Die Kämpfe, die seit dem vergangenen Samstag in Arsal und seinen umgebenden Hügeln toben, sind die schwersten und gefährlichsten, denen Libanon ausgesetzt war, seitdem im Nachbarland Syrien der Bürgerkrieg tobt.
Arsal ist ein besonderer Ort. Ein Dorf von zwischen 30‘000 und 40‘000 Bewohnern, das im nördlichen Antilibanon liegt. Tief in dem Gebirge und schon fast auf seiner syrischen Seite, gehört es dennoch zu Libanon. Arsal ist ein sunnitischer Flecken in einer Umwelt, die überwiegend zum Schiismus gehört. In den schiitischen Ortschaften der Bekaa-Ebene (dies ist die Ebene zwischen Libanon und Antilibanon) bildet Hizbullah die überragende lokale Macht, die so gut wie alleine herrscht.
Ein tief gespaltenes Land
In ganz Libanon bestehen schwere Spannungen zwischen Hizbullah mit seinen Verbündeten (Bündnis vom 8. März) auf der einen Seite und den libanesischen Sunniten mit den Ihren (Bündnis vom 14. März) auf der andern. Der Konflikt ist so heftig, dass es bisher dem libanesischen Parlament, in dem beide Seite vertreten sind, nicht gelungen ist, einen neuen libanesischen Präsidenten für zu wählen.
Die Sunniten sympathisieren mit den syrischen Aufständischen, die überwiegend Sunniten sind. Die libanesischen Schiiten sympathisieren nicht nur mit der Asad-Regierung. Ihre führende Partei, Hizbullah, hilft dem syrischen Regime aktiv, indem sie ihre Kämpfer nach Syrien entsendet, um die Armee Asads zu unterstützen. Sie nimmt dabei bedeutende Verluste (Tote und Verwundeten) in Kauf.
Hilfe aus Saudi-Arabien
Ihre politischen Widersacher und Gegenspieler, die libanesischen Sunniten, helfen zwar dem syrischen Aufstand nicht offiziell. Doch haben sie in den vergangenen Jahren, als dieser Aufstand erfolgreich schien, mit Geld und geschmuggelten Waffen dazu beigetragen die Feinde Asads zu unterstützen. Oft geschah dies mit finanzieller Hilfe aus Saudi-Arabien. Das saudische Königreich ist ein wichtiger Verbündeter des "Bündnisses vom 14.März". Sein Chef, Saad Hariri, hält sich oft in Saudi-Arabien auf. Er lebt auch in Paris. Libanon meidet er. Dort glaubt er, sein Leben sei gefährdet.
Arsal mit seiner sunnitischen Bevölkerung sympathisierte stark mit dem syrischen Aufstand. Dies bewirkte, dass die lokalen Behörden syrische Flüchtlinge grosszügig aufnahmen. Diese sind ja ebenfalls Sunniten und meistens Gegner des Asad-Regimes. Über die Jahre des Bürgerkrieges hin wuchs die Flüchtlingsbevölkerung in Arsal und in den Lagern rund um den Flecken herum weit über die Zahl der Bewohner der Ortschaft. Heute soll es im Bezirk Arsal zwischen 120‘000 und 170‘000 syrische Flüchtlinge geben.
„IS“ greift in die Kämpfe ein
Als in den letzten Monaten die syrische Armee versuchte, der syrisch-libanesischen Grenze Herr zu werden, um den Waffenschmuggel aus Libanon zu stoppen, gab es heftige Kämpfe im Antilibanon auf der syrischen Seite des Gebirges. Mehrere Orte gehörten mal zu dieser und mal zu jener Seite. Hizbullah-Kämpfer waren eine wichtige Hilfskraft der syrischen Armee in diesen Auseinandersetzungen. Auf der Seite der Aufständischen war es in erster Linie die islamistische Nusra-Front, die sich gegen die syrische Armeeinitiative zu halten suchte.
In den letzten Wochen soll auch IS, der "Islamische Staat", in diese Kämpfe eingegriffen haben. IS oder "das Kalifat" ist gegenwärtig die reichste und angesehenste aller Kampfgruppen. Kleinere Gruppierungen, von denen es Dutzende wenn nicht Hunderte gibt, neigen dazu, sich ihr anzuschliessen, um zu Waffen und Geldern zu kommen.
