In der Nacht auf den 21. Oktober, vier Tage nachdem der Beginn der Offensive gegen Mosul angekündigt worden war, infiltrierten IS-Kämpfer die Stadt Kirkuk. Die Nachrichten über das Geschehen in der von den kurdischen Peschmerga gehaltenen Stadt gelangten stückweise an die Aussenwelt. Die Medien waren vor allem mit der neuen Offensive auf Mosul beschäftigt.
Schon damals war klar, dass es sich beim Angriff auf Kirkuk um ein Ablenkungsmanöver des IS handelte. Es war dazu bestimmt, den Anhängern und Freunden der Jihadisten klar zu machen, dass diese neben Mosul weitere Zentren im Irak kontrollierten und dass der IS nach wie vor zuschlagen kann.
Immer mehr Selbstmordanschläge
Ähnliche Botschaften vermitteln auch die vielen Bombenanschläge. Ausgeführt werden sie meist in den schiitischen Landesteilen südlich von Bagdad. Selbstmordattentäter fahren mit Lastwagen, die mit Sprengstoff beladen sind, an ihr Ziel und zünden dort die tödliche Ladung. Diese Anschläge häufen sich derart, dass sie höchstens noch als Kurzmeldungen Erwähnung finden.
Sogar wenn – wie am vergangenen 24. November in der Nähe von Kerbala – 80 Menschen sterben und über 200 verletzt werden. In diesem Fall explodierte der Sprengstoff auf einem Lastwagen an einer Tankstelle, wo mehrere Busse mit schiitischen Pilgern parkiert waren. Die meisten der Opfer waren Iraner, die vom Arba'in Fest nach der Heiligen Stadt Kerbala heimkehrten. In Kerbala waren für dieses Fest nach irakischen Angaben 20 Millionen Menschen zusammengekommen, davon drei Millionen Pilger aus Iran.
Was geschah in Kirkuk wirklich?
Jetzt haben kurdische Sicherheitsleute erstmals einigen Journalisten Einblick über das gegeben, was in Kirkuk wirklich geschah. Die Kurden sind eher bereit, solche Informationen zu liefern als ihre irakischen Kollegen in der Hauptstadt Bagdad.
Dort herrscht nach wie vor Misstrauen, und Informationen werden zurückgehalten, weil die Sicherheitskräfte selbst unter dem Einfluss divergierender politischer Kräfte stehen. Zum Beispiel werden die irakischen Sicherheitsbehörden immer wieder von iranischen oder pro-iranischen Kräften infiltriert. Ihre Ratschläge und Anweisungen stehen oft im Gegensatz zu jenen der amerikanischen Berater.
Für 150 Dollar pro Monat rekrutiert
Über Kirkuk hat die italienische Journalistin Francesca Mannocchi einen Monat später eine ausführliche Reportage geschrieben *). Einer der Gefangenen wurde ihr vorgeführt. Er ist 24 Jahre alt und gesteht offen, er sei in der etwa 50 Kilometer von Kirkuk entfernten Stadt Hawidscha kurz vor der Eroberung Mosuls vom IS rekrutiert worden. „Nicht in einer Moschee“, sagt er, „auf der Strasse!“ Er behauptet, er habe sich seit Januar 2014 „nur für Geld“ dem IS zur Verfügung gestellt. Er habe bloss 30 Dollar im Monat verdient. Der IS habe ihm 150 bezahlt. Er sei für seine Familie verantwortlich, und der IS habe versprochen, für sie zu sorgen.
Er fügt hinzu: „Jedermann hasste die (schiitische) Regierung und die Amerikaner. ... Die Verantwortlichen des IS begannen schon kurz nach meiner Rekrutierung davon zu reden, dass es nötig sei, für den Jihad Opfer zu bringen und Ungläubige, sowie auch 'falsche Muslime' zu töten.“
Schulen und Moscheen angegriffen
Nach den Aussagen dieses Gefangenen, die von den Peschmerga bestätigt wurden, waren 130 Kämpfer aus Hawidscha in Kirkuk eingedrungen. Der Flecken Hawidscha, südlichwestlich von Kirkuk, befindet sich nach wie vor im Besitz des IS. Er ist zur Enklave geworden und steht unter lockerer Belagerung. Die irakische Armee ist östlich des Bezirks Richtung Mosul vorgestossen.
20 der jungen Männer, die in Kirkuk eingedrungen waren, hätten Selbstmordwesten getragen, berichtete der Gefangene. In Kirkuk hätten sie sich in fünf Gruppen aufgeteilt und ihre vorgesehenen Ziele angegriffen. Dabei handelte es sich um zwei Hotels, Schulen, eine Polizeistation, eine Moschee und das Gefängnis. In diesem befindet sich nun der Gefangene, der der italienischen Journalistin vorgeführt wurde. Den Angreifern fielen 80 Personen zum Opfer. Über 200 Menschen wurden verwundet. Die Kämpfe in Kirkuk dauerten drei Tage lang.
Zusammenarbeit zwischen dem IS und Saddam-Offizieren
Sarhad Qadir, Polizeigeneral der Peschmerga, der die Polizei von Kirkuk kommandiert, erklärte, es gebe weitere Gefangene, die der italienischen Korrespondentin nicht vorgeführt wurden. Unter ihnen befinde sich auch der „Amir“ (Befehlshaber) der Gruppe, Abu Islam al-Iraqi.
