Von allen Erfindungen des menschlichen Geistes erscheint mir als verhängnisvollste die Erfindung Gottes.
„Wie kannst du so etwas sagen?“ entgegnete verärgert ein mir befreundeter Pfarrer. „Gott ist keine Erfindung, und Millionen von Menschen finden Trost und Hilfe bei ihm.“
Wir hatten uns zu einem Bier im „King George“ Pub getroffen.
„Ich weiß“, sagte ich, „viele Menschen kommen ohne Gott nicht aus. Aber was ist ihr Gott? Eine Chiffre, ein Konstrukt, eine Krücke, eine Lebenshilfe für den, der ohne sie an der Sinnlosigkeit des Lebens verzweifeln würde; eine Denkhilfe dem, der sich die Unergründbarkeit der Welt begreiflich machen möchte; ein deus ex machina für Philosophen, wenn sie nicht mehr weiterkommen; ein Instrument der Macht für Kirchen und Schamanen.“
Der Pfarrer unterbrach mich:
„Die Kirche ist längst keine Macht mehr.“
„Die christliche vielleicht weniger als früher“, sagte ich. „Aber auch sie hat nicht aufgehört, das Bedürfnis der Vielen nach einem Gott gewinnbringend auszunützen. Sie verheißt dem Sünder Erlösung, dem Einsamen Aufgehobensein, dem Verängstigten Schutz, und wer seine eigene Vergänglichkeit nicht zu akzeptieren vermag, dem verspricht sie ewiges Weiterleben nach dem Tod – sofern er genug Geld in die Sammelbüchse wirft. Sie verkauft endgültige Wahrheiten, wo andere bloß endgültige Fragen sehen. Jedes andere Geschäftsunternehmen würde wegen solcher Werbelügen vor Gericht gezogen.“
„Ein Geschäftsunternehmen nennst du das?“
„Was sonst? Gott wurde zur Ware gemacht, zu einem Geschäft.“
„Du nanntest Gott eine verhängnisvolle Erfindung. Wie meinst du das?“
„Verhängnisvoll, weil diese Erfindung, diese Chiffre, dieses Konstrukt, dieser Gott dazu dient, Schreckliches zu rechtfertigen. In seinem Namen – dem Namen welchen Gottes oder Götzen auch immer – werden Menschen verbrannt, geköpft, gefoltert, zum Mord angestachelt, aufs Schlachtfeld gejagt. Und Priester segnen die Kanonen. ‚Gott will es‘ sagte Papst Urban II., und auf Grund dieser drei Wörtchen eines Papstes zogen Heerscharen als Kreuzfahrer nach Jerusalem und Konstantinopel und verübten dort grausame Massaker – nicht ohne unterwegs auch alle Juden, denen sie begegneten, umzubringen. Auch das Abschlachten der Indios in Lateinamerika durch die spanischen und portugiesischen Conquistadores erfolgte mit dem Segen des Papstes.“
Mich unterbrechend warf er ein:
„Ich habe nichts mit dem Papst zu tun. Ich bin Protestant. Ich kenne keinen Papst.“
Ich fuhr fort:
„Immer wieder muss Gott herhalten für Dinge, die im Gegensatz stehen zu dem, was er angeblich durch Propheten verkünden ließ. Der Mörder des israelischen Premierministers Rabin behauptete, im Auftrag Gottes gehandelt zu haben; der Mörder Anwar Sadats ebenso und ebenso der hinduistische Glaubenseiferer, der Mahatma Gandhi erschoss, als dieser Frieden zu stiften versuchte zwischen Hindus und Muslimen, die sich gegenseitig massakrierten. Das sind keine Einzelfälle, keine faulen Früchte am heilbringenden Baum der Liebe. Dahinter stecken konkrete Kämpfe um Land, um Geld, um Einfluss, um Macht.“
„Was du sagst, hat vor 250 Jahren schon Voltaire gesagt und besser gesagt“, warf der Pfarrer ein.
