Die 60-jährige Barbara Probst ist zu Gast im Kunstmuseum Luzern. In ihren gepflegt-schönen Fotoarbeiten blickt sie gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven aufs Bildgeschehen und stellt so die Aussagekraft des Mediums Fotografie auf einen Prüfstand.
Eine Fotografie zeigt einen Sekundenbruchteil lang die Wirklichkeit, wie sie ist. So sind wir immer noch geneigt zu glauben, obwohl wir längst um Manipulations- und Fälschungsmöglichkeiten wissen und obwohl das Vertrauen ins Bild längst einer grundsätzlichen Bildskepsis hätte weichen müssen. Und auch schon längst haben sich Foto- und Konzeptkünstlerinnen und -künstler mit Bildtheorie und Bildproblematik auseinandergesetzt. Das tut seit 20 Jahren auch die deutsche Künstlerin Barbara Probst. Im Juni 2000 entstand ihr vielteiliges Werk «Exposure #1» und 2023 «Exposure #186». Beiden Werken ist in ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Luzern mit dem widersprüchlichen «Subjective Evidence» zu begegnen und ebenso manchen Werken dazwischen. Sie alle gehorchen einem strengen und sich in den mehr als 20 Jahren kaum verändernden Konzept. Es beruht auf einem kritischen Befragen der Fotografie als Mittel der Wirklichkeitsdarstellung und dabei des Raumes, der sich nur – und auch dann bloss ansatzweise – aus Mehrfachperspektiven heraus erfassen lässt. Darüber hinaus ruft Barbara Propsts Umgang mit dem Medium Fotografie wichtige gesellschaftspolitische Probleme ins Bewusstsein. Zusätzlich vermag die Künstlerin die Betrachterinnen und Betrachter auf spielerische Weise in ihre Arbeit einzubeziehen.
Die Zwillinge
Fanni Fetzer, Direktorin des Luzerner Kunstmuseums und Kuratorin der Ausstellung, und Barbara Probst entschieden sich für eine lockere, aber doch sehr präzise Präsentation der «Exposures», die alle aus mehreren meist monumental grossen Fotografien bestehen. Man muss schon einiges an Zeit und Einfühlung mitbringen, will man zum Beispiel das irritierende Werk «Exposure #124» im eigenen Kopf vollenden. Es zeigt uns zwei Fotografien mit Porträts von je zwei jungen, beinahe identisch aussehenden Frauen mit perfektem Make-up und in eleganten Pullovern. Auf dem Tisch vor ihnen stehen feinste Glasgefässe. Wir erkennen auf Anhieb nicht, was da geschieht, und fragen uns: Viermal die gleiche Person? Zwillinge, gar Vierlinge? Blicken sie uns in die Augen? Wo sind die Unterschiede? Warum sind die Glasobjekte von Bild zu Bild leicht verschoben? «Exposure #124» ist die Auftragsarbeit einer Modezeitschrift. Zu sehen ist auf beiden Werkteilen das gleiche Zwillingspaar. Wir interpretieren «Exposure #124» mit seinem perfekt ausbalancierten hellblau-beigen Farbakkord spontan als Hochglanz-Bild einer Modewelt, an deren glatter Oberfläche alles Widersprüchliche abperlt.
Barbara Probst misstraut der Fotografie als Wahrnehmungsinstrument und macht das auf wohl sanfte, aber doch beinahe subversive Art deutlich. Sie setzt das Medium auf intrigierende Weise ein und zwingt uns damit zu genauem Hinsehen – und zum eigenen Vollenden des Bildes der Wirklichkeit mit unserem Denken. Sie bricht die Zweidimensionalität des Mediums auf und erweitert seine Möglichkeit in die dritte Dimension. Diese Dimension liegt ihr besonders nahe: Sie hat Bildhauerei studiert und dabei, wie sie selber sagt, «ein skulpturales Interesse am Raum» entwickelt. Das geschieht in dieser Arbeit aus dem Jahr 2017 auf subtile Weise: Zwei Kameras nehmen aus leicht verschobenen Blickwinkeln die Models in den Fokus. Die beiden Aufnahmen entstehen gleichzeitig – nämlich am 13. April 2017 vormittags um 10.39, wie die Künstlerin in der Bildlegende präzis festhält.
Gleichzeitigkeit des Verschiedenen
Mit den Begriffen der verschobenen Blickwinkel und der Gleichzeitigkeit sind zwei für Barbara Probsts Arbeit wichtige Stichworte gefallen. Sie bringen gesellschaftspolitische Aspekte ins Spiel. Verschiedene Ansichten, und das ist durchaus doppeldeutig gemeint: Ansicht als Blick und als Meinung zugleich. Davon spricht die Künstlerin in einem Interview. Das wirkt wie ein Plädoyer für den trotz verschiedener Standpunkte von gegenseitiger Achtung geprägten Austausch mehrerer gleichberechtigter Meinungen. Barbara Probst stellt diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Blickwinkel in den Fokus der ganzen Ausstellung «Subjective Evidence». Das mag repetitiv wirken, und es fragt sich, ob die Ausstellung diesen akademischen Ansatz nicht allzu breit über all die zahlreichen Museumsräume hin auswalze. Doch damit, dass die Künstlerin das ganze klassische Repertoire der Malerei – Porträt, Stillleben, Akt, (Stadt)-Landschaft – durchspielt, sorgt sie für jene Abwechslung, welche den Besuch der Ausstellung trotz der Strenge des Konzeptes zum überraschenden Erlebnis macht.