Kürzlich habe die Polizei einen Vetter von Saddam Hussein gefangengenommen, der gestanden habe, dass er zum IS gehört. Dies sei bezeichnend für die enge Zusammenarbeit, die zwischen dem IS und den ehemaligen hohen Beamten und Offizieren Saddams besteht.
Überall Schläferzellen
Der General kritisierte auch die Strategie der Offensive gegen Mosul. Die irakische Regierung hätte nicht zulassen dürfen, sagte er, dass der IS überall im Lande, so auch in Hawidscha, verstreute Bastionen unterhält. Zudem verfüge der IS über zahlreiche Schläferzellen, die jederzeit mobilisiert werden können.
Auch in Kirkuk, so sagte der Polizeigeneral, seien mehr Schläferzellen vorhanden gewesen, als die Polizei vermutet habe. Diese versteckt agierenden IS-Sympathisanten seien es dann gewesen, die den Eindringlingen geholfen hätten. Polizisten an Strassensperren seien zum Teil bestochen worden, um die IS-Kämpfer einzulassen. Dies hätten einige der Gefangene berichtet.
Vertreibung von Arabern aus Kirkuk
Laut Angaben von Amnesty International und Human Rights Watch sind nach der Attacke auf Kirkuk Hunderte sunnitisch-arabischer Familien von Anti-IS-Kräften aus ihren Häusern vertrieben worden. Ihnen wurde vorgeworfen, sie seien IS-Sympathisanten. Die Häuser selbst wurden anschliessend zerstört.
Kirkuk ist eine umkämpfte Stadt. Sie wird von Arabern, Kurden und Turkmenen bewohnt. In der Zeit Saddam Husseins und schon vorher unter den sunnitisch arabisch dominierten Regimen hatten die Regierungen immer wieder dafür gesorgt, dass Kurden aus der Stadt vertrieben und dafür Araber angesiedelt wurden. In der Nähe der Stadt befinden sich grosse Erdölvorkommen. Bagdad ging es darum, die Provinz Kirkuk zu einer „arabischen“ Provinz zu machen.
Die Kurden trotzen in Kirkuk
Die Kurden sind der Ansicht, dass Kirkuk und die Ölfelder seit jeher kurdisches Siedlungsgebiet sind. Auch zwischen der gegenwärtigen Regierung in Bagdad und den Kurden ist die Kirkuk-Frage weiter umstritten. Doch die Lage hat sich insofern geändert, als die irakische Armee im Sommer 2014 nicht nur aus Mosul vertrieben wurde, sondern auch aus Kirkuk und zahlreichen anderen Städten, die zwischen Mosul und Bagdad liegen.
In Kirkuk allerdings konnten sich die kurdischen Peschmerga-Kämpfer halten. Nach der Vertreibung der irakischen Armee besetzten die Kurden die ganze Stadt und auch die umliegenden Ölfelder. Angriffe des IS konnten die Peschmerga-Kämpfer immer wieder abwehren. Die Front verläuft zwanzig Kilometer ausserhalb der Stadt.
Eine Abstimmung, die nie stattfand
Nach der geltenden irakischen Verfassung aus dem Jahr 2005, als die Amerikaner das Land besetzt hielten, sollte in einer Volksabstimmung entschieden werden, ob Kirkuk zu den kurdischen Autonomiegebieten geschlagen wird oder ob die Stadt künftig Bagdad unterstehen soll. Doch die Abstimmung hat nie stattgefunden. Es war nicht einmal festgelegt worden, wer denn überhaupt abstimmen soll.
In dieser unklaren Situation versuchten die kurdischen Behörden, möglichst viele arabische Bewohner der Stadt zu vertreiben und möglichst viele Kurden anzusiedeln.
Kein Stimmrecht für arabische Flüchtlinge
Paradoxerweise geschah nun das Gegenteil. Etwa 300'000 Menschen sind seit 2005 aus den arabischen Kriegsgebieten in die Provinz Kirkuk geflohen, die von Peschmerga-Soldaten abgesichert ist.
Diese Geflohenen sind in Lagern untergebracht. Natürlich sind die kurdischen Behörden nicht bereit, diesen arabischen Flüchtlingen das Stimmrecht für die geplante Volksabstimmung zu gewähren. Einige dieser Geflohenen hatten sich inzwischen in Häusern niedergelassen. Von dort wurden sie nun wieder vertrieben.
Streit zwischen Sunniten und Schiiten schüren
Kirkuk könnte einen Vorgeschmack dessen liefern, was nach der Eroberung von Mosul zu erwarten ist. Der IS wird auch nach einem Fall der Metropole Mosul im Irak weiterhin präsent sein, teils offen in versprengten Kampfeinheiten, vor allem aber heimlich in Schläferzellen.
Die IS-Kämpfer werden weiterhin demonstrieren, dass es sie gibt und dass sie „unbesiegbar“ sind. Und vor allem werden sie versuchen, den Streit zwischen den irakischen Nationalitäten und Konfessionsgruppen (Sunniten gegen Schiiten) weiter anzufachen und zu nähren. Die Führer des „Islamischen Staats“ wissen, dass das ihre beste Chance ist, später Macht und Herrschaftsgebiete zurückzugewinnen.
*Die englische und die französische Fassung der Reportage erschienen auf dem spezialisierten Blog, Middle Est Eye, unter: http://www.middleeasteye.net/news/isis-kirkuk-islamic-state-cell-leader-1779316950