Die herb erscheinende Ruth bewohnt mit zwei pubertierenden Töchtern von unterschiedlichem Temperament und ihrem bis zur Sturheit gefühlskargen Gatten ein Einfamilienhaus auf dem Land. Die Familie gehört zu einer evangelischen Freikirche, die unter dem Diktat eines Predigers handlungskontrollierende Einschränkungslehren inklusive ostentativ zelebrierter Lebensfreude vermittelt. Doch das Gutmenschliche ist vor allem ein Tarnmäntelchen, wie sich in „Der Unschuldige“ bald drastisch zeigt.
In der pseudochristlich abgestützten Gemeinschaft kommt Unruhe auf, als die Mitschwester Ruth aus dem bigotten Normenkorsett ausschert. Sie erfährt, dass ihr einstiger Herzliebster – er wurde nach einem mysteriösen Mordfall zu zwanzig Jahren Haft verurteilt – wieder in Freiheit ist. Ab sofort ist Ruths Gefühlswelt in Wallung und sie will das allzu lang Verdrängte, Unverarbeitete im Zusammenhang mit dem Verlust des Geliebten ergründen. Sie wendet sich an die Polizei, um mehr zum aktuellen Stand der Dinge in Erfahrung zu bringen, und wird dabei mit verstörenden Hinweisen über den Verbleib und das Schicksal des Mannes konfrontiert.
Traum und Wahn
Dass der Herbeigesehnte bald darauf in der Wohngegend auftaucht, ihr sogar intim nahe kommt, Besitz von ihr ergreift, macht Ruth konfus. Und das bleibt der Familie nicht verborgen. Doch ist das, was Jaquemet packend aber ohne Effekthascherei inszeniert, überhaupt reales Geschehnis, vielleicht Traum- und Trugbild, bares Wunschdenken? Oder ist es bereits Wahrnehmungsverschiebung, Wahnvorstellung, gar Wahnsinn?
„Der Unschuldige“ ist der zweite Kinofilm des vierzigjährigen Simon Jaquemet, eine der fraglos interessantesten Persönlichkeiten des aktuellen Schweizer Filmschaffens. 2014 hat er mit „Chrieg“ debütiert, einem verblüffend ausdrucksstarken, klaustrophobisch-kammerspielartigen Drama. Es handelt von den testosterongesteuerten Nöten Jugendlicher in einem Erziehungscamp in den Bergen. Der Film erreichte zwar das breite Publikum im Kino nicht, wurde aber in Fachkreisen rechtens gelobt, weltweit an zahlreichen Festivals gezeigt und mit Auszeichnungen bedacht.
Kreative Energie
„Der Unschuldige“ bestätigt Jaquemets vielfältige Talente und verweist zudem auf einen Reifungsprozess: Sein von bitterer Melancholie durchwirktes Porträt einer kämpferischen, emanzipationsbewussten Frau im Auf- und Umbruch hat hochemotionales Potenzial. Und es verströmt eine kreative Energie, wie man ihr im Gros der Schweizer Filme noch immer zu selten begegnet.
Jaquemets Narrativstruktur ist unkonventionell, im Ablauf kaum vorhersehbar: Man registriert fasziniert überraschende Handlungsbrüche, wo Plot-Linien mal parallel verlaufen, sich ab und an streifen, teils überlagern. Die Bildsequenzen spiegeln fahlfarbig einen zuweilen wie grottenhaft anmutenden, symbolstarken Natur- und Siedlungsraum. Er wird bevölkert von markant gezeichneten Filmcharakteren, die vor allem auch deshalb authentisch wirken, weil Jaquemet sein Spielensemble mit Laiendarstellern wie Profis ausgezeichnet bestückt hat.
Magistrale Präsenz
Im Fokus steht, dominierend in fast jeder Einstellung, mit Judith Hofmann eine Schweizer Schauspielerin, die auf bedeutenden Theaterbühnen im deutschsprachigen Raum (Burgtheater Wien, Deutsches Theater Berlin) zu Hause und in Film- und Fernsehproduktionen zu sehen ist. Sie adelt dank ihrer magistralen, sinnlich-körperbetonten Präsenz ein Psychodrama, das raffiniert mit Versatzstücken des Mystery-, Horror- und Thriller-Genres jongliert.
„Der Unschuldige“ lässt sich in Bezug auf das Narrative nicht rational einordnen und folgt keiner Dramaturgie, die auf eine konventionelle Handlungsauflösung zutreibt – manches wirkt rätselhaft, bleibt unentschlüsselt. Was so als Manko erscheinen könnte, wird bei Jaquemet allerdings zur neugierig machenden Qualität. Besonders dort, wo Ruth immer mehr in die Bredouille schlittert, ihre existenzielle Verunsicherung fatal auf die Familie wie das soziale Umfeld abzustrahlen beginnt. Ruths Ehemann wird mittlerweile von Eifersucht fast zerrissen und eine Katharsis drängt sich geradezu auf.
Nun weitet Simon Jaquemet gewissermassen das Blickfeld und schildert eindringlich, wie Ruth immer mehr vom Sektenguru – ein Freund der Familie – instrumentalisiert wird. In einer zum Versammlungsraum umfunktionierten Mehrzweckhalle wird an Ruth ein Exempel statuiert, eine Art publikumswirksames Teufelsaustreibungs-Spektakel. Für das Finetuning – es ist nichts anderes als eine Gehirnwäsche – zieht man sich dann im kleinen Kreise in die trügerische Wohlfühlzone der eigenen vier Wände zurück.
Das zweite Gesicht
Nach einem gewalttätigen, traumatischen Rencontre mit Freunden der einen Tochter ist Ruth zusätzlich versehrt. Aber sie geht auch dadurch nicht unter, weil ihr Simon Jaquemet ein „zweites Gesicht“ verleiht, in einem intellektuellen Kontext, der ein Höchstmass an Empathie einfordert: Als Neurowissenschaftlerin ist sie in ein brisantes Forschungsprojekt involviert. Es befasst sich mit der Kopfverpflanzung bei Affen, ein Thema, das ethisch keine Banalisierung duldet. Bar aller Berührungsängste geht Simon Jaquemet mit dokumentarischer Nüchternheit an diese Handlungsebene heran. Und schlägt so einen versöhnlichen Bogen zwischen den extremen Befindlichkeitspolen seiner Protagonistin: Die paralysierende Ohnmacht gegenüber einer fremdgesteuerten Lebens-Gestaltung einerseits und andererseits die daraus erwachsende Willenskraft zur selbstbestimmten Erneuerung.
Mit Tiefenschärfe
„Der Unschuldige“ ist ein Film-Trip ins menschlich Abgründige, Dunkle, Transzendentale, der einem als Zuschauer einiges zumutet. Dabei dreht sich alles um das Streben nach Glaube, Liebe, Hoffnung – um christliche Tugenden also, die Jaquemet in seiner Leidensfigur Ruth berührend verdichtet; das verleiht seinem verführerisch-geschmeidigen, inhaltlich wie formal radikalen Film Tiefenschärfe.
„Der Unschuldige“ läuft aktuell in den Kinos der Deutschschweiz.