Der Krieg in der Ukraine trifft Griechenland wirtschaftlich schwer und zeigt das geopolitische Dilemma des Landes schlaglichtartig auf. Die westorientierte Politik gerät innenpolitisch unter Druck. Sie kollidiert mit der traditionellen Verbundenheit der Griechen mit Russland.
Die Inflation in Griechenland hatte schon vor dem Krieg in der Ukraine zu galoppieren begonnen. Wer die Zahlen sieht, versteht, dass das verfehlte Pandemiemanagement, der Unterbruch der Lieferketten und die weltrekordverdächtigen, aber erfolglosen Lockdowns der Grund sind für die Preissteigerungen, die schon um den Jahreswechsel (auf Jahresbasis gerechnet) 7 Prozent ausmachten. Im März waren es schon 8,9 Prozent. Dies sei eingangs bemerkt, weil die Regierung fälschlicherweise behauptet, dass die Inflation, die jetzt deutlich fühlbar ist, ursächlich auf den Krieg zurückzuführen ist und nicht auf ihr eigenes Versagen. Aber nun die Details:
Während die Schweiz beim Weizen praktisch Selbstversorger ist, importieren die Griechen den Grossteil davon. Und 30 Prozent dieses Getreides kommen aus der Ukraine und aus Russland. Auch Sonnenblumenöl – es gehört in fast jede Bratpfanne der Sommertavernen – kommt schwerpunktmässig aus den Kriegsregionen. Es ist heute bereits knapp. Die Regierung dementiert, dass eine Lebensmittelknappheit droht. Dennoch mussten Vorräte an Mehl, Getreide, Düngemitteln, Tierfutter und Pflanzenölen deklariert werden. Das ist normalerweise die Vorstufe einer Rationierung. Bereits heute dürfen Supermärkte länger haltbare Lebensmittel wie Mehl nur in kleinen Mengen abgeben. Die Regierung befürchtet Hamsterkäufe, denn die Nachfrage nach diesen Produkten hat schon spürbar angezogen.
Gesalzene Stromrechnungen
Im Moment, da ich diese Zeilen schreibe, halte ich die Stromrechnung für mein Sommerhaus auf einer der griechischen Inseln in Händen. Es werden fällig: 120 Euro für zwei Monate. Allerdings war da niemand im Haus. Das ist nur ein Sockelbetrag und etwas Strom für Kühlschrank etc. Viele Haushalte habe beim Strom Preissteigerungen von 100 Prozent gegenüber dem Vorjahr registriert.
Besonders kritisch ist die Situation Griechenlands also bei der Energie. Sollten die Pipelines eines Energieboykotts wegen versiegen, die russisches Erdgas über die Türkei und Bulgarien nach Griechenland bringen, droht in Hellas ein Energienotstand. Es sind «nur» 540’000 private Haushalte, die mit Gas heizen, und die Heizperiode ist praktisch abgeschlossen; also kommt hier der Tag der Wahrheit erst im Spätherbst.
Aber: Ohne Gas kein Strom. Griechenland hat keine Atomkraftwerke und nur ganz wenig erneuerbare Energie wie Wasser, Sonne und Wind. Traditionell setzt das Land auf die Braunkohleverstromung. Dieser im wahrsten Sinne des Wortes dreckbillige Rohstoff ist in Hellas reichlich vorhanden. Das Land hat sich im Kyoto-Protokoll aber verpflichtet, bis 2028 vollständig aus der Braunkohle auszusteigen. Entsprechende Pläne fehlten lange. Die gegenwärtige Regierung versucht überstürzt auf Gas und Windenergie umzustellen, schafft damit aber nur neue Probleme.
