Was wäre gewesen, wenn Karl Martell im Jahre 732 die Araber nicht bei Poitiers hätte zurückschlagen können? Wenn die spanische Armada Philipps II. die englische Flotte im Jahre 1588 besiegt hätte? Wenn die Russen ihre Raketenstellungen 1962 nicht aus Kuba abgezogen hätten?
«Kontrafaktische Fragen»
Solche Fragen zu stellen, galt lange Zeit als spekulativ und wissenschaftlich unseriös. Vor einigen Jahren hat sich der englische Historiker Niall Ferguson jedoch intensiv mit „virtueller Geschichte“ befasst, und in Deutschland hat Alexander Demandt ein erfolgreiches Buch zur „ungeschehenen Geschichte“ verfasst.
Beide Autoren zeigen, dass „kontrafaktische Fragen“ uns dabei helfen können, historische Zusammenhänge besser zu verstehen und die Tragweite historischen Geschehens besser zu ermessen. Heute, aus Anlass des vor 75 Jahren gescheiterten Hitler-Attentats, sei eine alte Frage wieder neu gestellt: Was wäre geschehen, wenn der „Führer“ das Attentat nicht überlebt hätte?“
Stauffenbergs Tat
Zuerst kurz die Fakten: Am 20. Juli 1944 gegen ein Uhr nachmittags zündete Oberst Claus Schenk von Stauffenberg in Hitlers ostpreussischem Hauptquartier Rastenburg eine Bombe, die mehrere Todesopfer forderte, dem Diktator aber nur geringfügige Verletzungen zufügte. Stauffenberg, im Glauben, sein Attentat sei gelungen, flog nach Berlin und liess ein Telegramm hinausgehen, das mit den Worten begann: „Der Führer Adolf Hitler ist tot.“ Da es den Verschwörern nicht gelungen war, die Nachrichtenverbindung nach Rastenburg zu unterbrechen, gelangten im Laufe des Nachmittags Meldungen nach Berlin, wonach der Diktator das Attentat überlebt habe.
Um 18.00 Uhr führte Hitler mit dem ihm bedingungslos ergebenen Kommandanten des Berliner Wachbataillons ein entscheidendes Telefongespräch. Gegen Mitternacht ging eine Rede des „Führers“ über alle deutschen Radiosender: „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der gesamten deutschen Wehrmachtführung auszurotten.“
Zu diesem Zeitpunkt waren Stauffenberg und seine engsten Mitverschwörer bereits auf Befehl des Kommandanten des deutschen Ersatzheeres, der von den Attentatsplänen wusste, sich ihnen aber nicht anzuschliessen wagte, exekutiert worden.
Wunschdenken und Zweckoptimismus
Was wäre geschehen, wenn das Attentat gelungen wäre? Für den Fall seines Todes hatte Hitler bereits 1939 Reichsmarschall Göring als Nachfolger bestimmt. Zwar herrschten unter den wichtigsten Figuren der nationalsozialistischen Führung mancherlei Rivalitäten, aber der Schock des Attentats und der anhaltende Druck der Roten Armee an der Ostfront hätten wohl eine Solidarisierung der Führungsspitze bewirkt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ablösung Hitlers durch Göring problemlos erfolgt wäre.
Wie aber hätte das deutsche Volk auf den Tod Hitlers reagiert? Einige der Verschwörer, unter ihnen der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Goerdeler, glaubten zumindest zeitweise, das Volk würde sich durch einen spontanen Aufstand und mit einem Gefühl der Erleichterung von der Last der Diktatur befreien. Aber das war Wunschdenken und Zweckoptimismus.
Wir wissen aus den von den Nazis regelmässig durchgeführten Erhebungen zur politischen Zuverlässigkeit der Bürger, dass das Vertrauen der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den „Führer“ durch das Attentat nicht erschüttert, sondern eher verstärkt wurde und noch bis gegen Kriegsende anhielt. Es ist nicht auszuschliessen, dass ein erfolgreiches Attentat Hitler in weiten Kreisen der Bevölkerung zum Märtyrer hätte werden lassen.
Tyrannenmord und Verrat
Selbst wenn man als Folge von Hitlers Tod den unwahrscheinlichen Fall einer Machtübertragung an die Verschwörer annimmt, ist schwer vorstellbar, wie sich die in zwölf Jahren eingeschliffenen Machtstrukturen des Polizeistaats in nützlicher Frist hätten beseitigen lassen. Man muss also davon ausgehen, dass sich die überwiegend nationalsozialistische Einstellung der Bevölkerung nicht verändert hätte.
