Endlich hatten die in der EU versammelten Völker die Möglichkeit, zwischen zwei Spitzenkandidaten zu wählen. Schulz oder Juncker, Deutscher SPD-Karrierist oder Luxemburgischer Alt-Bürokrat, wer soll denn EU-Kommissionsvorsitzender werden? Normalerweise der, der im Parlament der stärksten Fraktion angehört und genügend Parlamentarier hinter sich versammelt.
In der EU ist alles anders
Nun ist die EU-Kommission aber gar keine richtige Exekutive, ihr Vorsitzender kein richtiger Regierungschef und das Parlament auch keine richtige Legislative. Denn sie darf weder Gesetze erlassen noch eine Regierung wählen, was seit Montesquieus Gewaltenteilung eigentlich ihre vornehmsten Aufgaben wären.
Die 43,1 Prozent der EU-Wahlberechtigten, denen dieses demokratische Recht nicht sowieso am Allerwertesten vorbeiging, haben entschieden. Die europäische Version der Christdemokraten bleibt die stärkste Fraktion, ihr Kandidat war Juncker, also wird er mit der Regierungsbildung beauftragt. Aber jein. Der EU-Ratspräsident Van Rompuy wurde von den EU-Staats- und Regierungschefs damit mandatiert, mal mit dem Parlament Gespräche zu führen, wer denn nun Kommissionsvorsitzender werden soll.
Da fragt sich der Wähler natürlich, wieso ihm vorgegaukelt wurde, er könne sich nun zum ersten Mal volldemokratisch zwischen mehreren Kandidaten für dieses Amt entscheiden, und derjenige, dessen Partei die meisten Stimmen kriegt, wird es dann auch. Aber Pustekuchen.
Merkel und Cameron
In Wirklichkeit ist es so, dass es offenbar zwischen der starken Frau Europas, Bundeskanzlerin Merkel, und dem um sein politisches Überleben kämpfenden britischen Premierminister Cameron eine kleine Meinungsverschiedenheit gibt. Der französische Präsident Hollande ist zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, Italien und Spanien haben ganz andere Probleme, also tut die EU das, was sie neben Gurken ausmessen am besten kann: kungeln.
Da kommt den Staatenlenkern entgegen, dass Wählerwille und Parlament in der europäischen Version einer Demokratie keine grosse Rolle spielen. Denn die Mitglieder der EU-Kommission werden von den Staats- und Regierungschefs dem EU-Rat vorgeschlagen –was das wieder ist, spielt keine Rolle –, der sie wiederum dem Parlament serviert. Das kann dann abnicken – oder ablehnen, was aber eine Premiere wäre.
Nun ist Cameron entschieden gegen Juncker, und Merkel, deren einziges erkennbares politische Konzept im Aussitzen besteht, sagt den schönen Satz: «Ich habe Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidaten unterstützt. Das habe ich nach dem Wahltag nicht vergessen.» Beruhigend, dass ihr Kurzzeitgedächtnis noch funktioniert. Aber einen Automatismus gebe es da natürlich nicht, fährt Merkel fort. Wäre ja noch schöner, wenn der Wählerwille einfach automatisch respektiert würde, wo kämen wir denn da hin.
Zum Abgewöhnen
Dass die EU, insbesondere die Eurozone, als ökonomisches Konstrukt versagt hat, ist angesichts ihres desolaten wirtschaftlichen Zustands inzwischen der überwiegenden Mehrheit ihrer Bürger klar. Aber eine Minderheit, die noch wählen ging, hält offenbar an der Illusion fest, dass die EU wenigstens auf politischem Gebiet funktionieren könnte.
Denen zeigen nun aber die versammelten Staats- und Regierungschefs der EU-Länder, was sie von einem Wahlergebnis halten. Nämlich nichts. Wir haben euch zwei Spitzenkandidaten präsentiert, ihr habt euch für einen entschieden, und selbst der unterlegene SPD-Mann Schulz macht sich für dessen Wahl zum Kommissionspräsidenten stark (nicht ganz uneigennützig, weil er Vizepräsident werden will, aber immerhin). Doch Merkel und Co. machen klar: Na und, das vergessen wir deswegen nicht, weil wir es nicht mal zur Kenntnis nehmen.
Zureichende Verdachtsmomente
Könnte es sein, dass diesen Bannerträgern der Respektierung des Wählerwillens dieser auf EU-Ebene schlichtweg völlig Wurst ist? Könnte es sein, dass nicht die sogenannten EU-Gegner, gar EU-Feinde, deren massive Stimmengewinne die EU-freundlichen Parteien eigentlich aufschrecken müssten, gar nicht die wirklichen Gegner einer sich demokratisch organisierenden EU sind? Sondern diejenigen, die dem Wählerwillen dermassen ungeniert ins Gesicht spucken?
In Malawi fanden auch kürzlich Präsidentschaftswahlen statt. Ja, in diesem Elendsloch in Afrika, einem der ärmsten Länder der Welt, teilweise unregierbar, ein gescheiterter Staat. Die amtierende Präsidentin Joyce Banda annullierte dann kurzerhand die Wahlen wegen «schweren Unregelmässigkeiten». Die schwerste bestand offensichtlich darin, dass sie bei den ersten Auszählungen nur auf Platz drei im Kandidatenfeld lag. Aber immerhin, sie hat Neuwahlen innerhalb 90 Tagen angekündigt und dass sie nicht mehr antreten will. Malawis Staatsverschuldung liegt übrigens bei lediglich 58 Prozent des BIP. Da könnte sich die EU ein, zwei Scheiben von abschneiden. Das wäre für ein Mal sinnvolle und umgekehrte Entwicklungshilfe.