Überfall auf Arsal
Arsal mit seinen riesigen Flüchtlingslagern wurde zu einer Art Zufluchtsort für die syrischen Kämpfer. Manche der jüngeren Männer des Lagers schlossen sich ihnen an. Die Gegenwart von Bewaffneten des syrischen Aufstandes in einer libanesischen Ortschaft hatte seit Jahr und Tag zu Spannungen mit den libanesischen Sicherheitskräften, Polizei und Armee, geführt. Auch Damaskus billigte die Lage in Arsal nicht und bombardierte mehrmals die Region oder beschoss sie über die Grenze hinweg.
Am Samstag, 2. August, sollen nach Angaben der Armee "Tausende von Kämpfern" de Flecken Arsal überfallen haben. Sie bemächtigten sich der Armeekaserne und der Polizeiposten und nahmen 16 Soldaten und 16 Polizisten gefangen. Die Sicherheitskräfte wurden offensichtlich im ersten Moment überrumpelt. Manche der Kämpfer sollen aus dem Flüchtlingslager selbst gekommen sein, andere aus dem Umfeld über die syrische Grenze. Die Armee zog Verstärkungen zusammen. Tanks und Kanonen wurden aus ganz Libanon bei Arsal konzentriert. Es soll der Armee, nach eigenen Aussagen, gelungen sein, die Kaserne von Arsal zurückzuerobern. Sie erklärt, 32 Kämpfer gefangen genommen haben. Doch Teile von Arsal waren am 5. August noch immer in der Hand der Aufständischen. Die Armee sagte, sie schicke sich an, alle Zufahrtstarassen zu dem Ort zu blockieren.
Berichte über Erschiessungen
Auf den Hügeln rund um den Ort gehen die Kämpfe weiter. Zwischen dem Inneren Libanons (Bekaa-Ebene) und dem aussenliegenden Flecken Arsal, zu dem eine einzige Verbindungsstrasse führt, hat die Armee eine Sperre eingerichtet. Ein Teil der Bewohner von Arsal ist in die schiitischen Nachbardörfer geflohen, um den Kriegshandlungen zu entgehen. Doch die syrischen Angreifer sollen auf einige Familien, die mit den Autos zu fliehen suchten, das Feuer eröffnet haben. Seither stockt die Fluchtbewegung.
Es gibt auch Berichte über Erschiessungen von Zivilisten in Arsal und Umgebung. Die Armee meldete den Verlust von 14 Soldaten in den bisherigen Kämpfen sowie von 86 Verwundeten. 22 Personen sind vermisst; sie wurden wahrscheinlich gefangen genommen. Die Armee will ihrerseits 50 der Angreifer getötet haben.
Sperrzone
Die Armee plant, eine Sperrzone zu errichten, die Libanon von Syrien abschneiden soll. Sie soll sich der Grenze entlang über 50 Kilometer hinstrecken und 5 Kilometer tief werden. Natürlich erblicken die Freunde des syrischen Widerstandes, das heisst ein Teil der libanesischen Sunniten, in solchen Plänen eine Massnahme, die sich gegen ihre Politik der inoffiziellen Unterstützung des syrischen Aufstandes über die Grenze hinweg richtet.
Ihre politischen Gegner, Hizbullah und seine Kämpfer, so sagen sie, seien nicht von derartigen Sperren betroffen, weil sie ja ganz öffentlich und halb offiziell mit der Regierung von Syrien zusammenarbeiten, also die offiziellen Grenzübergänge benützen können. Von den Sunniten wird die Armee oftmals angeklagt, sie sei nicht wirklich neutral sondern neige Hizbullah zu.
Auswirkungen auf Tripolis und Beirut
Der gleichen Meinung sind auch die sunnitischen Aktivisten von Tripolis, der zweiten Stadt Libanons, die seit Jahr und Tag in kriegerischer Rivalität mit den Alawiten leben, die ein Nachbarquartier von Tripolis bewohnen. Immer wieder brechen dort Kämpfe aus, und die Armee patroulliert zwischen den beiden feindlichen Stadteilen, um ein Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern.
Angesichts der Ereignisse in Arsal sind auch in Tripolis neue Schiessereien ausgebrochen, und sogar in einigen Quartieren von Beirut, in denen Sunniten leben, sollen sich Bewaffnete auf den Strassen gezeigt haben.
