Wenige Wochen nach der Mobilmachung vom 2. September 1939 ordnete General Guisan die Schaffung einer Dienstabteilung an, die den einprägsamen Namen „Heer und Haus“ trug. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Moral der Truppe zu stärken, die vaterländische Gesinnung zu fördern und die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Armee zu pflegen. Diese sogenannte „fünfte Sektion“ wurde 1941 ergänzt durch einen „Aufklärungsdienst“, der die Stimmung in der Zivilbevölkerung erkunden und deren Abwehrbereitschaft unterstützen sollte.
Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Schweiz
Zwischen 1941 und 1945 führte dieser „Aufklärungsdienst“ schweizweit über sechshundert Kurse durch, an denen über hunderttausend Männer und Frauen teilnahmen. Die Teilnehmer dieser Kurse wurden ermuntert, ihrerseits zur Stärkung des Wehrwillens beizutragen, indem sie Vorträge hielten und das Gespräch mit zweifelnden oder defätistisch gesinnten Mitbürgern suchten. Ferner sollten diese Vertrauensleute in regelmässigen Abständen Tätigkeitsberichte an die Leitung des Aufklärungsdienstes senden und über die Stimmung in der Bevölkerung orientieren.
Chef dieses Aufklärungsdienstes war August R. Lindt, eine engagierte und markante Persönlichkeit, die nach dem Krieg unser Land als Botschafter in Washington und Moskau vertrat. Die Berichte der Vertrauensleute wurden vom Aufklärungsdienst in der Regel mehr oder weniger ausführlich beantwortet, nicht selten von August R. Lindt persönlich.
Es sind diese Tätigkeitsberichte, welche die Hauptquelle der Darstellung bilden, die wir dem promovierten Historiker und Journalisten Jürg Schoch verdanken. Natürlich kann der Autor das Material von Tausenden von Berichten nicht umfassend auswerten, aber er gibt, grosszügig zitierend und mit feinem Humor kommentierend, eine Textauswahl, die zu überzeugen weiss. Es entsteht so ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Schweiz in den Kriegsjahren, welcher über die verschiedensten Fragen, die das Schweizervolk damals umtrieben, anschaulich Auskunft gibt.
Kritik an eingeschränkter Pressefreiheit
Die Mitarbeiter des Aufklärungsdienstes stammten aus allen sozialen Schichten der Bevölkerung. Sie äusserten sich stilistisch bald ungelenk und bald elegant, bald spontan persönlich und bald mit dem Willen zu distanzierter Objektivität, und es ist diese stilistische Vielfalt, die zum Reiz dieses Quellenmaterials beiträgt.
Schon die unmittelbar nach Kriegsbeginn getroffenen Massnahmen zur Einschränkung der Pressefreiheit stiessen, wie die Tätigkeitsberichte der Vertrauensleute zeigen, bei der Bevölkerung auf ein vielfältiges, vorwiegend kritisches Echo. Man tadelte, dass deutsche Presse-Erzeugnisse wie etwa die attraktiv aufgemachte Illustrierte „Signal“ in der Schweiz frei erhältlich seien, während man es nicht wage, „dem Schweizervolk in jeder Beziehung klaren Wein einzuschenken“.
Zustimmung zu Todesurteilen
Auch die Sendungen von Radio Beromünster wurden, wenn man die äusserst populäre wöchentliche Zeitchronik des Professors von Salis ausnimmt, von weiten Teilen der Bevölkerung kritisch beurteilt. Man empfand diese Sendungen als trocken, belehrend und elitär. Ein Zürcher Sekundarlehrer stellte fest, es sei üblich geworden, dass man auf deutsche Sender umschalte, die rassige Marschmusik, Militärlieder und Frontberichte sendeten.
Von der Bevölkerung durchwegs gutgeheissen wurde dagegen die Verhängung von Todesurteilen gegen Landesverräter. Diese Todesurteile seien, berichtete ein Vertrauensmann aus dem Kanton Luzern, „mit sehr grosser Genugtuung“ aufgenommen worden, und Ähnliches verlautete aus andern Landesteilen. Man vermutete in der anfangs zögerlichen Abwicklung der Verfahren unangebrachte Nachsicht oder falsche Rücksicht auf den deutschen Nachbarn.