Dies gilt in noch verstärktem Masse von den Spitzen der Wehrmacht. Der Offizierskaste war die Idee des durch die Freiheitswillen des Bürgers legitimierten Tyrannenmords, wie sie in der Schweizer Geschichte durch Wilhelm Tell symbolisiert wird, fremd. Der überwiegende Teil der Wehrmacht empfand angesichts der anhaltenden russischen Bedrohung das Attentat als schmählichen Verrat. Von dieser Haltung wäre das Offizierskorps auch nach dem Tod des „Führers“ kaum abgewichen. Hitler hatte gar nicht so unrecht, wenn er von einer kleinen und isolierten Gruppe von Verschwörern sprach. Ähnlich reagierten übrigens damals auch die Alliierten, die dem Attentat als einem „fait divers“ geringe Beachtung schenkten.
Wie wäre der Krieg verlaufen, wenn Hitler das Attentat nicht überlebt hätte? Es ist immer schwierig, Verlauf und Dauer eines Krieges vorauszusagen; denn Kriege entwickeln leicht eine Eigengesetzlichkeit, die sich der Kontrolle entzieht. Wenn Schweizer Historiker behauptet haben, unser Land habe durch seine Wirtschaftsbeziehungen zu Hitler-Deutschland dazu beigetragen, den Krieg zu verlängern, bewegt sich ihre Argumentation auf sehr unsicherem Terrain. Es erscheint dagegen als sehr wahrscheinlich, dass ein gelungenes Hitler-Attentat den Weltkrieg verkürzt und Deutschland die hohen Opferzahlen und Zerstörungen gerade der letzten Kriegsmonate erspart hätte.
Es ist schwer vorstellbar, dass Göring oder irgendein ein anderer Nachfolger sich das Charisma hätte aneignen können, das es Hitler erlaubte, ohne Rücksicht auf Menschenleben absurde Durchhalteparolen zu proklamieren oder den Irrwitz einer Gegenoffensive in den Ardennen zu befehlen. Früher oder später wäre es wohl zu gravierenden Meinungsverschiedenheiten unter den Generälen, zur Kapitulation einzelner Truppenteile und möglicherweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen. Wie auch immer: Der Widerstand der Wehrmacht gegen die Rote Armee wäre entscheidend geschwächt worden.
Alliierte verlangen bedingungslose Kapitulation
Als sehr unwahrscheinlich muss gelten, dass der Tod Hitlers, wie manche Verschwörer hofften, die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit den Alliierten ermöglicht hätte. Auch die Hoffnung einzelner Verschwörer, man könnte mit den westlichen Alliierten einen Separatfrieden aushandeln und sich gemeinsam gegen die Russen wenden, war illusorisch.
Im Januar 1943 hatten sich der englische Premierminister Winston Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt in Casablanca getroffen und beschlossen, den Krieg gegen Hitler-Deutschland bis zur bedingungslosen Kapitulation, dem „unconditional surrender“, fortzusetzen – eine Entscheidung, der sich auch Stalin wenig später anschloss. Dieser Entschluss entsprang dem Willen der Alliierten, Hitler-Deutschland vernichtend zu schlagen. Dadurch wollte man die Entstehung einer „Dolchstosslegende“ verunmöglichen.
Gefährliche Dolchstosslegende
Eine solche „Dolchstosslegende“, die Behauptung nämlich, die Schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg trage nicht „das im Felde unbesiegte Heer“, sondern der von den Sozialisten geschürte Defaitismus in der Heimat, war ein wichtiges Element nationalsozialistischer Geschichtsinterpretation und Propaganda. Es ist in der Tat wahrscheinlich, dass sich im Falle eines vorzeitigen Friedensschlusses, wie die Verschwörer ihn anstrebten, eine neue „Dolchstosslegende“ gebildet hätte.
Die Schuld an der Niederlage wäre dann von der Mehrheit der Bevölkerung der „kleinen Clique“ von Verschwörern zugeschoben worden, was die gesellschaftliche Stabilität der jungen Bundesrepublik schwer belastet und die Aufarbeitung der Geschichte erschwert hätte. Dass die Alliierten sich von ihrem Entschluss zum totalen Sieg hätten abbringen lassen, ist schwer vorstellbar. So lässt sich zusammenfassend sagen, dass das gelungene Attentat und der Tod Hitlers den Krieg mit grosser Wahrscheinlichkeit abgekürzt, die Entstehung eines demokratischen Deutschland aber eher behindert hätte.
