Goethe, die Personalunion von Dichter und Naturforscher, scheidet die Geister bis heute. Selbst wenn sein Wissenschaftsverständnis von den meisten modernen Naturwissenschaftern abgelehnt wird, nährt sein Naturverständnis die nostalgische Vision einer „guten alten Natur“, wie sie uns in den gegenwärtigen technisierten Lebenswelten abhanden gekommen ist. Gerade in dieser schillernden Ambivalenz als Kronzeuge einer verlorenen und (vielleicht teilweise) wiederzugewinnenden Natur hat die Symbolfigur Goethe kaum an Faszinationskraft eingebüsst.
„Der Schein trügt nicht“
Adolf Muschg hat dies vor genau zehn Jahren in einer Essaysammlung über Goethe demonstriert. Schon der Titel „Der Schein trügt nicht“ liest sich wie die trotzige Gegenthese zur neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Grundhaltung der Naturwissenschaften, die sich bekanntlich der methodischen Skepsis gegen die „blossen“ Sinne verschrieben hat. Und antithetisch ist denn auch die „Goethesche Natur“, welche Muschg gegen das kalte Universum der modernen Naturwissenschaften evoziert. Die geschmeidige, fast möchte man sagen: freundschaftliche Genauigkeit, mit der uns ein aktualisierter Goethe, ein Muschg-Goethe, vorgestellt wird, zeigt Muschg, den Germanisten, auf der Höhe seiner Profession. Umso mehr vermisst man diese Differenziertheit in seinen kursorischen Seitenblicken auf die Naturwissenschaften, welche mir eher Vorurteile zwischen den „zwei Kulturen“ zu befestigen, statt zu beseitigen scheinen.
Goethe und Bohr
Ich konkretisiere dies an einem Problem, das sich oft stellt, wenn man eine historische Figur aktualisieren will: man entdeckt bei ihr „Vorwegnahmen“ einer modernen Errungenschaft. So rückt Muschg Goethe in die Nähe von Niels Bohr, des grossen dänischen Atomphysikers, mit der Bemerkung Hersiliens aus den Wanderjahren, wahre Sätze erkenne man daran, dass ihr Gegenteil genauso wahr sei, „vielleicht noch mehr“. Die Art, wie Muschg Goethe gleichsam als „Vorwegnehmer“ von Bohr interpretiert, ist missverständlich, ja, falsch.
Bohr unterschied sehr genau zwischen zwei Kategorien der Wahrheit. Es gibt triviale Wahrheiten und tiefe Wahrheiten. Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist schlicht falsch. Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit ist auch wahr. Mit den „tiefen Wahrheiten“ meinte Bohr die scheinbar gegensätzlichen Beschreibungsarten von mikrophysikalischen Objekten, z.B. von Elektronen. In diesem Sinne kann man z.B. Elektronen als Wellen oder als Teilchen beschreiben, je nach gewählter Versuchsanordnung. Man kann nur nicht gleichzeitig die Wellen- und die Teilchenbeschreibung anwenden, weil die entsprechenden Versuchsbedingungen einander ausschliessen. So gesehen, ist es dann ebenso wahr, zu sagen, dass Elektronen Welleneigenschaften manifestieren, wie zu sagen, dass sie Teilcheneigenschaften zeigen - obwohl „Welle“ und „Teilchen“ sich im klassischen logischen Sinn ausschliessen (wie etwa „weiss“ und „schwarz“).
Sehen und Messen
Ich möchte betonen, dass es sich hier nicht um logische Spitzfindigkeiten handelt, sondern um den Angelpunkt einer der grössten Umwälzungen in der modernen Wissenschaft. Goethe kann sie schon deshalb nicht „vorweggenommen“ haben, weil für Bohr die Beschreibungsarten immer auch experimentellen Settings entsprechen - also genau dem, was in Goethes Augen vom Teufel war: dem messenden, „inquisitorischen“ Eingreifen in die Natur. Das Statuieren verborgener Affinitäten zwischen dem Dichter und dem Physiker kann sich daher nicht auf die beiläufige Zeugenschaft isolierter Aussagen berufen. Es muss sich schon dazu bequemen, die Erkenntnishaltung beider einer tieferen Analyse zu unterziehen.