Hizbullah und die Armee kämpfen mit den Rebellen
An der Grenze bei Arsal herrscht nun eine verzwickte Lage: jenseits der Grenze, ganz nah jedoch auf der syrischen Seite, stehen die libanesischen Kämpfer von Hizbullah zusammen mit der syrischen Armee im Kampf gegen die sunnitisch-islamistischen Krieger des Aufstandes. Jedoch innerhalb der Grenze Libanons steht die libanesische Armee im Kampf mit den gleichen Leuten, die jenseits der Grenzen von Hizbullah bekämpft werden. Die Armee unterstreicht, dass keine Zusammenarbeit zwischen ihr und Hizbullah im Kampf um Arsal bestehe, obgleich beide gegen die gleichen Feinde vorgehen, nämlich die Nusra-Front und IS - bekämpft von Hizbullah in Syrien und von der libanesischen Armee in Libanon.
Die syrische Regierung hat ihrerseits ihre Luftwaffe eingesetzt, um erneut, wie schon bei früheren Gelegenheiten, Arsal und die dortigen Kämpfer zu bombardieren.
Ausweitung des syrischen Bürgerkrieges?
Die Aktionen der Armee und jene Hizbullahs getrennt zu halten, ist wichtig. Die Armee vermutet, dass die Invasion von Arsal durch zahlreiche syrische Kämpfer einen Versuch darstellt, den syrischen Bürgerkrieg auf Libanon auszudehnen. Wenn Hizbullah, eine Hilfskraft der syrischen Regierung, nicht nur in Syrien sondern auch in Libanon in Kämpfe mit den sunnitischen Islamisten verwickelt würde, wäre das Ziel einer Ausdehnung des syrischen Bürgerkrieges auf Libanon so gut wie erreicht. Die libanesischen Sunniten, Feinde Hizbullahs, würden fast unvermeidlich ihrerseits eingreifen, um ihre sunnitischen Freunde innerhalb Libanons vor Hizbullah zu schützen, und der Bürgerkrieg hätte begonnen.
Folgen einer möglichen Ausweitung
Was aber wäre der Zweck einer solchen Kriegsausweitung auf Libanon? Für IS und die Nusra-Front läge der Nutzen darin, dass Hizbullah bedeutend geschwächt würde, indem die Schiitenpartei dann auch zuhause, innerhalb Libanons, in Kämpfe verwickelt würde. Ihre Fähigkeit, Asad zu Hilfe zu kommen, würde dadurch entschieden vermindert. Bekämpft würde sie nicht nur von ihren syrischen Feinden, sondern, im Fall einer Einbeziehung Libanons in den Krieg, nun auch von ihren libanesischen Widersachern, den Leuten des "Bündnisses vom 14.März".
Die Sicherheitsfachleute der libanesischen Armee sind der Ansicht, dass die zahlreichen Bombenangriffe auf schiitische Ziele, die während der letzten Jahre innerhalb Libanons stattfanden, eine vorbereitende Phase dargestellt haben könnten. Dazu bestimmt, die schiitischen Libanesen gegen ihre sunnitischen Mitbürger - und Rivalen - aufzubringen. Ähnlich wie es im Irak von den dortigen Islamisten mit Erfolg geübt worden war und weiter geübt wird. Die irakischen und die syrischen Islamisten sind neuerdings im Falle von IS, dem "Kalifat", zu einer Aktionsgemeinschaft verschmolzen. Was alles die Frage aufwirft, steht man vor einem Versuch des "Kalifates", seine Herrschaft auf Libanon auszudehnen?
Bleiben die Kämpfe auf Arsal beschränkt?
Solche Vermutungen gewinnen an Wahrscheinlichkeit, wenn man die Zahlen der libanesischen Armeesprecher ernst nimmt. Tausende von Kämpfern wären wohl nicht eingesetzt worden, wenn es um Arsal alleine ginge. Allerdings hat die Armee ein Interesse daran, grosse Zahlen von Angreifern zu nennen, weil sie ja von ihnen aus Arsal vertrieben wurde. Der offizielle Grund für den Angriff in Arsal, den die Kämpfer nennen, ist die Befreiung eines ihrer Anführer, Imad Ahmed Joma, der von der Armee vor dem Ausbruch der Kämpfe gefangen genommen worden war. Doch der Oberbefehlshaber der Armee, General Kahweji, ist der Ansicht, dass es um sehr viel mehr gehe. Eben um einen Versuch, Libanon in den syrischen Bürgerkrieg einzubeziehen.
Die libanesische Regierung, einschliesslich der Minister vom "14. März", die dem Bündnis Hariris angehören oder nahe stehen, hat sich jedenfalls voll hinter die Armee gestellt. Wenn es der Armee gelingt, die syrische Infektion auf dem Aussenposten von Arsal zu isolieren, wird Libanon noch einmal davon kommen. Doch die Gefahren einer weiter greifenden Infektion wachsen offensichtlich, je länger der syrische Bürgerkrieg dauert.