Wie schätzten Stauffenberg und seine Mitverschwörer die Erfolgschancen des Attentats ein? Vieles in den nicht sehr zahlreich überlieferten Aussagen der Verschwörer deutet darauf hin, dass sie zuletzt an den Erfolg ihrer Aktion nicht mehr so recht glaubten. Ihnen ging es, so ist oft gesagt worden, vor allem darum, die Ehre ihres Vaterlandes und ihre eigene Ehre zu retten.
Dies geht aus einer oft zitierten Äusserung eines der frühesten Hitler-Gegner, des Generalmajors Henning von Tresckow hervor, der bemerkte: „Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist gleichgültig.“
Volkspädagogisch wichtig
Die Bundesrepublik Deutschland erinnert am 20. Juli mit einem Gedenktag an Claus von Stauffenbergs Hitler-Attentat. Das ist gut so und auch, wie Golo Mann einmal sagte, „volkspädagogisch wichtig“, gerade in einer Zeit, wo sich Nationalismus und Rassismus wieder bedrohlich zu einem gewaltbereiten Rechtsradikalismus verbinden. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob Stauffenberg die geeignetste Persönlichkeit ist, um den Widerstand gegen Hitler zu repräsentieren.
Es ist bekannt, und eine eben erschienene Biografie des deutschen Historikers Thomas Karlauf* betont erneut, dass Stauffenberg während vieler Jahre ein loyaler Gefolgsmann Hitlers war und durch seine nationalkonservative Gesinnung der nationalsozialistischen Ideologie in mancher Hinsicht nahestand. Auch ist merkwürdig, dass er sich offenbar nie kritisch zum Mord an den Juden geäussert hat, obwohl er davon gewusst haben muss.
Die Geschichte des Widerstands kennt viele andere Namen, die es verdienen, dass wir ihrer mit Hochachtung gedenken, vom Schreiner Georg Elser, der 1939 mit einem Attentat im Bürgerbräukeller in München knapp scheiterte, bis zum verzweifelten Protest der Geschwister Scholl und der oppositionellen Studentengruppe „Weisse Rose“ im Jahre 1943. Aber es war nun einmal Stauffenberg, der als hochgestellter Stabsoffizier zu den wenigen gehörte, die Zugang zu Hitler hatten und einen letzten Schritt wagen konnten. Ihm und seinen Mitverschworenen fiel es zu, kurz vor dem endgültigen Absturz mit einem weithin sichtbaren Zeichen anzuzeigen, dass das Licht der Freiheit nicht ganz erloschen war.
Symbolische Tat
In diesem Sinne hat der Hitler-Biograf Joachim Fest das gescheiterte Attentat als eine „symbolische Tat“ und als „Opfergang“ bezeichnet. Fests Auffassung hat die offizielle Haltung der Bundesrepublik zum Attentat vom 20. Juli weitgehend bestimmt, ist aber auch auf Kritik gestossen. So vertritt gerade Karlauf in seinem neuen Buch die Auffassung, der Widerstand Stauffenbergs, sei nicht auf ethische Motive zurückzuführen, sondern auf die Hoffnung, die militärische Niederlage doch noch abwenden zu können. Aber konnte ein Stabsoffizier von hoher analytischer Begabung, wie Stauffenberg es war, nach der Niederlage von Stalingrad und der Invasion in der Normandie noch an einen Endsieg glauben?
Nach dem Kriegsende dauerte es Jahre, bis die Bedeutung des 20. Juli für die deutsche Geschichte erkannt und gewürdigt wurde. Golo Mann, der aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte, sprach von einer „unwillkommenen Erinnerung“ und stellte resigniert fest, die Männer des 20. Juli seien „im Saus und Braus des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs“ in Vergessenheit geraten.
Dies hat sich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts geändert. In seiner „Deutschen Geschichte“ schreibt der Historiker Heinrich August Winkler über die Verschwörer des 20. Juli 1944: „Wären sie und andere nicht gegen Hitler aufgestanden, die Deutschen hätten nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft wenig gehabt, woran sie sich beim Rückblick auf die Jahre 1933 bis 1945 aufrichten konnten.“
*Karlauf, Thomas: Stauffenberg, Porträt eines Attentäters. München 2019.