Dazu bietet ein häufig angesprochenes Gegensatzpaar Gelegenheit: Sehen und Messen. Zu den tiefverwurzelten Vorurteilen gehört, dass der messende Versuch „bloss“ eine Gewaltanwendung, ein Entstellen, ein „Foltern“ der Natur sei. Der historische Goethe setzte sich bekanntlich als Naturforscher unbeirrt in Opposition zu den Naturwissenschaften seiner Zeit, indem er auf der „zarten Empirie“, dem Primat des leiblichen Auges gegenüber dem entleiblichten, instrumentebewehrten Auge beharrte. Dabei spielte stets der Gedanke hinein, dass die „Natur selbst“ unter solcher Zwangsbefragung nur oberflächliche Antworten gibt - ein „erpresstes Geständnis“ (Muschg). Auch der Muschg-Goethe scheint dabei zu bleiben. „Unbildung“ fängt für ihn beim Messen an. „Gross und Klein können überhaupt Chimären sein, die unsere Messkunst erzeugt und auf die sie bald nach der einen, bald nach der andern Seite hereinfällt“. Instrumente sind „Verstösse gegen den Comment, mit denen sich der Forscher nicht nur indiskrete, sondern irreführende, weil unmassstäbliche Einblicke verschafft“.
„Zarte“ Empirie im Beobachten und Messen
Bei allem Verständnis für das Unbehagen an der neuen „Unmasstäblichkeit“ – im Mikro- wie im Makrobereich -, läuft man Gefahr, aus dem Beobachten mit Instrument und dem Beobachten mit blossen Sinnen (Goethes „lebhaftes“ Beobachten) einen Gegensatz zu konstruieren, der im Grunde keiner ist. Wenn schon an Bohr appelliert wird, wäre es fruchtbarer, in seinem Sinne Sehen und Messen als wechselseitige, komplementäre Erweiterungsmöglichkeiten des Menschen zu begreifen. Viele Einsichten Goethes eignen sich, so gesehen, vorzüglich, über Goethe hinaus in einen aktuellen Kontext übersetzt zu werden. Etwa: „Jeder neue Gegenstand, wohlbeschaut, schliesst ein neues Organ in uns auf“. Warum nicht auch: Jeder Gegenstand, „wohlgemessen“? Warum sollten Detektoren, Sonden, Skope, das ganze künstliche Sensorium, welches der moderne Naturwissenschafter einsetzt, um neue Realitätsbereiche zu erschliessen und zu erkunden, nicht auch so etwas sein wie neue „Organe“? Wir sind enorm anpassungsfähig. Die Instrumente entwickeln sich, und sie erweitern den Menschen. Sie verlangen von ihm auch neue Fähigkeiten, neue Sensibilitäten.
Ein entscheidender Schritt wäre getan, wenn man die Kunst des Messens ebenso wie die Kunst des Sehens (oder allgemeiner: des Wahrnehmens) von der Mitte unserer Leiblichkeit her konzipierte, als Bildungsmöglichkeiten des Menschen. Man hätte dann schon einmal einen bescheidenen aber wichtigen Ausgangskonsens gefunden: Die Berufung auf die blossen Sinne ist ebenso einseitig wie die Berufung auf das Messgerät.
