldrahtzauns. Die meisten bangalischen Migranten sind Muslime, und neben der vermeintlichen Kinderfreundlichkeit der indischen Muslime sind sie für die BJP die grösste ‚Gefahr’ für die demografische Vorherrschaft der Hindus. Noch letztes Jahr verkündete der BJP-Spitzenkandidat Narendra Modi: „Alle illegalen Migranten werden nach Bangladesch zurückgeschoben“ (und fügte vielsagend hinzu: „Nur jene, die Durga Mata verehren, werden willkommen geheissen, als Söhne von Mutter Indien“). Der heutige Finanzminister Arun Jaitley schwor, selbst der Verlust von einem Inch Muttererde wäre eine schwere Verletzung der Verfassung.
Angst vor China
Man muss diesen Politikern zugutehalten, dass sie nun über ihren Partei-Schatten gesprungen sind und grosszügig einen Nettoverlust von rund 40 Qkm. in Kauf nehmen. Auch die Kongress-Opposition folgte für einmal nicht ihrem Reflex, alles abzulehnen, was sie selbst einmal geschaffen hatte. Nun fehlen noch die Übernahme eines internationalen Vorschlags zur Festlegung der maritimen Grenze, sowie die Zuteilung der Wasserrechte des Teesta-Flusses, der aus Indien nach Bangladesch fliesst.
Es ist der Schatten des Grossen Bruders China, der – neben den Migrantenströmen – den indischen Politikern Beine macht. Beijing würde liebend gern – und mit Massen von Kleingeld – mit Bangladesch ins Bett steigen und in dieser indischen ‚Exklave’ ein paar Stützpunkte errichten. Das gilt es zu verhindern. Zudem haben die beiden asiatischen Giganten einen viel massiveren Grenzstreit, bei dem es um mehrere zehntausend Quadratkilometer geht. Da kann es nicht schaden, wenn man mit dem guten Beispiel vorangeht, besonders zum Auftakt des China-Besuchs von Premierminister Modi, der diese Woche ansteht. Für einmal können sich die 200 Erdkrümel damit brüsten, auf dem Tisch der hohen Diplomatie zu liegen, statt als Brosamen darunter.