Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping hat das Projekt vor drei Jahren lanciert, nachdem bereits vor zehn Jahren innerhalb der Partei damit begonnen wurde, intensiv über einen städtischen Wirtschaftsraum von bislang unvorstellbarer Grösse nachzudenken. Chinesische und ausländische Stadtplaner, Architekten, Sozial- und Wirtschaftswissenschafter sind daran beteiligt. Chinas Premier Li Kejiang, die Nummer 2 der Partei, ist bei der Entwicklung des Mega-Projekts besonders kompetent, hat er doch an der Pekinger Elite-Universität Beida mit einer Doktorarbeit über Stadt-Land-Modernisierung promoviert.
Das neue Peking
Geht alles nach Plan, wird bereits ab nächstem Jahr damit begonnen, Ministerien und andere wichtige Teile der Verwaltung sowie Universitäten, Spitäler, eventuell sogar die Zentrale der allmächtigen Kommunistischen Partei in neue Stadtgebiete zu verlegen. Ein neues Stadtgebiet ist in der Verwaltungszone Tonzhou in den letzten Jahren im Osten Pekings entstanden mit allem, was dazu gehört: Anschluss an den Öffentlichen Verkehr, Wohnungen, Industriezonen, Parkanlagen, Schulen, Krankenhäuser und vieles mehr. Parteichef Xi Jinping war Ende Mai des Lobes voll. An einer Politbüro-Sitzung bezeichnete Xi das „neue Peking“, d.h. die 155 Qadratkilometer grosse Neustadt Haojiafu im Verwaltungsbezirk Tongzhou als „grün, bewaldet, intelligent“. Bereits sind an die zweitausend kleine, mittlere und grosse Industriebetriebe zugezogen. Der Stadtteil zählt derzeit rund 900‘000 Einwohner und soll nach den Stadtplanern die Zwei-Millionen-Grenze einst nicht überschreiten.
Stadtluft macht reich
Peking mit derzeit 21,5 Millionen Menschen, davon rund sieben Millionen im Zentrum, soll im Gegenzug etwas an Einwohner verlieren. Der Druck ist gross. Die Luftverschmutzung ist immens, der Verkehr mit 5,6 Millionen Autos ist trotz dem in den letzten fünfzehn Jahren von zwei auf 18 Linien ausgebauten Untergrundbahnetz noch immer, mild ausgedrückt, sehr zähflüssig. Bereits wird auch an der 7. Ringstrasse gebaut, nachdem in den letzten zwanzig Jahren die 3., 4., 5. und 6. Ring entstanden sind.
Vor dreissig Jahren zählte die Hauptstadt des Reichs der Mitte noch nicht einmal ganz zehn Millionen Einwohner. Die Stadtbehörden versuchten ohne Erfolg, den Zustrom der Migranten, Bauern vom Lande, zu bremsen. China und andere Schwellen- und Entwicklungsländer machen so eine Erfahrung, welche den heute reichen Ländern wohlbekannt ist aus der Zeit der Industrialisierung im 19. Und 20. Jahrhundert: Verstädterung. Chinesische Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen – rund 300 Millionen – träumen den Traum: Stadtluft macht, wenn nicht frei, so doch immerin wohlhabend oder gar reich.
Neues Wirtschaftsmodell
Rein ökonomisch betrachtet haben in den letzten zweihundert Jahren städtische Gebiete tatsächlich mehr Wohlstand gebracht. Heute gar werden nach Uno-Zahlen rund 80 Prozent des weltweiten Brutto-Inlandprodukts in städtischen Agglomerationen erarbeitet. Die Kehrseite allerdings sind urbane Armut. Auch in China. Der Verstädterungs-Prozess in China verläuft allerdings um einiges schneller als vor 150 Jahren in Europa. Und das in einem geradezu gigantischem Ausmass.
Die Entwicklung der von Xi Jinping so hoch gelobten neuen Stadt in Tongzhou ist Teil einer neuen Politik. Urbanisierung wird ein wichtiger Punkt sein des neuen Wirtschaftsmodells, d.h. weg von der einseitigen Export- und Investitionsabhängigkeit hin zu mehr Binnennachfrage, Konsum, Innovation und Umweltverträglichkeit. Bei der Gründung der Volksrepublik 1949 lebten knapp zehn Prozent der Bevölkerung in Städten. Ende 2015 waren es laut offiziellem Census 760 Millionen Menschen, davon 260 Millionen zugewanderte Bauern. Das ergibt eine Urbanisierungsquote von knapp 55 Prozent. Dieser Anteil soll bis in die Mitte des Jahrhunderts auf 75 Prozent oder knapp über eine Milliarde Einwohner erhöht werden. Im Jahre 2050 soll es im Reich der Mitte 2‘000 Städte geben, davon 200 Millionen-Städte. Die Planer in Peking rechnen dannzumal mit 30 städtischen Aglomerationen von mehr als 5 Millionen und 15 mit mehr als 10 Millionen Einwohnern.