Das Klischee der „zwei Kulturen“
Ich vermute, dass viele der Gegensätze zwischen den „zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaften sich als gar nicht so gegensätzlich herausstellen, wenn man sich nur die Mühe nimmt, einen Blick „von innen“ auf die konkrete Praxis von Naturwissenschaftern zu werfen. Meine Vermutung stützt sich auf eine verästelte Tradition von gut dreissig Jahren historisch sensibilisierter Wissenschaftsphilosophie, welche ein völlig anderes Bild der naturwissenschaftlichen Praxis zeichnet, als wir es gewöhnlich in pauschalisierenden Darstellungen präsentiert erhalten. Das führt mich zum Kernpunkt, der Muschg ja ganz besonders am Herzen liegt: zur Bildung des Menschen im Umgang mit Naturphänomenen. Man kann Muschgs Sorge nachempfinden, angesichts der Tendenzen einer Naturwissenschaftsnatur, die ihre naturkünstliche Fortsetzung dereinst vielleicht in Cyberworlds und Jurassic Parks finden wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun allerdings auch die Frage, ob Goethes Dissens in modernen technisch-naturwissenschaftlichen Kontexten nicht neu zu interpretieren wäre - anders als immer nur in einer neuen Modulation des alten Lamentos über eine verlorene Goethenatur oder in mauen Vorbehalten gegen eine Naturwissenschaft, die es zwar „herrlich weit gebracht“ habe, ihrem Wesen nach aber sinnentleerend, verdinglichend, subjekttötend, bildungsfremd sei.
Ein neues Naturwissenschaftsverständnis
Es gibt durchaus Anfänge und Ansätze. Es gibt, um ein Beispiel zu nennen, eine wachsende Zahl von Naturwissenschaftern und Wissenschaftsphilosophen, welche die Geschichte des experimentellen Umgangs mit der Natur nicht auf den Holzschnitt positivistischer Fortschrittsideologie reduzieren, sondern als eine Verlustgeschichte wahrnehmen. Hier findet auch Goethes Naturverständnis am Leitfaden der menschlichen Sinne durchaus seinen Ort der Wiederaufbereitung. „Was wir heute als Wissenschaft kennen, ist ein Produkt der Abdrängung anderer intellektueller Unternehmungen,“ schreibt der deutsche Philosoph Gernot Böhme geradezu programmatisch für das Projekt der Suche nach einem neuen umfassenderen Naturbegriff (einer Phänomenologie der Natur). Was sich hier am Horizont abzeichnet, könnte, etwas pointiert gesagt, als eine neue Aufklärung bezeichnet werden, die uns bewusst macht, dass die Naturwissenschaften eine frei gewählte menschliche Erkenntnishaltung verkörpern.
Bildung als Widerstand
Und diese Haltung bestimmt – „a priori“ - die Umgangsform mit dem Gegenstand des Interesses. Muschg schreibt: „Dass der Mensch die eigene Würde aus den Umgangsformen mit seinen Gegenständen zieht, gehört zu den verlorenen Erinnerungen der Zivilisation. Der Gewinn, den sie aus diesem Verlust gezogen hat, mag zu ihrem sprunghaften Fortschritt viel beigetragen haben. Sie hat uns ebensoweit von Goethes Natur entfernt und zugleich dem, was für ihn ‚Bildung‘ heisst, den Boden entzogen.“
Muschgs Unbehagen ist ernstzunehmen. Es ist das Unbehagen vor einer Naturwissenschafts-Ideologie, welche die Forschung immer mehr vor den Karren weltweit agierender Wirtschaftsunternehmen spannen möchte. Äusserungen wie die folgende gehören zur Phraseologie heutigen Bildungsverständnisses: „Die Tatsache, dass sich die kleine Schweiz in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten immer auf Augenhöhe mit den grossen Mitspielern bewegen konnte, hat sie nicht zuletzt ihrem Bildungssystem zu verdanken. Es gilt daher, diesen Vorsprung nicht zu verspielen.“ - Fürwahr. Allerdings gilt es, den „Vorsprung“ nicht nur nicht zu verspielen, sondern ihn auch nicht der Definitionsmangel von Wissensmanagern und Vertretern der IT-Branchen zu überlassen, welche Bildung fast ausschliesslich zum Mittel der Standort-Positionierung plattdrücken wollen. Bildung ist Widerstand gegen diese Reduktion. Und gerade die Naturwissenschaften können und müssen sich an diesem Widerstand beteiligen.