Abhängig von russischem Erdgas
Das 660-Megawatt-Kraftwerk Ptolemaïda 5 – zum Vergleich: Das Kernkraftwerk Beznau verfügt über zwei 365-Megawatt-Reaktoren – wurde ursprünglich für Braunkohle gebaut und sollte dann direkt auf Gas umgestellt werden. Nun wurde das Werk vor einigen Tagen in Betrieb genommen. Es wird vorläufig mit Braunkohle betrieben. Auch die übrigen Gaskraftwerke, die noch über Braunkohlefeuerungen verfügen, sollen in Zukunft wieder mit diesem problematischen Rohstoff betrieben werden.
Die Grösse des Problems wird deutlich, wenn man bedenkt, dass aktuell 54 Prozent der Stromproduktion in Griechenland mit Erdgas erfolgt – vor allem in Kraftwerken, die von Braunkohle auf Gas konvertiert wurden. 45 Prozent dieser Importe stammen vom russischen Konzern Gazprom. Regierungsvertreter haben darauf aufmerksam gemacht dass, falls Russland mit einem Energie-Embargo belegt wird, Stromabschaltungen unvermeidbar sind. Als Lichtblick sei angemerkt, dass in der Vorwoche in Griechenland einer der grössten Photovoltaikparks Europas in Betrieb ging.
In der Zwischenzeit haben die Griechen wieder damit begonnen, nach inländischem Erdgas zu suchen. Diese Suche hat eine Vorgeschichte, war aber vernachlässigt worden zugunsten von Windenergie und dem Import von Erdgas. Der Import von Flüssiggas (LNG) und die Braunkohle müssen also kurzfristig das russische Erdgas so gut wie möglich kompensieren, falls dort der Hahn zugedreht wird.
Reaktivierung der Erdgassuche im Mittelmeer
Zum Glück sind die Griechen Weltmeister im Improvisieren. Und falls nächsten Winter kein Erdgas fliesst, werden wohl wie in der Finanzkrise in Athen die schmutzigen Kanonenöfen angeworfen, die während der Finanzkrise in Athen für beissenden Gestank gesorgt hatten. Und schliesslich gibt es auch die Heizdecken – falls Strom fliesst.
Griechenland, Zypern und Israel versuchen zusätzlich, das Projekt EastMed wieder auszugraben, das die Erdgasfelder des östlichen Mittelmeers erschliessen würde. Die amerikanische Understaatssekretärin Victoria Nuland («f*** the EU») läutete aber gleich die Totenglocke für das Projekt. Es war der griechische Aussenminister Dendias, der darauf aufmerksam machen musste, dass die beteiligten Länder das selber entscheiden würden, und nicht die USA.
Vorsorglich verlangte Athen von der EU bereits eine Lockerung der Haushaltsregeln. Immerhin hat es das Finanzministerium geschafft, die während der Finanzkrise vom IWF gewährten teuren Darlehen vorzeitig abzulösen und günstig am Markt zu refinanzieren. Das wird das Land etwas entlasten, ändert aber an der misslichen wirtschaftlichen und finanziellen Situation nichts.
Guernical, Coventry und – Mariupol
Als ich in meinem letzten Blogbeitrag auf Mariupol (Gr: Μαριούπολη, Stadt Marias) einging und Sorge ausdrückte, wusste ich nicht, wie richtig ich lag. Der griechische Konsul der völlig zerstörten Stadt, in der traditionell eine grosse griechische Minderheit lebt, verglich das Schicksal der Stadt mit demjenigen von Guernica und von Coventry.
In der Hafenstadt am Asowschen Meer mit ihren vor dem Krieg 500’000 Einwohnern lebten bei Kriegsbeginn knapp 100’000 Griechen – ein Fünftel der Stadtbevölkerung. In der ganzen südlichen Ukraine lebten am Jahreswechsel etwa 150’000 Griechen. Neben Ukrainisch und Russisch sprechen sie einen altertümlichen griechischen Dialekt. Sie leben seit Jahrhunderten an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Die Stadt Mariupol wurde durch ein Dekret von Katharina der Grossen im Jahr 1778 in der Nähe einer Kosakensiedlung gegründet. Sie sollte den Griechen als neue Heimat dienen, als diese von der Krim fliehen mussten. Deren Hauptstadt Sewastopol (Σεβαστούπολη) ist ebenfalls eine griechische Gründung, errichtet, um den Türken auszuweichen, die damals die Halbinsel besetzten. Die Wurzeln des Griechentums in dieser Region gehen auf die Antike zurück. Seither gibt es eine ununterbrochene Präsenz in der heutigen Ostukraine. Wie lange noch?