Dienstchef Lindt sah sich veranlasst, den Zorn über die mutmassliche Nachsicht zu dämpfen, indem er in einem Antwortbrief schrieb: „Aber man muss auch beachten, dass wir ein Rechtsstaat sind, in dem die Urteile nicht zur Abschreckung, sondern im Namen der Gerechtigkeit ausgesprochen werden.“
Das Betragen der Herren Offiziere
Viele weitere Themen, welche die Bevölkerung in den Kriegsjahren beschäftigten, fanden ihren Niederschlag in den Tätigkeitsberichten an den Aufklärungsdienst, so beispielsweise die Reduitstrategie der militärischen Führung, die Verdunkelungspflicht, das Betragen der Herren Offiziere oder die Flüchtlingsfrage. Was das Reduit anbetraf, fiel manchen Bürgern auf, dass die patriotischen Aufrufe zur Verteidigung der Landesgrenzen nicht leicht mit dem Plan eines militärischen Rückzugs auf den alpinen Zentralraum zu vereinbaren waren. Im Zusammenhang mit der Verdunkelung ärgerte man sich über die entstehenden Umtriebe und mutmasste, man habe unter deutschem Druck gehandelt. Ein Berichterstatter aus Luzern schrieb: „Allgemein herrscht die Ansicht, dass es unserem Neutralitätsstandpunkt zuwiderläuft, wenn fernerhin zugunsten der Achsenmächte verdunkelt wird.“
Nicht selten erregten der leichtlebige Umgang der Offiziere mit den Frauen und deren Arroganz im Auftreten vor der Truppe den Unmut der Bevölkerung. Eine Berichterstatterin aus dem Toggenburg vertrat eine weit verbreitete Meinung, wenn sie schrieb: „Vielfach geben Offiziere und Soldaten in sittlicher und moralischer Hinsicht nur schlechtes Beispiel, aber der Soldat beobachtet immer in aller Stille und zieht einen schlechten Schluss daraus.“
Umstrittene Flüchtlingspolitik
Was die Flüchtlingspolitik anbetraf, lassen die von Jürg Schoch vorgelegten Berichte keinen Zweifel daran, dass die Auffassung, das Boot sei voll, weit verbreitet war und dass man insbesondere jüdischen Emigranten mit wenig Sympathie begegnete. Der deutschfreundliche Chirurg und Nationalrat Eugen Bircher, ein bis ins Alter im Aargau hochgeachteter Mann, liess verlauten: „Diese Leute bringen uns politische Gewandläuse, die wir nicht brauchen können.“ Aber es gab auch Stimmen wie jene eines Basler Theologiestudenten, der in einem ausführlichen Bericht mit aller Deutlichkeit auf den Widerspruch zwischen der humanitären Tradition der Schweiz und der realisierten Flüchtlingspolitik hinwies.
Wie umstritten die Flüchtlingsfrage in der Bevölkerung war, beleuchtet die Stellungnahme eines Gemeindebeamten aus Rorschacherberg, der schrieb: „Es ist begreiflich, dass die Flüchtlingsbewegung irgendwie eingedämmt werden musste, aber die anfänglich getroffenen Massnahmen wiedersprachen doch den Gesetzen der Menschlichkeit, auch wenn es sich bloss um Juden handelt.“
Erzählende Geschichtsschreibung
Jürg Schoch lässt in seiner Darstellung die Quellen sprechen und bekennt sich zur erzählenden Geschichtsschreibung, die von ihren Gegnern, den Sozial- und Gesellschaftshistorikern, gern als „narrativ“ abqualifiziert wird. Gewiss hätte man auch ganz anders vorgehen können. Man hätte ein Forschungsprojekt beim Nationalfonds einreichen und ein Team von Jungforschern während einigen Jahren auf das riesige Quellenmaterial des Aufklärungsdienstes ansetzen können. Man hätte mit den Methoden der quantitativen Geschichtsforschung ermitteln können, welche Haltung während der Kriegsjahre aus welchen soziologischen und psychologischen Gründen von bestimmten Personengruppen zu bestimmten Fragen eingenommen wurden.
Zuletzt wäre dann eine umfangreiche Publikation mit Statistiken, Grafiken und Anmerkungen herausgekommen, die viel Geld gekostet hätte, jedoch nur von wenigen Fachexperten zur Kenntnis genommen worden wäre. Jürg Schoch geht dezidiert einen andern Weg, und sein Buch wird gewiss manchen interessierten Leser, besonders unter der älteren Generation, finden. Es stellt einen wichtigen Beitrag nicht zuletzt zur staatsbürgerlichen Bildung dar.
Gegengewicht zur Goebbelschen Propaganda
Die Anstrengungen zur „Geistigen Landesverteidigung“, wie Schoch sie in anschaulich und kenntnisreich vorführt, sind von jüngeren Historikern oft sehr kritisch gesehen worden. Man hat den Referaten und den Erklärungen von Heer und Haus die holzschnittartige Vereinfachung ihrer patriotischen Botschaft vorgeworfen und ihren kruden Chauvinismus getadelt. Dem müsste freilich entgegengehalten werden, dass die Verführungskraft des Nationalsozialismus nach dem „Anschluss“ Österreichs, nach Hitlers Bündnis mit Mussolini und dem Debakel der französischen Niederlage auch in der Schweiz derartig gewachsen war, dass dem Widerstand gegen den Totalitarismus mit subtilen Erörterungen über die Vorzüge der parlamentarischen Demokratie kaum gedient gewesen wäre.
Man musste eben mit denselben Waffen fechten, die der effiziente Propagandaapparat des Joseph Goebbels höchst professionell einzusetzen wusste; ein schöngeistiges Bekenntnis zum Liberalismus wäre fehl am Platz und wirkungslos gewesen. Man bedauert etwas, dass Jürg Schoch die Kritik der jüngeren Historiker im Nachwort nur kurz erwähnt und ihr nicht mit sachkundiger Replik, sondern mit versöhnlicher Altersmilde begegnet. Das ist menschlich sympathisch; wissenschaftlich aber nicht weiterführend.
*Jürg Schoch: Mit Aug und Ohr für’s Vaterland. Der Schweizer Aufklärungsdienst von Heer und Haus im Zweiten Weltkrieg. Verlag Neue Zürcher Zeitung 2015.