Misstrauen und Fragen
«Exposure #147» (2019) zum Beispiel blickt dreimal auf einen Holztisch, an dem eine Frau steht. Unter dem Tisch liegen ein aufgebauschter oranger Plastiksack, ein blauer Papierknäuel und eine zerbrochene Tasse, auf dem Tisch eine umgekippte Tasse, aus der Milch ausgeflossen ist. Das Werk scheint von einem Vorfall – vielleicht auf eine Auseinandersetzung – zu erzählen, den ein einzelnes Bild niemals ganz entschlüsseln könnte, den wir uns aber auch vor diesem Triptychon selber ausdenken müssen: Misstrauen ist also auch hier am Platz; auch das Mehrfachbild ermöglicht keine totale Information. «Exposure #147» überzeugt mit der glasklaren Setzung der einzelnen Gegenstände und mit der perfekten Wiedergabe ihrer Materialität, aber auch mit der Art und Weise, wie die «Bildhauerin» Barbara Probst den Schauplatz des Geschehens ins Spiel bringt. Gerade dies – der Umgang mit dem Raum und der Stellenwert der in diesen Raum gesetzten Körperfragmente – treibt Barbara Probst weiter in «Exposure #180». Dieses Triptychon zeigt drei Ansichten eines dunkelhäutigen und eines hellhäutigen menschlichen Körpers. Auch da bleibt vieles unklar und der Mitarbeit des Betrachters überlassen. Auch da also Misstrauen gegenüber den Bildern: Wie genau sind die Perspektiven? Sind die Modelle Männer oder Frauen? Wer ist vorne, wer hinten? Wie charakterisieren die Farbstreifen den Raum? Wie gestalten die Körperkonturen als Linien diesen Raum?
Irritierende Bildermischung
«Exposure #106» treibt Gleichzeitigkeit und Perspektivenwechsel so auf die Spitze, dass wir das Beziehungsgeflecht des Geschehens auf den zwölf Einzelbildern nicht entwirren können: Diese Bilder fassen mit Hilfe mehrerer Kameras zusammen, was am 17. April 2013 genau um 14 Uhr 29 an einer New Yorker Strassenkreuzung geschah. Ins Komplexe erweiterte Wege beschreitet Barbara Probst im vierteiligen Werk «Exposure #186», das im vergangenen Jahr in den nüchtern-leeren Luzerner Museumsräumen – deren Architekt Jean Nouvel sprach von einer «Nudité de l‘espace» – entstanden ist. Die Künstlerin brachte zwei Modelle und zwei grosse Fotos mit nach Luzern. Das Foto einer grossen Meereswelle heftete sie an die Wand. Ein zweites Bild, eine New Yorker Hochhauslandschaft von oben, legte sie auf dem Boden aus. Die in leuchtendes Rot gekleidete Frau (der einzige klare Farbakzent in diesem Werk) steht auf dem New Yorker Stadtbild, als würde sie in der nächsten Sekunde von einem Hochhaus in die Tiefe stürzen. Und sie steht so vor dem Wellenbild, als würde die Woge sie nächstens begraben. Im leeren Nebenraum steht ein blassblau gekleideter Mann. Auch da vier Blickwinkel auf das Bildgeschehen, teils von oben, aufgenommen mit einer Drohne, und auch da jene Gleichzeitigkeit, die uns irritiert oder verwirrt und uns grade deswegen nach den Strukturen der Räume und nach den Beziehungen des Menschen zum Raum fragen lässt.
Zu viel der Pädagogik? Besucherinnen und Besucher der Ausstellung könnten sich mitunter vorkommen wie auf einem Prüfstand, als hätten sie eine Aufgabe zu lösen – oder gar, als würden sie scheitern. Das kann den Gang durch die Ausstellungsräume zum freien Spiel werden lassen.
Barbara Probst. Geb. 1964, lebt in München und New York. Sie studierte Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München und an der Kunstakademie Düsseldorf. Einzelausstellungen in Galerien in Europa und in den USA, weltweite Teilnahme an Gruppenausstellungen.
Kunstmuseum Luzern. Bis 16.06. Publikation: Barbara Probst Subjective Evidence. Herausgegeben vom Kunstmuseum Luzern, FotoFocus Cincinnati und Sprengel Museum Hannover, Hartmann Books, 45 Franken.