Politischer Hochseilakt
Je mehr sich aber die wirtschaftliche und energetische Lage im Land zuspitzt, desto weniger Verständnis hat die Bevölkerung für die Strategie der Regierung, die Politik der Nato bedingungslos zu unterstützen.
Je mehr die Kosten für Energie und Nahrung steigen, desto deutlicher werden die in Griechenland vorhandenen Sympathien für Russland geäussert. Die beiden Länder haben in der Geschichte nie gegeneinander Krieg geführt, haben die gleiche Konfession und deshalb wird Russland von den Griechinnen und Griechen kaum als Bedrohung empfunden. Das war während des Kalten Krieges so und das ist unter Putin nicht anders. In den Kommentaren in den sozialen Medien schlägt hingegen dem türkischen Präsidenten Erdogan eine gewisse Bewunderung entgegen, der den Balanceakt schafft. Er sei zwar der Feind der Griechen, aber ein Patriot, im Gegensatz zum griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis, der international und global orientiert sei und bei dem man nicht wisse, auf wen er höre, und der sämtliche Sanktionen, die Griechenland extrem schaden, ohne Gegenleistung übernähme.
So etwa tönt es auch in den sozialen Medien und aus den Kommentarspalten – er sei ein μάγκας, ein gerissener, toller Kerl. Anders als viele europäische Regierungen verspürt Mitsotakis also nicht den geringsten innenpolitischen Druck, alle Sanktionen zu übernehmen. Er tut es trotzdem. Insbesondere die Ausweisung russischer Diplomaten, was etwa die Schweiz nicht getan hat, wurde in Griechenland hart kritisiert. Das Flugverbot wird beispielsweise nicht dazu führen, dass die russischen Touristen, die jeweils im Sommer scharenweise nach Griechenland kommen, ausbleiben. Sie fliegen einfach über die Türkei statt direkt.
Eklat im griechischen Parlament
Die Spannungen in der griechischen Gesellschaft wurden offensichtlich anlässlich einer Rede, die der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj im griechischen Parlament hielt. Die Rede war nicht wie angekündigt live, sondern vorproduziert.
Es begann positiv, indem Selenskyj an die «Filiki Etairia» erinnerte, einen Bund von griechischen Patrioten und Philhellenen, der anfangs des 19. Jahrhunderts die Befreiung des Mutterlandes erreichen wollten. Die «Filiki Etairia» wurde im heute ukrainischen Odessa am Schwarzen Meer gegründet, einer Stadt, die bis heute über eine bedeutende griechische Minderheit verfügt. Kritisiert wurde einerseits, dass der ukrainische Präsident im Zusammenhang mit dem verabscheuungswürdigen Angriff Russlands auf sein Land nicht auf den Einfall der Türkei in Zypern 1974 einging. Zum Skandal wurde Selenskyjs Auftritt, als dieser einen Kämpfer des rechtsextremen Asow-Battalions zuschaltete. Der Kämpfer soll Pontosgrieche sein, sprach aber ein akzentfreies Russisch. Die internationalen und schweizerischen Medien verschwiegen den Vorfall, wohl weil er Russland hilft. Dieses Schweigen schadet aber ihrer Glaubwürdigkeit.
Noch ist die Coronakrise in Griechenland nicht ausgestanden und schon schlittert das Land in eine erneute Zerreissprobe.