Jing-Jin-Ji
Das Projekt in Tongzhou ist Teil eines grösseren Planes. Entlang des Peking-Tianjin-Korridors an der Bohai-Bucht soll ein städtischer Moloch gigantischen Ausmasses entstehen. Die Hauptstadt Peking soll mit der Hafenstadt Tianjin und der den Korridor umgebenden Provinz Hebei verbunden werden. Der Name Jing-Jin-Ji ist Programm. Jing steht für Beijing (Peking), Jin für Tianjin und Ji für die alte Bezeichnung der Provinz Hebei oder der Name von Peking bis zum Ausgang der Tang-Dynastie (618-907). Das Gebiet von 210‘000 Quadratkilometern mit gut 150 Millionen Einwohnern soll ähnlich wie die Wirtschaftsräume des Yangtse-Deltas um Shanghai, Nanjing, Hangzhou und des Perlfluss-Deltas um Guangzhou (Kanton), Shenzhen, Macao, Honkong zu Wachstumsmaschinen werden.
Jing-Jin-Ji wird ein Labor für modernes Städte-Wachstum werden. Liu Gang, Professor an der Nankai-Universität in Tianjin, sagte in einem Interview mit der „New York Times“, dass die „Superstadt die Avangarde der wirtschaftlichen Reform ist und die Sicht der Führung für Integration, Innovation und Schutz der Umwelt reflektiert“.
Kreatives Peking
Innerhalb von Jing-Jin-Ji werden jeder Stadt und Region spezifische Aufgaben zugeteilt. Peking als führende Kultur- und Erziehungsstadt Chinas soll in den nächsten zwanzig Jahren weiter die Rolle der kreativen Kultur, der wissenschaftlichen Forschung und der Spitzen-Technologie spielen, während Tianjin und die umgebende Provinz Hebei Industrieproduktion, Handel und Logistik noch mehr ankurbeln sollen. Tianjin mit 13 Millionen Menschen ist Chinas drittgrösste Stadt und führend beispielshalber in der Luftfahrtindustrie, dem Schiffsbau und als Hafenstadt natürlich der Logistik, zudem zusammen mit Hebei massgebend in der Automobilindustrie tätig. Peking wiederum ist nicht nur Verwaltungszentrum und das kreative Zentrum Chinas, sondern ist mit seinen Eliteuniversitäten auch wegweisend in der Forschung und im IT-Bereich. In der Bohai-Bucht, an der Jing-Jin-Ji liegt, wurden zudem neulich vielversprechende Erdöl- und Erdgasvorkommen entdeckt.
„Nicht über Nacht“
Die Urbanisierung Chinas lässt sich trefflich an Jing-Jin-Ji erläutern. Heute gibt es dort vier Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern (Pekig, Tianjin, Baoding, Shijiazhuang) und fünf weitere Städte mit mehr als drei Millionen (Tangshan 7,5 Mio, Cangzhou 7 Mio, Langfang 4,5 Mio, Zhangjiakou 4,5 Mio und Chengde 3,5 Mio). Wirtschaftlich, sozial und finanziell sind die städtischen Behörden in ganz China gefordert. Es geht um Arbeitsplätze, Wohnraum, Schulen, Spitäler, soziales Netz mit Renten, Krankenkassen und Betreuung der schnell alternden Bevölkerung. Dazu kommen Strassen, Kanalisation, Wasserversorgung, öffentlicher Verkehr, Strom, Erdgas oder Erdöl. Chinesische Ökonomen und Städteplaner plädieren deshalb für eine Verlangsamung der Urbanisierung. Nur so sei eine umweltgerechte und vor allem finanzierbare Entwicklung überhaupt möglich. Premier Li Kejiang wird denn auch nicht müde, zu betonen, dass eine erfolgreiche Urbanisierung mittels Reformen „nicht über Nacht erzielt werden kann“.
Einmal mehr werden Olympische Spiele Peking zu Hilfe kommen. Wie bereits bei den Sommerspielen 2008 werden auch die Winterspiele 2022 dem Ausbau der Infrastruktur und deren Finanzierung zugute kommen. Das gilt besonders für die 4,5-Millionen-Metropole Zhangjiakou, jener Stadt in den Bergen, wo ja dann die Schweizer Wintersportler olympisches Gold holen werden...