„Na und?“, sagte ich. „Warum sollte ich es nicht wiederholen dürfen? Ihr predigt in den Kirchen ja auch immer das Gleiche.“
„Aber was hat Gott mit alle dem zu tun, mit diesen Morden, diesen Kriegen, diesen Untaten?“
„Sie werden in seinem Namen verübt, ad majorem dei gloriam. Sein Name wird zu einem Werkzeug gemacht, einem Werkzeug der Macht.“
„Nicht gemacht, missbraucht.“
„Ist nicht gerade dies einer der übelsten Aspekte eines jeden Gottes: dass er sich so leicht missbrauchen lässt?“
Wir hatten unsere Gläser ausgetrunken, ich holte an der Theke für ihn und für mich ein zweites Glas Bier und Kartoffelchips zum Knabbern. Dann nahm der Pfarrer das Gespräch wieder auf:
„Wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir gar nicht so sehr um die Frage, ob Gott existiert oder nicht; es geht dir um die Auswirkungen des Glaubens. Du akzeptierst, dass der Glaube vielen Menschen Trost und Hilfe bringt, aber andererseits siehst du im Glauben eine unheilstiftende Kraft. Verstehe ich dich richtig?“
„Genau.“
„Da frage ich nun: Wenn man das gegeneinander abwägt, den Unheil stiftenden Faktor und den Trost bringenden – welcher Faktor ist der gewichtigere?“
„Wer könnte das beurteilen? Ich jedenfalls nicht.“
„Wenn man dir zuhört, urteilst du eben doch. du nennst Gott eine Erfindung und sprichst nur vom Übel, das durch den Missbrauch des Glaubens geschieht, nicht vom Trost, den der Glaube vielen Menschen bringt.“
„Das mag sein. Ich kenne eben nur das Unheil.“
„Ich frage mich“, sagte der Pfarrer, „ob die Kathedrale von Chartres gebaut worden wäre, wenn es Gott nicht gäbe. Und gäbe es die Sixtinische Kapelle, die Madonnen von Fra Angelico, die Messen von Bach?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich. „Aber dachte Cézanne an Gott, als er seine Äpfel malte, oder Manet beim Malen der Olympia, oder Tschechow, als er den ‚Kirschgarten‘ schrieb? Braucht der Schöpfungsdrang des Menschen den Bezug auf einen Gott, um sich zu verwirklichen?“
„Eine weitere Frage drängt sich auf“, sagte der Pfarrer: „Hätten die alten Juden die zehn Gebote akzeptiert, wenn Moses ihnen nicht gesagt hätte, er habe sie von Gott erhalten? Würden wir sie heute andernfalls akzeptieren?“
„Das ist nun tatsächlich eine relevante Frage“, erwiderte ich. „Eine Frage übrigens, mit der du dich meiner Idee von der Erfindung Gottes annäherst. Kann der Mensch ohne Gott gut sein? Dass er mit Gott schlecht sein kann, ist erwiesen. Kann er ohne Gott gut sein? Alle Menschen? Vereinzelte sicher. Aber alle? Ich weiß es nicht. Offenbar brauchen viele Menschen die Vorstellung eines Gottes, um eine im Glauben fundierte und durch den Glauben legitimierte oberste Ordnungsgewalt zu haben. Deshalb bezeichneten sich einst die Kaiser und Könige als von Gottes Gnaden eingesetzt? Nicht nur, um sich vor potentiellen Usurpatoren zu schützen, sondern eben auch darum, um zu suggerieren, dass sie im Namen Gottes herrschten und dass demzufolge der Gehorsam ihrer Untertanen ein göttliches Gebot sei. Hannah Arendt hat gesagt, dass das, was man tun soll, nicht von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs abhängen müsse, sondern von der Frage an sich selbst, ob man nach einer Entscheidung oder Tat noch imstande sei, mit sich selber zusammenzuleben. Mir gefällt das.“
Schweigend knabberten wir eine Weile Kartoffelchips, tranken einen Schluck Ale, dann sagte der Pfarrer:
„Wie lässt es sich leben ohne Gott?“
„So gut oder so schlecht wie mit“, erwiderte ich. „Allerdings braucht man dazu die Kraft, psychisch und geistig zurande zu kommen mit der Vorstellung, dass der Welt und dem menschlichen Dasein kein Sinn innewohnt, dass der Tod endgültig ist und dass der Mensch am Ende nicht vor einem Gott, sondern vor sich selber Rechenschaft ablegen muss über sein Leben.“
„Du siehst keinen Sinn in unserem Dasein?“
„Nicht den geringsten. Ich sehe bloß Zufälligkeiten, zusammenhanglose Episoden.“
„Eine solche Weltschau führt doch geradewegs zum Selbstmord.“
„Keineswegs. Ich liebe das Leben. Ich bin froh und glücklich, dass es mir zugefallen ist. Ich genieße jeden Augenblick.“
„Können wir uns vielleicht auf das Wort Lessings einigen“, sagte der Pfarrer: „‚Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.‘“
„Ein Prost darauf.“